Am 20. Juli 1830 lernte der schlesische Adelige Rudolf Maria von Stillfried-Rattonitz (1804–1882, seit 1858 portugiesischer Grande von Alcántara und 1861 preußischer Graf) den späteren preußischen König Friedrich Wilhelm IV. kennen. Dies war der Ausgangspunkt für seine jahrzehntelange Karriere am preußischen Hof, die 1840 mit dem Amt eines Zeremonienmeisters begann. Von 1853 bis zu seinem Tod 1882 waltete Stillfried als Oberzeremonienmeister über die Repräsentation von Monarchie und Dynastie in Preußen. Zusätzlich leitete er bis zu seinem Tod das 1855 gegründete Heroldsamt und war von 1856–1878 Mitglied der Generalordenskommission, sowie von 1856–1868 Direktor des Brandenburgisch-Preußischen Hausarchivs, dessen Gründung nach der Revolution von 1848/49 er maßgeblich vorangetrieben hatte. In diesen Funktionen konzipierte und organisierte Stillfried zeremonielle Handlungen, bewahrte und entwarf die Symbole der Hohenzollern-Dynastie und normierte preußische Ordensauszeichnungen (S. 47). Die von den ausgewiesenen Experten der Geschichte der schlesischen Adelslandschaft Joachim Bahlcke und Roland Gehrke herausgegebene Edition von Stillfrieds Tagebüchern ist somit eine Schlüsselquelle für die neue Monarchiegeschichte des 19. Jahrhunderts, die sich als Kulturgeschichte des Politischen versteht und die Institution der Monarchie im modernen Staat auch anhand ihrer Symbolik, Rituale und performativen Handlungen untersucht.1
Der Wert dieses besonderen Egodokuments eines hohen preußischen Hofbeamten steigert sich noch durch den Fakt, dass die Aktenüberlieferung des preußischen Oberzeremonienmeisteramtes im 19. Jahrhundert gänzlich dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen ist und auch andere Aktenbestände zum preußischen Hof teilweise stark dezimiert wurden. Motive und Konzeption von Feierlichkeiten und anderen zeremoniellen Praktiken am preußisch-deutschen Hof während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind daher kaum noch nachzuvollziehen. Hier schaffen Stillfrieds Tagebücher nun willkommene Abhilfe. Auch vermitteln sie – anders als die noch teilweise in den Archiven überlieferten Normtexte – die praktischen Dimensionen von Vorbereitung und Durchführung zeremonieller Handlungen, sowie eventuelle Abweichungen von der Norm auf sehr plastische Weise.
Die fünfbändige und knapp 4.000 Seiten umfassende gedruckte Edition präsentiert 32 Tagebücher Stillfrieds, die die Zeit von 1827 bis 1882 abdecken, wobei zwischen 1827 und 1833 nur phasenweise Tageseinträge und zwischen 1833 und 1849 überhaupt keine Aufzeichnungen überliefert sind. Eine kontinuierliche, unmittelbare tageweise Berichterstattung im Sinne eines Tagebuchs liegt erst ab 1849 vor. Damit werfen Stillfrieds Aufzeichnungen ein Licht auf knapp 40 Jahre preußischer Geschichte, in die zentrale politische Ereignisse wie die preußische Verfassungsgebung, der Regierungswechsel von Friedrich Wilhelm IV. auf Wilhelm I., die Kriege zwischen 1864 und 1871 sowie die Reichsgründung fielen.
Der Edition sind zwei thematische Aufsätze zur Einführung, eine detaillierte Darstellung der Editionsrichtlinien sowie eine kontextualisierende Zeittafel zu Stillfrieds Leben und Werk vorangestellt.
Der von Roland Gehrke verfasste Aufsatz kontextualisiert zunächst Stillfrieds Wirken innerhalb der Strukturen und Praktiken des preußischen Monarchenhofes. Dabei kommt Gehrke zu dem Schluss, dass Stillfried, der unzählige historische und architekturhistorische Schriften verfasste, sich als Gelehrter im Hofamt verstand (S. 22) und sich im „vorpolitischen Raum“, ohne jegliche parteipolitische Agenda betätigte (ebenda und S. 65). Politische Meinungsäußerungen sind in Stillfrieds Aufzeichnungen tatsächlich nicht zu finden; seine Abneigung gegenüber Hochkonservatismus und Reaktion scheint nur am Rande durch. Jedoch bewegte sich der Oberzeremonienmeister über 40 Jahre lang im Zentrum der Macht: er hatte nahezu täglich Kontakt zum Monarchenpaar und war unmittelbarer Zeuge der Entscheidungsfindungsprozesse in dessen engerer Umgebung. Insbesondere zu Augusta von Preußen, die für ihre Ambitionen zur politischen Einflussnahme bekannt ist2, unterhielt Stillfried ein enges Verhältnis. Im deutsch-französischen Krieg fungierte er sogar als ihr Kabinettssekretär (S. 2454) und unterstützte sie bei ihren Aufgaben als Landesmutter im Krieg, das heißt hauptsächlich bei der Überwachung der Kriegskrankenpflege und der Öffentlichkeitsarbeit. Hervorzuheben ist auch Stillfrieds vertrautes Verhältnis zu Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, dem preußischen Ministerpräsidenten der Neuen Ära (1858–1862), dessen Position am preußischen Hof er seit 1849 zu stärken versuchte. Mit Hohenzollern-Sigmaringen, dem Staatsminister Rudolf von Auerswald und dem Kronprinzen Friedrich (III.) Wilhelm paktierte Stillfried dann auch im Jahr 1861, um Wilhelm I. von der Nichtdurchführbarkeit von Erbhuldigungen im konstitutionellen Staat zu überzeugen (S. 1467–1470 und 1523–1527). Stillfrieds Möglichkeit und Bereitschaft zum politischen Handeln waren also durchaus gegeben, auch wenn sie nicht ständig Einsatz fanden.
Joachim Bahlcke leistet in seiner ausführlichen Rekonstruktion von Überlieferungsgeschichte und Quellenwert der Tagebücher zunächst eine adelsgeschichtliche Kontextualisierung, die die Selbstwahrnehmung und Bestrebungen zur Identitätswahrung des schlesischen Gutsbesitzers und seiner Familie verdeutlicht. Weiterhin zeigt Bahlcke die Verbindung zwischen Stillfrieds Praktik des Tagebuchschreibens und seiner Tätigkeit als Verfasser von genealogischen und historischen Schriften auf: so sind die Tagebücher nicht nur für heutige Forscher eine wichtige Quelle zu Stillfrieds Publikationstätigkeit (S. 139–141), sondern sie dienten bereits ihrem Autor als Vorstudien für einige seiner historiographischen und zeremonialwissenschaftlichen Publikationen und als Medium um über seine Studien zu reflektieren (S. 146f.). Schließlich weist Bahlcke nach, dass Stillfried seine Tagebuchaufzeichnungen zur Abfassung einer autobiographischen Schrift hatte nutzen wollen (S. 79–81). Der erste Tagebuchband der Edition stellt ein Fragment dieser nie vollendeten Autobiographie dar und umfasst eine stilistisch sehr heterogene Darstellung der Zeit von 1804 bis 1833.
Die beiden einführenden Aufsätze verzichten bis auf die genannten Schwerpunkte auf eine inhaltliche Auswertung der Tagebücher, verweisen jedoch auf bereits existierende Arbeiten zu einzelnen Aspekten. So wurden Stillfrieds Tagebücher bereits für architektur-, adels- und historiographiegeschichtliche Fragestellungen herangezogen (S. 151f.). Darüber hinaus ließen sich anhand dieser inhaltsreichen Quelle noch eine Vielzahl anderer Themen und Fragestellungen untersuchen, von denen hier nur einige schlaglichtartig aufgezeigt werden sollen. So bieten die Tagebücher Material zur Erforschung der Soziabilität und Personennetzwerke der höheren Berliner Gesellschaft und des Hofes, denn Stillfried vermerkte Orte und Anwesende seiner fast täglichen gesellschaftlichen Zusammenkünfte akribisch. Auch für die Opern- und Theatergeschichte könnten die Bemerkungen des regelmäßigen Theaterbesuchers Stillfried erkenntnisreich sein. Interessant sind zudem Stillfrieds Aufzeichnungen zur Abdankung der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen und der Eingliederung der beiden Fürstentümer in Preußen im Jahr 1849/50. In den diesbezüglichen Aushandlungen fungierte Stillfried als Vermittler zwischen den beiden Fürsten untereinander und zwischen ihnen und dem preußischen König (siehe zum Beispiel S. 302–312, 323, 382–396). Schließlich sei noch ein weiterer Bereich genannt in dem Stillfried tätig war und für den seine Tagebücher erhellendes Quellenmaterial bieten: die Wiedergründung des Malteserordens in Preußen und die Rolle dieses katholischen Ordens in der Kriegskrankenpflege. Stillfried initiierte im deutsch-dänischen Krieg 1864 die Beteiligung der Malteser an der preußischen Verwundetenversorgung; im Deutschen Krieg 1866 und im Deutsch-Französischen Krieg 1870 organisierte er die Einrichtung von Lazaretten in Schlesien (S 2044f. und 2048–2059) und in Berlin (S. 2461) und pflegte teilweise auch persönlich Verwundete. 1874 trat er jedoch selbst aus dem Orden wegen dessen ultramontanen Tendenzen aus.
Die Umsetzung der Edition ist vorbildlich. Sie enthält sowohl einen textkritischen als auch einen Sachapparat, wobei letzterer sich auf den Nachweis der im Text genannten Personen beschränkt. Dies allein stellt bei über 10.000 verschiedenen erwähnten Personen eine außerordentliche Leistung dar, ist doch die Recherche von historischen Personen bei unvollständiger Nennung, Verwendung von Spitznamen und vielen Homonymen eine äußerst aufwendige Arbeit. Für die Nutzenden der Edition bietet das Personenverzeichnis neben der Chronologie den wichtigsten Zugang zur Quelle. Darüber hinaus sind auch ein 1.800 Einträge umfassendes Ortsregister und die ausführliche Zeittafel, die Stillfrieds Lebensereignisse, die Publikationsdaten seiner Werke und allgemeinhistorische Ereignisse auflistet (S. 175–182), mögliche Zugänge zu dieser umfangreichen Quelle. Der Textapparat vermittelt sowohl die Textgenese als auch die Materialität der Quelle, indem Streichungen und Einfügungen sowie äußerliche Textmerkmale, eingeklebte Einlagen, Zeichnungen des Autors und Abbildungen kenntlich gemacht werden. Einzelne ausgewählte Tagebuchseiten und Einlagen sind der Edition zudem als hochwertige Faksimiles beigegeben.
Die sehr gute und transparente Editionstechnik kann jedoch nicht die Schwierigkeiten in der Benutzung, die ein fünfbändiges gedrucktes Quellenwerk natürlicherweise mit sich bringt, auflösen. Eine intensive Arbeit mit der Edition fordert fast immer die gleichzeitige Bedienung aller fünf Bände: Um herauszufinden, in welchem Editionsband sich ein gesuchter Jahrgang bzw. Tageseintrag befindet, muss immer auf das Gesamtinhaltsverzeichnis in Band 1 zurückgegriffen und um Erwähnungen einer Person oder eines Ortes innerhalb eines Bandes zu finden, muss immer Band 5, der die beiden Gesamtregister enthält, konsultiert werden. Auch sind die Verweise aus den beiden einführenden Aufsätzen zum Editionsteil nur über den Umweg über das Inhaltsverzeichnis nachzuverfolgen, da nur nach Tagebuch- und nicht nach Editionsband referenziert wird. Schließlich fällt mitunter die Identifizierung von im Tagebuch genannten Personen schwer, da der Sachapparat pro Kalendermonat nur die Erstnennung einer Person enthält. Liest man nur einzelne Tageseinträge, muss man gegebenenfalls den Sachapparat für alle vorangegangenen Tage des Monats durchblättern, um den vollständigen Namen einer Person herauszufinden. Bei diesen wenigen, mit der Benutzung einhergehenden Schwachpunkten, könnte wohl eine digitale Edition zumindest teilweise Abhilfe schaffen.
Die genannten kleinen Unannehmlichkeiten bei der Nutzung trüben mitnichten das positive Gesamturteil der Rezensentin über die wissenschaftliche Edition dieser wichtigen Quelle zur preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Zweifelsohne werden die Tagebücher des facettenreichen schlesischen Adeligen, Schriftstellers und Hofbeamten Stillfried zahlreiche zukünftige Forschungsarbeiten hervorbringen und befruchten.
Anmerkungen:
1 Zum Beispiel: Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000; Matthias Schwengelbeck, Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007; Anja Schöbel, Monarchie und Öffentlichkeit zur Inszenierung der deutschen Bundesfürsten 1848–1918, Köln 2017.
2 Siehe Birgit Aschmann, Königin Augusta als „political player“ in Preußens Politik, in: Ingeborg Schnelling-Reinicke / Susanne Brockfeld (Hrsg.), Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge. Beihefte 15), Berlin 2020, S. 271–290; Caroline Galm, Anmerkungen zum politischen Handlungs- und Gestaltungsraum der Königin, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge 32 (2022), S. 53–70; sowie die demnächst erscheinende Dissertation von Susanne Bauer zu Augustas Briefkommunikation.