Das Periodisierungsspiel der Geschichtswissenschaft war lange Zeit aus der Mode geraten. Jürgen Osterhammel konstatierte sogar einmal eine für dieses Fach merkwürdige „Periodisierungsabstinenz“.1 In einer Zeit, da plötzliche Einschnitte und radikale Umbrüche, Krisen und Kriege wieder stärker die aktuelle Situation prägen, findet die Frage der Periodisierungen indes erneut gesteigerte Aufmerksamkeit. Weiche Übergangszeiten konkurrieren mit herben Einkerbungen oder sogar vollständigen Abbrüchen. Etwaige Zäsuren unterliegen Konjunkturen und verlieren entlang den gewandelten Schwerpunktsetzungen der jeweiligen Gegenwart bisweilen wieder an Aufmerksamkeit. Zwei Daten aber haben als weltgeschichtliche Großzäsuren erhebliche Bestandskraft gezeigt: 1945 und 1989. Mit letztgenanntem Schicksalsjahr ist seit Francis Fukuyamas prominenter Zeitdiagnose sogar das „Ende der Geschichte“ postuliert worden. Dieses Diktum hatte weniger mit einer empirischen Konstellationsanalyse zu tun als vielmehr mit einem davon abstrahierenden Geschichtsdenken, das von einem ideenpolitischen Sieg des Liberalismus beseelt war.
Lange schon wirkt diese These überholt. Spätestens die Terrorakte im Zeichen des 11. September 2001, die ökonomischen Turbulenzen seit der Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008 und die neue Nähe wie Präsenz kriegerischer Gewalt seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 zeigen an, wie sehr wir uns von allzu rosa gefärbten Ankunftsgeschichten des Erfolgs nach dem Ende des Kalten Kriegs mittlerweile verabschiedet haben. Diese neue Unruhe und Ungewissheit, die vom Glauben an eine liberale Geschichtsmetaphysik nicht mehr allzu viel belassen hat, dürfte auch dazu beitragen, das Interesse an 1945 – dieser markanten Megazäsur des 20. Jahrhunderts – wieder zu steigern. Denn rund um diese Wegscheide hin zur ersten Hälfte des Säkulums führen die abgründig wirkenden Pfade zu einer Periode immenser (politischer) Gewalt, ideologischer Bürgerkriege, von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Angesichts dieses düsteren Gesichts des 20. Jahrhunderts mahnte Tony Judt vor anderthalb Jahrzehnten, es nicht zu vergessen und nicht zu glauben, ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt zu haben.2
Mit der Abgründigkeit des „Dritten Reichs“ und der Gewaltgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte konnte eine Infragestellung der Geschichte an sich einhergehen. Zumindest mochte damit ein Abschied von holistischen Geschichtsphilosophien teleologischen Zuschnitts und utopistischer Glückseligkeit verbunden sein, ohne dass daraus zwangsläufig die Neuformierung einer gleich kritischen wie konstruktiven Theorie der Geschichte resultierte. All solche Meta-Überlegungen zum Ganzen der Geschichte mit an sie gebundenen Sinnfragen und absoluten Geltungsansprüchen erfolgten selten unter Beteiligung der Historiker:innen selbst. Ganz überwiegend hat sich die Historie zu einer „idiographischen“, individualisierenden, an konkreten Zeitläuften interessierten Wissenschaft entwickelt, die generalisierenden, „nomothetischen“ Ansprüchen skeptisch begegnet. Diese Distanz dokumentiert auch der vorliegende Band – mindestens ex negativo.
Geschichtskritik wie Geschichtsdenken überhaupt, so paradox das anmutet, ist nicht in erster Linie die Sache der professionellen Historikerzunft. Es liegt überwiegend in den Händen der Fachvertreter aus der Philosophie, teilweise auch der Soziologie und der Kulturwissenschaften. Das belegt die Auswahl der Fälle in diesem Buch ebenso wie die disziplinäre Zugehörigkeit der Autor:innen des Kompendiums. Damit ist zugleich eine Warnung verbunden: Historiker:innen wird eine ungewohnte, bisweilen schwer verdauliche geistige Kost kredenzt.
Der Herausgeber, außerplanmäßiger Professor für Philosophie in Bochum und Paul-Ricœur-Spezialist, hat das ansprechend gestaltete Werk gleich mehrfach gerahmt: durch ein gar nicht so kurzes Vorwort, eine ausführliche Einleitung und einen Epilog. Das ist lehrreich und informativ. Gleichwohl müssen einige Auslassungen erstaunen – so zunächst diese: Der keineswegs kanonisierte Begriff „Geschichtskritik“ wird nicht vorweg geklärt und definiert, eher kenntnisreich umkreist und punktuell charakterisiert. Ebenso fehlt im Epilog eine induktiv aus den Einzelstudien erschlossene Nachschärfung. Insofern bleibt es bei dem selbst formulierten Anspruch, eine „bei weitem nicht erschöpfende Vergegenwärtigung der Vielzahl heterogener geschichtskritischer Reaktionen“ (S. 15) auf 1945 zu leisten. Was „1945“ genau bezeichnen soll, liegt ebenfalls im Halbschatten: Ist eine scharfe Zäsur, ein dadurch symbolisierter fließender Übergang oder eine erst im Nachhinein Konturen gewinnende erinnerungskulturelle Chiffre gemeint? Das in Anführungszeichen gesetzte „1945“ erlaubt von vornherein eine gewisse Freiheit. In jedem Fall nennt Liebsch 1945 (nun ohne Anführungsstriche) eine „nicht ‚normalisierbare‘ Zäsur“ (S. 20). Zu ihrer „kritischen“ Evaluierung gehöre nicht zuletzt aus deutscher Perspektive das „Eingeständnis“ dessen, „was Anderen angetan worden ist“ (S. 33).
Die einzelnen Beiträge nähern sich in recht unterschiedlicher Weise ihren Protagonisten an. Ein festes Fragenraster oder Ordnungskonzept hat der Herausgeber nicht festgelegt. Während die einen in strukturierter Weise über biographische Prägungen, Werkgeschichte, Rezeption und Kritik berichten, wählen andere die Form eines freizügigen Essays. Das (unscharfe) Leitmotiv der „Geschichtskritik“ gerät in manchen Fällen in den Fokus, in anderen weniger. Vergleichbares gilt für den Fluchtpunkt „1945“. Das macht es zu einem schwierigen Unterfangen, den Band als ein geschlossenes Werk mit eindeutiger Fragen- und Zielperspektive zu lesen. Liebsch ergreift eingangs gleichsam die Flucht nach vorn und betont offensiv, „ohne fragwürdige Syntheseversuche“ und „ohne abwegigen Vollständigkeitsanspruch“ (S. 13) auskommen zu wollen. Worin die behauptete Fragwürdigkeit oder Abwegigkeit besteht, bleibt hingegen opak.
Und dennoch: Irgendwie wirkt diese intellektuelle Nonchalance sympathisch – womöglich auch deswegen, weil sie zur Figuration der häufig als freischwebend gekennzeichneten Intellektuellen passt. Zu deren Spezies zählen die näher betrachteten „Geschichtskritiker“, deren Auswahl allerdings nicht weiter begründet wird (wobei der Herausgeber einen „westeuropäischen Bias“ eingesteht; S. 15). Sie beginnt mit A wie Adorno und führt das Alphabet fort – mit Zwischenstopps beispielsweise bei F wie Foucault, H wie Habermas, J wie Jaspers, K wie Koselleck, L wie Luhmann, P wie Popper, T wie Toynbee bis hin zu W wie White. Das sind berühmte männliche Fälle. Es ist der Auswahl zugutezuhalten, dass ebenso Frauen in den Blick geraten – natürlich Hannah Arendt, ebenso Käte Hamburger, Margarete Susman, Susan Taubes und Simone Weil. Außerdem werden vergleichsweise unbekannte Fälle wie Emil Fackenheim, Jean-Luc Nancy oder Jan Patočka gewürdigt. Unterschiedliche philosophische Grundrichtungen kommen zur Sprache, die von der Kritischen Theorie über eine hermeneutische Tradition bis zur Existenzphilosophie und zum Kritischen Rationalismus reichen. Mal geraten Hauptwerke und Lehrgebäude in den Blick, mal öffentliche Interventionen und zeitdiagnostische Kommentare. Die meisten Beiträge begegnen ihren Hauptfiguren mit Sympathie und halten sich mit Kritik an den gewürdigten „Geschichtskritikern“ zurück.
Um einige wenige Schlaglichter auf die einzelnen Einträge zu werfen: Gertrud Koch sinniert mit Theodor W. Adorno über eine „Atempause der Gewaltgeschichte“ (S. 54), während Liliane Weissberg nach afrikanischen Erfahrungen bei Hannah Arendt und kolonialgeschichtlichen Zusammenhängen genozidaler Gewalt fragt. Emil Angehrn lässt in Jürgen Habermas’ zwischen Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte oszillierendem Werk wie auch in seinen zeitkritischen Beiträgen „Konstellationen historischen Denkens“ (S. 217) hervortreten. Stefan-Ludwig Hoffmann nähert sich in einem besonders lesenswerten Aufsatz Reinhart Koselleck und seiner – ungeschrieben gebliebenen – „Historik“ an.3 Hoffmann argumentiert handfest und quellennah. Er koloriert vor allem die „biographische Brucherfahrung der Jahrhundertmitte“ (S. 281) im Falle seines Protagonisten. Es entbehre nicht der „Ironie“, dass Koselleck selbst hin und wieder als Repräsentant der Geschichtsphilosophie bezeichnet werde, suchte er diese doch regelmäßig als „säkularisierte Form der Eschatologie“ (S. 282) zu entzaubern. Werner Stegmaier blickt in Niklas Luhmanns Systemtheorie auf den Platz der Geschichte und streicht die von seiner Leitfigur so benannte „Differenz von Möglichkeitshorizont und Wirklichkeit“ heraus. So habe Luhmann für geschichtliche Kontingenz sensibilisiert und sich zugleich gegen eine „unterkomplexe moralisierende Zeitkritik“ verwahrt (S. 326). Karl H. Metz würdigt in eindringlicher Weise das Werk Karl R. Poppers, das sich gegen essentialistische und historizistische Glaubenssätze wandte, die an Geschichte einen unzulässigen, wenn nicht verhängnisvollen Schicksalsglauben banden.
Einzelne faktische Fehler sind in der Summe gering und fallen daher nicht ins Gewicht, gleich ob nun von „Willi“ Brandt (S. 32) die Rede ist, Popper schon „1985“ (S. 440) statt 1994 ins Jenseits verabschiedet oder Susan Taubes zur ersten (im Jahr 1956) an der Universität Harvard promovierten Frau stilisiert wird (S. 498). Nebenbei stellt sich die Frage, weshalb ein einziger Beitrag – jener von Gabriel Motzkin über Heidegger – auf Englisch abgedruckt ist, während eine Reihe weiterer ins Deutsche übertragen wurden. Insgesamt hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits machen es seine impressionistische Komposition und lässige Struktur nicht einfach, daraus einen systematisch-vergleichenden Zugriff auf das Leitthema zu gewinnen. Andererseits ist die breite Bestandsaufnahme eine Fundgrube mit wertvollen Miniaturen, die dazu anregen mögen, sich weiter mit „Geschichtskritik“ nach „1945“ zu beschäftigen und somit zu prüfen, ob dieser Terminus, der sich in einem recht flüssigen Aggregatzustand befindet, geeignet ist, in einen festen überführt zu werden. Unabhängig davon mag man den Band, der ein „Anregungspotenzial für die Gegenwart“ (S. 26) beansprucht, als begrüßenswerten Appell verstehen, mit scharfem Verstand über historische Verwerfungen zu reflektieren, sich am geschichtspathologischen Exempel in Ideologiekritik zu üben und so einiges über Resultate menschlichen Denkens und Handelns zu erfahren.
Anmerkungen:
1 Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte. Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse am 29. November 2002, in: Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften) (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 10, Berlin 2006, S. 45–64, hier S. 45, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-82804 (26.08.2024).
2 Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork, München 2010.
3 Gestützt auf sein Buch: Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik, Berlin 2023.