„Defekte Visionen“ ist der markante Titel der „Intervention“ Alexander Thieles, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der BSP Business & Law School. Titel und Format lassen an eine Streitschrift denken. Tatsächlich besticht Thieles Essay aber nicht mit Polemik, sondern mit differenzierten Ausführungen. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die titelgebenden „defekten Visionen“ ist zugleich die größte inhaltliche Schwäche des Bandes; dazu später mehr.
Thieles zentrale These ist, dass Vorstellungen für die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union (EU) prinzipiell von einer Schwäche gekennzeichnet seien: ihre fehlende normative Bestimmung. So sei eine immer weiter voranschreitende Integration das unhinterfragte Fernziel. Warum ein Mehr an Integration automatisch besser sei und welchen Herausforderungen man damit konkret begegne, bleibe jedoch unbestimmt. Daher fehle es den politischen Debatten über die Zukunft der Union an Gehalt, stattdessen werde mit staatstheoretischen Großbegriffen operiert, deren Ausgestaltung jedoch nicht ausbuchstabiert wird. Als treffendes Beispiel führt Thiele hier die rhetorische Figur vom „föderalen europäischen Bundesstaat“ an. Ein staatstheoretisch und -rechtlich fixiertes Einheitsmodell eines föderalen Bundesstaates gibt es allerdings nicht. Vielmehr bestehen mit Deutschland, den USA, Indien, Mexiko oder der Schweiz ganz unterschiedliche Ausprägungen dieser Kategorie.
Insgesamt plädiert Thiele dafür, die EU als „politische Herrschaftsorganisation“ (S. 24) zu begreifen und ernst zu nehmen. Die normativ unterbestimmten Reformprojekte der „defekten Visionen“, die Thiele im ersten von drei Kapitel kritisch analysiert, würden dafür nicht ausreichen. Stattdessen ist es sein Anliegen, eine legitimitätstheoretische Grundlage für eine Weiterentwicklung der EU zu bieten (zweites Kapitel). Dafür sollen drei Dimensionen legitimer Herrschaft herangezogen werden: Erstens Teilhabe, zweitens Begrenzung und drittens Leistungsfähigkeit der Herrschaft. Auf dieser Basis präsentiert Thiele schließlich im dritten Teil seine Reformvorschläge.
Bereits die Gewichtung der einzelnen Kapitel verdeutlicht allerdings ein gewisses Ungleichgewicht: Mit 30 Seiten ist der erste Abschnitt der mit Abstand umfangreichste Teil des Werkes. Dabei ist die Auswahl der „Visionen“, wie der Autor selbst schreibt, „willkürlich“ (S. 28), ob sie auch „unschädlich“ (ebd.) ist (gemeint ist wohl die Analyse nicht verzerrend), ist zumindest zu hinterfragen. Auf jeden Fall ist sie intransparent. Gewählt hat Thiele die „Humboldt-Rede“ des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer im Jahr 2000, die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an der Sorbonne 2017, die 2021 veröffentlichten „95 Thesen zur Rettung Europas“ von Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer, die Reformvorschläge der „Konferenz zur Zukunft Europas“ (2022) sowie die Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz an der Karls-Universität (Univerzita Karlova) Prag im selben Jahr.
Daran zeigt sich bereits, wie stark der Essay an Deutschland und Frankreich orientiert ist – die deutsche Bundesregierung unter Scholz findet zudem bereits in der Einleitung mit ihrem Koalitionsvertrag Erwähnung –; die übrigen Mitgliedsstaaten der EU spielen kaum eine Rolle. Lediglich Polen und Ungarn werden wiederholt als Sinnbild für die Gegner von mehr Integration in der EU genutzt, so als gäbe es unter den übrigen Mitgliedsländern keine Kritiker weitergehender Integrationsschritte. Thiele reflektiert zudem leider nicht, dass es überwiegend nationalstaatliche Akteure sind, die er sprechen lässt. Warum Thiele keine Führungsfigur der Institutionen der EU – sei es Kommission, Parlament oder Rat – zu Wort kommen lässt, bleibt offen. Die von ihm gewählten Sprecher äußern ihre Reformprojekte daher aus nationalpolitischen Kontexten heraus und intendieren zumindest zum Teil auch die nationalstaatliche Wählerschaft als Publikum. Es handelt sich daher nicht nur um Visionen für die EU, sondern auch um Visionen von der EU für das jeweilige Zielpublikum. Das bleibt jedoch unbeleuchtet.
Schwerwiegender ist in dem ansonsten sehr differenzierten Buch jedoch, dass Thiele sich nur mit solchen Visionen kritisch auseinandersetzt, die für ein Mehr an Integration eintreten. Dabei gibt es eine lange Geschichte des „Euroskeptizismus“.1 Wie steht es um die normative und legitimitätstheoretische Fundierung der Forderungen nach mehr nationalstaatlicher Souveränität? Warum eine solche Auseinandersetzung fehlt und stattdessen eine Vielzahl von „Visionen“ mit derselben Stoßrichtung besprochen werden, irritiert umso mehr, weil Thiele selbst schreibt, dass diese Vorschläge „trotz ihrer prominenten Vertreterinnen und Vertreter kaum eine Rolle [spielen]“ und „allenfalls pflichtschuldig zitiert und wieder weggelegt [werden]“ (S. 31). Eine Diskussion anderer „Visionen“ hätte den Essay nicht nur differenzierter ausfallen lassen, sondern auch zu einer weiteren Schärfung von Thieles Reformvorschlägen beigetragen, die – so viel sei vorweggenommen – oft vage bleiben.
Trotz dieser Schwächen wartet auch der erste Teil des Buches mit interessanten Punkten auf. Dazu zählt insbesondere Thieles Warnung, die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsabstimmung in der EU nicht als Allheilmittel für politische Konflikte zu betrachten. Rechtssoziologisch und historisch informiert, weist er darauf hin, dass Mehrheitsabstimmungen darauf angewiesen sind, auch von der überstimmten Minderheit akzeptiert und mitgetragen zu werden. Eine rücksichtslose Ausweitung könne daher neue Legitimitätsverluste der EU nach sich ziehen.
Das berührt auch eines der wichtigsten Plädoyers Thieles, welches die Kapitel 2 und 3 prägt: politische Konflikte in der EU nicht als Krisenphänomen zu betrachten, sondern als zentralen Bestandteil des demokratischen politischen Prozesses. Auseinandersetzungen komme so eine legitimierende Funktion zu. Damit in Zusammenhang steht auch eine der interessantesten Hypothesen des Buches: Das oft beschworene „Demokratiedefizit“ der EU resultiere, so Thiele, aus der materiellen Überfrachtung der Verträge, welche als Verfassung der EU fungieren. Darin folgt er Dieter Grimm und Fritz Scharpf.2 Entgegen anderer Auffassungen liege das Problem demokratischer Legitimität daher weder in der Ungleichgewichtung der Stimmen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament noch in den Formen der Teilhabe. Stattdessen bestehe die Herausforderung darin, dass ganze Politikbereiche aus der politischen Auseinandersetzung ausgeklammert seien, weil ihre Regelung in den Verträgen verankert und damit „in Verfassungsrang“ stehe. Als Beispiele zieht Thiele die Regelungen des Binnenmarktes, des Wettbewerbs- oder des Beihilfenrechts heran. Diese verunmöglichten beispielsweise, dass bei Wahlen unterschiedliche wirtschafts- und sozialpolitische Visionen der EU zur Disposition stünden, und minderten dadurch den Wert politischer Teilhabe. Für Thiele fügt sich diese „Konstitutionalisierung“ in das Bild einer „Entpolitisierungsstrategie“ (S. 44) bezüglich der EU ein. Historisch verbindet er sie mit Walter Hallstein, Präsident der (ersten) Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1958 bis 1967, und identifiziert sie ebenso in Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede 2017. Thieles Buch verfolgt primär einen herrschaftstheoretischen Ansatz und ist kein historiografischer Essay. Allerdings gerät in dieser Darstellung die historische Kontingenz politischer Entscheidungen in der Entwicklung der EU und ihrer Vorläuferorganisationen sowie ihre Vieldeutigkeit stellenweise aus dem Blick.
Die Auseinandersetzung Thieles mit der Konstitutionalisierung der Verträge ist zugleich charakteristisch für den dritten Teil des Buches: Einerseits setzt sich Thiele differenziert mit landläufigen Kritikpunkten an der EU auseinander und hebt wiederholt positive Aspekte des Status quo hervor. Dazu zählt unter anderem das hohe Niveau von Teilhabe unterschiedlicher Akteursgruppen im Rahmen des komplexen Gefüges der EU. Andererseits sind jedoch Thieles Reformvorschläge entweder altbekannt (Spitzenkandidaten/-innen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament; Initiativrecht des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren) oder sie bleiben unterbestimmt. Das gilt leider gerade für die brisantesten Reformvorschläge Thieles: die bereits erwähnte „Re-Politisierung“ von vertraglich geregelten Politikbereichen sowie die Neuverteilung der Kompetenzen zwischen EU und den Mitgliedsstaaten (S. 107f.). Grimms Vorschlag, einen Großteil des Vertragsrechts in Sekundärrecht umzuwandeln, kritisiert Thiele als zu radikal und unrealistisch (S. 95). Einen konkreten Reformvorschlag zur Behebung des identifizierten Missstandes bietet Thiele jedoch nicht. Stattdessen konstatiert er vage, dass „durch punktuelle Modifikationen ein beachtlicher Legitimitätssprung erreicht werden [könne]“ (S. 96). In gleicher Weise regt Thiele bezüglich der Kompetenzverteilung lediglich eine „drastische Verringerung des aktuellen Verflechtungsgrades“ an (S. 108), ohne zu benennen, auf welche Kernbereiche sich die EU zurückziehen solle.
Thiele kritisiert zudem, dass Friedenssicherung und Reisefreiheit nicht mehr ausreichten, um die EU zu legitimieren. (S. 80) In dieser Kritik übersieht er jedoch, dass sich die Begründungszusammenhänge für eine europäische Integration und die Legitimitätsvorstellungen innerhalb der EU (und ihrer Vorläufer) wiederholt gewandelt haben: Wirtschaftliche Prosperität, globaler ökonomischer Wettbewerb und geopolitischer Wettstreit, kulturelle Nähe sowie Annäherung, Friedenssicherung und demokratische Teilhabe haben einander jedoch nicht in linearer Weise abgelöst, sondern stellen vielmehr ein Repertoire an Legitimierungsstrategien der EU dar.3 Gerade die geo- wie wirtschaftspolitischen Initiativen, welche die Kommission unter Ursula von der Leyen seit der Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine setzte, zeigen das Nebeneinander unterschiedlicher Formen der Legitimation. In Zeiten wahlkämpferischer Polemik, die ein Zerrbild der EU zeichnet, ist Thieles differenzierte Auseinandersetzung eine willkommene Lektüre – trotz der genannten Schwächen.
Anmerkungen:
1 Mark Gilbert / Daniele Pasquinucci (Hrsg.), Euroscepticisms. The Historical Roots of a Political Challenge, Leiden 2020. Siehe auch das Forschungsprojekt “(De)Constructing Europe – EU-Scepticism in European Integration History“, https://europeresist.hypotheses.org/about (31.05.2024).
2 Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016; Fritz Wilhelm Scharpf, Towards a More Democratic Europe. De-Constitutionalization and Majority Rule, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 15 (2017), S. 84–118.
3 Hartmut Kaelble, Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt am Main 2019; Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.