Zwischen Februar 1941 und Mai 1942 deportierten die Nationalsozialisten aus Wien etwa 9.000 als Jüdinnen und Juden definierte Menschen in das deutsch besetzte Polen. In sechs Züge wurden die meisten in kleinen Ortschaften mit unter 10.000 Einwohner:innen wie Izbica, Włodawa oder Opole einquartiert, die bis in die 1940er-Jahre über einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil von bis zu 90 Prozent verfügten. In den Ghettos dieser Ortschaften wurden die Österreicher:innen nun mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen konfrontiert, sie bekamen kaum etwas zu essen und gering entlohnte Arbeit gab es nur für wenige. Im Frühjahr 1942 begann der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Ostpolens. Wer nicht aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen in den Ghettos und Zwangsarbeitslagern umkam, wurde bei Massenerschießungen oder in einem der Todeslager der „Aktion Reinhardt“ ermordet.
Am 12. Oktober 2023 wurde die Gedenkstätte Sobibor nach zehnjähriger Bauzeit feierlich wiedereröffnet. In den Gaskammern Sobibors waren in den Jahren 1942 und 1943 etwa 180.000 Jüdinnen und Juden mithilfe von Motorabgasen erstickt worden. Die meisten Opfer stammten aus Ostpolen. Es waren darunter aber auch unzählige Jüdinnen und Juden aus Österreich. Zu der Gedenkfeier in Sobibor im Oktober 2023 reisten Vertreter jener Länder an, aus denen die Opfer Sobibors stammten: Polen, Israel, den Niederlanden, Deutschland und der Slowakei. Die österreichische Regierung war an diesem 12. Oktober nicht vertreten, dafür war jedoch eine Gruppe österreichischer Schüler:innen gekommen, die im Rahmen eines internationalen Austauschs zur Erinnerung an die Opfer des Mordlagers in die Region gefahren waren. Die Anwesenheit österreichischer Schüler:innen bei gleichzeitiger Abwesenheit staatlicher Vertreter steht nicht nur symbolisch für den Umgang mit dem Mord an der jüdischen Bevölkerung in Österreich bis in die heutige Zeit. Sie wirft ein Licht auf das geringe gesellschaftliche Interesse am Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Österreichs.
Mit seinem Buch greift Walter Manoschek somit ein vernachlässigtes Kapitel auf, zu dem in Österreich bisher kaum veröffentlicht wurde. Auf 260 Seiten legt er dabei besonderen Augenmerk auf die Erlebnisse und das Schicksal von Einzelpersonen. Er zitiert aus privaten Briefen und Postkarten der Deportierten. Darin beschreiben sie ihren Alltag an ihrem neuen Wohnort, den Kontakt zu den polnischen Juden und Jüdinnen und ihre teils erfolgreichen Versuche, wieder nach Österreich zurückzukehren. Die Briefe beschreiben jedoch nicht nur das Leben vor Ort, sondern waren gleichzeitig auch überlebensnotwendiges Werkzeug, um Kleidung, Geld und Essen in die Ghettos geschickt zu bekommen. Der Postweg war für die Deportierten von entscheidender Bedeutung, denn ohne die Unterstützung von „Zuhause“ hätten viele im Ghetto nicht überleben können.
Was geschah mit den Menschen in den Ghettos von Opole, Modliborzyce, Kielce, Opatów, Łagów und anderen Gemeinden? Trotz der ungenügenden Quellenlage, die kaum originale Dokumente der deutschen Besatzer vorweisen kann, führt Manoschek deutlich vor Augen, dass Materialien vorhanden sind, um das Bild der Zustände zu verdeutlichen, mit denen die österreichischen Deportierten in den Ghettos konfrontiert waren. Diese von ihm als „Ego-Dokumente“ bezeichneten Quellen setzt er den fehlenden „Herrschaftsdokumenten“ entgegen. Lange Jahre endete das Wissen um den Judenmord in Ostmittel- und Osteuropa an der reichsdeutschen Ostgrenze. Wohin die Jüdinnen und Juden genau verschleppt wurden und welches Schicksal sie dort erwartete, war ein schwarzes Loch der Geschichtsforschung. Niemand interessierte sich oder wollte sich interessieren. Hinzu kam, dass der Schwerpunkt lange auf den großen Ghettos wie Litzmannstadt, Theresienstadt oder Warschau beziehungsweise auf den großen Städten des Generalgouvernements lag. In den letzten Jahren ändert sich dies zunehmend und es sind einige Werke erschienen, in denen ländlichen Regionen in größerem Umfang Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese Mikroanalysen zeigen deutlich, dass das Quellenmaterial keineswegs erschöpft ist.1 Die Studie Manoscheks über die Deportierten aus Österreich stellt sich in diese Reihe.
Manoschek beginnt mit den frühen Deportationen im Jahr 1939 nach Nisko am San. Danach beschreibt er die Verschleppungen aus Wien im Februar und März 1941, um schließlich die Transporte vom Frühjahr 1942 zu thematisieren. Im Zentrum der Studie steht das Ghetto in der ostpolnischen Ortschaft Opole Lubelskie, wohin zwei der insgesamt fünf Deportationen aus Wien des Frühjahrs 1941 mit insgesamt etwa 2.000 Personen geleitet wurden. Hier waren die meisten Zeugnisse zu finden, in denen die Betroffenen schilderten, welche Zustände in den Ghettos herrschten – es waren insgesamt etwa zwei Dutzend mehr oder weniger ausführliche Brief- und Postkartenkonvolute von Ghettoinsassinnen (S. 88). In der Analyse der Postsendungen lässt Manoschek die Deportierten selbst zu Wort kommen – und so unglaublich ihre Erzählungen klingen mögen, geben sie doch ein gutes Bild der Verhältnisse in den Ghettos im Generalgouvernement ab. Der Wiener Fritz Spielmann kam mit dem ersten Transport nach Opole. Seine entsetzten Eindrücke vermittelte er zurück nach Wien: „Dass es solche gottverlassenen Dörfer überhaupt auf der Welt gibt, das wusste ich nicht und Ihr könnt Euch überhaupt kein Bild von dem Elend machen.“ (S. 83)
Aufgrund der Ghettosituation bildete sich unter den Deportierten schnell eine Mehrklassengesellschaft: eine Gruppe, die Lebensmittel, Kleidung und Geld von Verwandten, Freundinnen und Bekannten erhielt und die zumindest kurz- und mittelfristig nicht vom Sterben bedroht waren; eine andere Gruppe, die zwar „Liebesgaben“ erhielt, aber nicht ausreichend, um nicht ihre Habseligkeiten gegen Lebensmittel eintauschen zu müssen; und eine weitere Gruppe, die nichts bekam und die „mehr als traurig daran waren“ (Wilhelm Schischa, S. 89). Diese Menschen verhungerten als erste oder gingen an Krankheiten – ausgelöst durch Nahrungsmangel – zugrunde.
Am 31. März 1942 ließ der deutsche Kreishauptmann Alfred Brandt 1.600 Jüdinnen und Juden aus Opole Lubelskie in das Todeslager Belzec deportieren und im Mai und Juni 1942 wurden 2.250 jüdische Bewohner:innen Opoles in den Gaskammern Sobibors erstickt. Jüdinnen und Juden leben seitdem in Opole nicht mehr. Bei der Darstellung des Mords an der jüdischen Bevölkerung legt Manoschek wieder besonderen Wert auf die Erinnerung der Betroffenen selbst. So zitiert er im Fall Opoles aus dem Bericht des jüdischen Überlebenden Stanisław Szmajzner, der nach Sobibor deportiert wurde, dort am Aufstand teilnahm, aus dem Mordlager flüchtete und der Einzige war, der davon berichten konnte, „unter welchen schrecklichen Bedingungen die Menschen aus Opole Lubelskie nach Sobibór gelangten und was sie in Sobibór erwartete“ (S. 140).
Im Frühjahr 1942 fanden erneut Deportationen aus Wien in polnische Ghettos statt. Circa 4.000 Jüdinnen und Juden wurden in die beiden Ortschaften Włodawa und Izbica verschleppt. Der Autor weist darauf hin, dass das Ziel der Abschiebungen sich im Vergleich zum Jahr 1941 entscheidend verändert hatte. War im Jahr 1941 für die Opfer noch ein schleichender Tod vorgesehen, hatten die Verantwortlichen im Jahr 1942 bereits die systematische Vernichtung geplant. Bereits ein halbes Jahr später – im Herbst 1942 – wurden die Ghettos im Lubliner Raum endgültig aufgelöst und ihre Bewohner:innen ermordet. Nur sehr wenige Deportierte kehrten aus Ostpolen zurück in ihre Heimat. Hatten im Jahr 1941 von den 5.000 Verschleppten nach Ostpolen noch 94 Personen überlebt (44 aus Opole Lubelskie, 22 aus Kielce, 16 aus Opatów, 13 aus Modliborzyce), so ist von den vier Transporten im April und Mai 1942 in die ostpolnischen Ghettos Izbica und Włodawa niemand nach Wien zurückgekehrt. Die Namen der Überlebenden der verschiedenen Ghettos listet der Autor einzeln auf, womit er erneut den Schwerpunkt auf eine Mikroanalyse legt, die den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Lediglich in einem Fall hatte ein skurriles Beispiel damals vorherrschender Bürokratie eventuell einer Deportierten das Überleben ermöglicht. So schrieb im Mai 1942 die in Wien geborene Hilde Mauerhardt aus Izbica, Block VI 106, an den Wiener Reichsstatthalter Baldur von Schirach: „[…] bitte ich ergebends mir die Erlaubnis zu erteilen, in meine Heimat kehren zu dürfen.“ (S. 225–226) Hilde Mauerhardt war trotz eines rechtskräftigen Bescheids des Wiener Landesgerichts, dass sie keine Jüdin sei, nach Izbica deportiert worden. Ihr Ansuchen hatte offensichtlich Erfolg und sie dürfte nach Wien zurückgekehrt sein. Obwohl sie in keiner Überlebendenliste auftaucht, war Hilde Mauerhardt damit wahrscheinlich die Einzige, welche die Verschleppung nach Izbica überstand (S. 232).
Manoschek geht jedoch noch weiter und bleibt nicht bei der Perspektive der österreichischen Opfer stehen. So weist er die Verantwortung österreichischer Täter nach. Er zeigt auf, dass die hohen Beamten, welche die Transporte nach Izbica leiteten, allesamt Österreicher waren – angefangen in Wien bis hin zu den Kräften in Lublin und dem Vernichtungslager Sobibor (S. 231). Im deutsch besetzten Kielce, in das ein Transport mit österreichischen Jüdinnen und Juden geleitet wurde, stammten von den 52 Schutzpolizisten, die im Ghetto und bei Deportationen eingesetzt wurden, 20 aus Graz und 20 aus Kärnten. 23 dieser österreichischen Polizisten konnten namentlich ermittelt werden (S. 173f.).
Irritation entstand beim Lesen bei Manoscheks Wortwahl von der „Judenpolizei“ (Jupo). Die Assoziation der Tätersprache liegt nahe und Alternativen zu diesem Sprachgebrauch wären wünschenswert – von JOD (Jüdischer Ordnungsdienst) bis hin zur jüdischen Polizei. Auffällig ist zudem die mangelnde Einbeziehung polnischsprachiger Quellen. In diesem Zusammenhang ist die Entdeckung Manoscheks positiv hervorzuheben, dass die Ärztin Lucie Mannheim, auf die er bei der Durchsicht der Akten der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe Włodawa stieß, im Jahr 1941 aus Wien nach Modliborzyce verschleppt worden war. In Włodawa war die Österreicherin für die jüdische Bevölkerung zuständig und setzte sich, wie Manoschek feststellt, mit Empathie für die medizinischen Belange der Jüdinnen und Juden ein. Die Auswertung des polnischen Schriftverkehrs in der Akte hätte zusätzlich jedoch nicht nur die Adresse Mannheims in Włodawa, sondern auch den Hilferuf, mit dem sie sich an die Verwandten in Dänemark wandte, ans Licht gebracht, von denen sie Lebensmittel geschickt bekommen wollte.2 Die Informationen über Ereignisse in den Ghettos wie in diesem Fall Deportationen basieren im vorliegenden Werk fast vollständig auf Sekundärliteratur. Allerdings wurden die Quellen an manchen Stellen nicht vollständig ausgewertet. So stellt der Autor beispielsweise im Fall des Transitghettos Izbica fest, dass die erste Deportation aus dem Ort in das Vernichtungslager Belzec am 27. März 1942 stattfand. Die zweite Verschleppungsaktion datiert er dann auf Anfang Juni (S. 215). Einschlägige Literatur erwähnt jedoch, dass es bereits Anfang April und Anfang Mai jeweils eine Deportation aus dem Ort in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gegeben hatte.
Die Studie Walter Manoscheks über die Deportationen aus Wien in die ostpolnischen Ghettos in den frühen 1940er-Jahren legt einen Finger in eine offene Wunde österreichischer Geschichte. Es brauchte über 80 Jahre, bis der Versuch unternommen wurde, nachzuvollziehen, was den Menschen nach ihrer Abschiebung widerfuhr. Die wissenschaftliche Bedeutung der Studie Manoscheks liegt zudem in dem mikrohistorischen Ansatz, der die einzelnen Zielorte der Deportationen und das Leben Einzelner in den Mittelpunkt stellt.
Anmerkungen:
1 Vgl. Barbara Engelking / Jan Grabowski (Hrsg.), Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski [Danach ist nur Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens], Warszawa 2018. Siehe hierzu die Rezension von Ingo Loose, in: H-Soz-Kult, 09.11.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28315 (02.04.2024). Vgl. ebenfalls Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Berlin 2018. Siehe dazu die Rezension von Walter Manoschek, in: H-Soz-Kult, 07.02.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27221 (02.04.2024).
2 Vgl. Jüdisches Institut Warschau, Bestand Jüdische Selbsthilfe: 211/1113, Bl. 34f.