Sofi Oksanen ist dem deutschsprachigen Publikum bislang durch ihre Romane bekannt. In ihnen thematisierte sie, in Finnland aufgewachsene Tochter eines finnischen Vaters und einer estnischen Mutter, wiederholt die komplexe Geschichte Estlands, und legte dabei immer wieder einen Fokus auf Frauenfiguren, in deren Lebenswelten sie gesellschaftliche Machtverhältnisse gespiegelt sieht. Ihr Debüt, „Stalins Kühe“ (2003), war, grob gesprochen, eine (Familien-)Geschichte der estnischen Sowjetrepublik in ihrer Verflechtung mit Finnland, im Folgewerk, „Fegefeuer“ (2008), lag der Fokus auf zwei Frauenfiguren in Estland. Eine der Protagonistinnen hatte eine brutale Geschichte sexueller Ausbeutung im postsowjetischen Russland erlebt, die andere vergleichbare Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Im vierten Roman, „Als die Tauben verschwanden“ (2014), steht Estland im Zweiten Weltkrieg im Fokus, indem unter anderem Fragen konsensualer Intimbeziehungen mit den Besatzern thematisiert werden.
Geschichte, Gewalt und Geschlecht prägten folglich Oksanens bisheriges fiktives Schreiben. Entsprechend machte (mich) ihr erstes als „Essay“ bezeichnetes Werk neugierig, das einen „Krieg gegen die Frauen“ – so der Titel – in und durch Putins Russland konstatiert. Sie stellt dabei zwei Beobachtungen in den Fokus: Zum einen sei Misogynie, also Frauenhass, im Inneren zentrales Mittel des Machterhalts, und fungiere zum anderen im Äußeren – unter dem Narrativ der traditionellen Werte – als verbindendes Element Russlands internationaler Partnersuche. Die in der Kriegsführung in der Ukraine zu beobachtende sexualisierte Gewalt sei folglich von der jahrzehntelang innergesellschaftlichen Misogynie geprägt und „ein wesentlicher Teilfaktor des gegen die Ukrainer gerichteten Völkermords“ (S. 9). Mit dem Buch, das kein populäres Sachbuch aus der Feder eines/einer Soziolog:in, Historiker:in, Politikwissenschaftler:in ist, sondern eine auch auf wissenschaftliche Literatur zurückgreifende öffentliche politische Intervention einer Intellektuellen, verbindet sich ein klar politisches Anliegen: „Die Tradition der Straflosigkeit in Russland ist das, was die Kriegsverbrechen erst möglich macht, und deshalb muss diese Tradition durchbrochen werden. Die Erfahrung Osteuropas aus zwei totalitären Systemen, Hitlerdeutschland und Sowjetunion, ist nie Teil der kulturellen Erinnerung ganz Europas geworden.“ (S. 10)
Das Buch ist in fünf große Einheiten unterteilt: Im ersten Teil steht die sexuelle Gewalt als Kriegswaffe im Fokus, im zweiten die Kriegsverbrechen von Soldaten der Sowjetunion und des heutigen Russlands und ihre mangelnde Aufarbeitung, im dritten die Geschlechterrollendebatten in Putins Russland. Im vierten Kapitel wird eines der Hauptthemen des Buches, die russische imperiale Imagination, vertieft, um mit einem kurzen fünften Kapitel zu den Desinformationspolitiken zu enden.
Ausgangspunkt des Buches sind in einem episodenhaften Auftaktkapitel die Erfahrungen von Oksanens Großtante, die im Zweiten Weltkrieg von Sowjetarmisten sexualisierte Gewalt erfuhr und für immer verstummte. Der zweite kurze Abschnitt im ersten Großkapitel erzählt unter anderem die Geschichte eines ukrainischen Zivilisten, der sexuelle Gewalt von acht Soldaten der russischen Armee erlitt. Oksanen verknüpft ihre Biographien, indem sie schreibt, dass sie „in völlig verschiedenen Welten geboren [wurden], und sie haben nicht einmal das Geschlecht gemeinsam. Dennoch haben sie eine Erfahrung gemein, die ihr Leben veränderte. Beide sind Zivilisten. Beide wurden zum Objekt von Gewalt, die von Personen mit russischem Mandat ausgeübt wurde“ (S. 23). Damit wird ihre Lesart deutlich, dass zahlreiche Aspekte heutiger russischer Gesellschaft aus (unaufgearbeiteter) Gewaltgeschichte sowie (unaufgearbeitetem und) letztlich aktualisiertem abwertenden Denken über nicht-russische Nachbarn resultiere. Dies ist die Kernbotschaft des Buches und zugleich ein politischer Appell an das westliche Europa, die Bedrohung durch Russland ernst zu nehmen.
Oksanen problematisiert in diesem Kapitel die Art und Weise, wie in der Öffentlichkeit über sexualisierte Gewalt gesprochen werde, indem Fragen nach der Anzahl der Taten dominierten, und wo wiederholt werde, wie schwer der juristische Nachweis sei. Stattdessen nimmt sie eine opferzentrierte Perspektive ein: „Wie viele Jahre oder Jahrzehnte mussten vergehen, bis das Opfer an einem Tag kein einziges Mal an das Geschehene dachte?“ (S. 34) „Von Vergewaltigungen bleibt selten etwas Zählbares zurück, das man der Gesamtzahl der Leichen hinzufügen könnte.“ (S. 35) Sie problematisiert weiter, dass das öffentliche Sprechen über erfahrene sexualisierte Gewalt zumeist von Frauen ausgehe, wenngleich es aus zahlreichen Konfliktregionen Belege über sexualisierte Folter gegenüber Männern gebe. Doch immer noch seien weibliche Stimmen politisch nicht so wirkmächtig und würden allein als weibliche Erfahrung gelesene Gewalttaten nicht so zentral gesetzt. Oksanens Gedanken sind für Personen, die sich wissenschaftlich mit sexualisierter Kriegsgewalt auseinandersetzen, nicht durchweg neu, aber für eine breitere Öffentlichkeit so vorgetragen, dass die Funktion eines Essays mehr als erfüllt wird. Hier wird im besten Sinne angeregt, über vermeintliche Gewissheiten im öffentlichen Sprechen nachzudenken.
Im zweiten Teil problematisiert Oksanen den öffentlichen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion und dem heutigen Russland. Durch die unkritische Heroisierung seien eigene Taten über Jahrzehnte nicht aufgearbeitet und so sei die „Straflosigkeit der russischen Armee ein Erbe des sogenannten ‚Großen Vaterländischen Krieges‘“ (S. 59). Oksanen spitzt zu, und manche Kausalbeziehungen kommen sehr direkt daher – direkter als die geschichtswissenschaftliche Forschung sie formulieren würde. Doch für das, was das Buch leisten soll, nämlich dem westlichen Europa einen anderen Blick zu vermitteln, mag es genau das Richtige sein. So loben zahlreiche deutsche Medienrezensionen etwa, dass das Buch die Geschichte imperialer Gewalt erkläre.1 Und in der Tat ist das zweite Kapitel mit 62 Seiten im Wesentlichen eine Argumentation dafür, Russland in seinen imperialen und binnenkolonialen Ansprüchen und Politiken über die Jahrzehnte zu begreifen – eine in der Forschung bereits lange, ausführlich und sehr differenziert geführte Argumentation. In Kapitel IV mit dem schönen Titel „Crashkurs in russischem Kolonialismus“ kehrt Oksanen zu diesem Thema zurück. Hier verweist sie auf die heutige primäre Mobilisierung von ethnischen Minderheiten, greift die Verschleppung ukrainischer Kinder und die russische Inszenierung davon auf.
Im dritten Kapitel führt uns die Schriftstellerin in die heutige russische Gesellschaft. Der „Homo Putinicus“, den sie sieht, habe Misogynie verinnerlicht. Unter Putin seien Frauenrechte ausgehöhlt worden und der Sexismus wichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens. Oksanen verweist auf die Quasi-Straffreiheit häuslicher Gewalt seit 2017, auf die Inszenierungen Putins als hypermaskuliner und machtvoller Anführer, als starker Mann – im wahrsten Sinne des Wortes – in einem starken Staat, auf Ideologen wie Aleksander Dugin, der dem biologischen Essenzialismus fröne. Dies spiegele sich in der Kriegsführung in der Ukraine.
Das letzte Kapitel thematisiert Russlands Desinformationskampagnen mit Fokus auf Frauen: Darunter gehörten Aktivitäten im US-Präsidentschaftswahlkampf gegen Hillary Clinton, und Trollinterventionen rund um den „Women´s March“ 2017, aber auch Interventionen im deutschen Wahlkampf 2021, die Annalena Baerbock von den Grünen betrafen. Auch Journalistinnen, die sich russlandkritisch positionieren, werden mit häufig sexualisierten Beleidigungen zum Schweigen zu bringen versucht. Russland, so Oksanen zusammenfassend, „manipuliert schon mit viel Geschick die in unseren Gesellschaften verborgene Misogynie, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es dieses außerordentlich günstige Instrument nicht noch intensiver einsetzen will. Deshalb muss noch umfassender über das gesamte Repertoire des von Russland praktizierten Frauenhasses gesprochen werden, und wir müssen auf dessen Einsatz besser vorbereitet sein, als wir es derzeit sind.“ (S. 274)
Oksanen zeichnet das Bild eines Landes, dessen unaufgearbeitete Geschichte der Gewalt und des imperialen Denkens, kombiniert mit einer zunehmend patriarchalen Gesellschaftsordnung, es zu einer Gefahr machten. Ihr Anliegen ist, das westliche Europa dafür zu sensibilisieren. Dafür kann sie auf ihr Sprachtalent zurückgreifen, das es ihr ermöglicht, historische und gegenwärtige (Einzel-)Ereignisse mit größeren Deutungen zusammenzuziehen und dabei verständlich zu bleiben. Aus Fachwissenschaftler:innenperspektive scheinen die Evidenzen mitunter etwas schnell konstruiert, mitunter gar anekdotisch, und manche Kontinuitätslinie wird zu monokausal gezogen. Von der Form des Essays ist dies durchaus abgedeckt, sodass diese Klassifikation prominenter in den Untertitel gehört hätte. So erfahren wir als Leser:innen jedoch nur auf der Rückseite des Buches davon, wo wir lesen: „Sofi Oksanen zeigt in diesem Essay, wie viel auf dem Spiel steht.“ Die große Stärke des Buches ist, über den fachlichen Diskurs zum Nachdenken anzuregen.
Anmerkung:
1 Etwa Lukas Meyer-Blankenburg, Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen, in: SWR Kultur, https://www.swr.de/swrkultur/literatur/sofi-oksanen-putins-krieg-gegen-die-frauen-100.html (13.08.2024).