Die Geschichte einer Herzogsfamilie des 10. und 11. Jahrhunderts zu schreiben, stellt ein nicht leicht zu bewältigendes Unterfangen dar. Immerhin besteht heute allgemeiner Konsens darüber, dass es sich bei den meisten adligen „Dynastien“ (S. 12) des Hochmittelalters um (Re-)Konstruktionen des Spätmittelalters oder gar der Neuzeit ohne ein eigenes Hausverständnis handelt. Dies trifft folgerichtig auch auf die Herzöge von Sachsen der Ottonen- und Salierzeit zu (931 und 1106), die erst im 13. Jahrhundert in der Braunschweiger Überlieferung zu „den Billungern“ konstruiert worden sind (S. 81, S. 315); und dennoch sind sie natürlich keine reine Erfindung. Vielmehr bildeten sie auch vorher schon einen nachvollziehbaren blutsverwandtschaftlichen Personenverband, dessen Handlungen, Entwicklungen und sozial-politische Räume in den Quellen durchaus greifbar und interpretierbar sind. Die Komplexität solcher sozialen wie vorstellungsgeschichtlichen Phänomene erschwert eine Bearbeitung für heutige Historiker:innen stark.
Dem aus einer Tagung in Ratzeburg hervorgegangenen und nun vorliegenden Sammelband1 gelingt der Umgang mit diesem „doppelten historischen Problem“ aber durchaus, auch wenn (oder gerade weil) durch die dafür notwendigen verschiedenen methodischen Ansätze der Bearbeitungsbedarf an den sogenannten Billungern mehr als sichtbar wird. Dies zeigt sich allein am Umfang der bisher vorhandenen Literatur – schließlich liegt weder eine aktuelle Monographie zu den Billungern vor, noch waren sie überhaupt in den letzten 30 Jahren Gegenstand umfassender Studien (S. 11, S. 454-456). Insbesondere vor dem Hintergrund der zahlreichen Abhandlungen zu den Askaniern, Welfen, Staufern usw. erscheint dies – da ist den Herausgeber:innen zuzustimmen – umso mehr beachtenswert (S. 16).
Der aktuelle Forschungsstand beruht damit immer noch auf den Erkenntnissen von Ingrid Pellens (1950), Ruth Bork (1951) und Hans-Joachim Freytag (1951), die sich vornehmlich mit der Prosopographie des Geschlechts, der verfassungsgeschichtlichen Analyse von Herrschaft und Besitzrechten oder einer dem damaligen Zeitgeist entsprechenden „Slavenpolitik“ (S. 13) auseinandergesetzt haben; methodische Ansätze und zeitspezifische Ansichten, die heute als überholt gelten. Die Billunger wurden im Folgenden zwar immer wieder durch die Forschung angeschnitten2, haben aber eine selbständige Analyse vor dem Hintergrund geänderter Forschungsparadigmen nicht mehr erfahren; die „großen turns“ der Forschung haben sie, kurz gesagt, nicht mitgemacht (S. 11–12).
Diesen Desideraten methodischer wie quantitativer Natur wollen Carolin Triebler und Florian Hartmann der Einleitung zufolge durch die Integration neuer Ansätze und Blickwinkel Abhilfe verschaffen. Der Titel ihres Bandes vermittelt daher auch ihr Programm: Die Billunger sollen im Spiegel der aktuellen Forschung neu aufgearbeitet werden.
Anknüpfungspunkte sehen sie dabei insbesondere in der (1.) Transkulturalität, (2.) Forschung zu Adel und Dynastie sowie (3.) der Integration des Wechselspiels von König und Fürsten zwischen Konsens und Konkurrenz (S. 13). Doch bietet sich dem Leser hier ein weit größeres Spektrum, das die Vielfalt einer „modernen Adelsgeschichte des Hochmittelalters“ durchaus vor Augen zu führen weiß, vor allem aber den aktuellen Diskussionsbedarf dieses Themas aufzeigt.
Ein erster strittiger Punkt ist wie so häufig der Umgang mit Verwandtschaft, Geschlecht und Dynastie. Denn unter den Autor:innen besteht zwar grundsätzlich Konsens darüber, dass auf die „Meistererzählungen des Adelsgeschlechts“ (S. 313) verzichtet werden solle, doch wurde wohl aufgrund unterschiedlicher methodischer Ansätze und Annahmen keine einheitliche Lösung dafür gefunden.
So heben aus verfassungs- bzw. vorstellungsgeschichtlicher Perspektive Gerhard Lubich und Hans-Werner Goetz den Konstruktionscharakter der sogenannten Billunger hervor, deren Stellenwert bei den Historiographen im 10. und 11. Jahrhundert auf einzelne Herzöge als heros eponymos Billungi (S. 81, S. 174) beschränkt und erst in der Braunschweiger Überlieferung zur Geschichte des sem[inis] Billungi (S. 81) geworden sei. Die Rekonstruktion der Genealogie sei darüber hinaus abseits der Vater-Sohn-Folge der Herzöge nur sehr vage möglich (S. 98 zum „Theoderich-Dilemma“, S. 115); eine Verbindung von politischem Handeln und Verwandtschaft könne nicht oder nur partiell angenommen werden (S. 115, S. 120).
Demgegenüber stehen zum einen die umfassenden und auch über Ruth Bork herausreichenden Verwandtschaftsrekonstruktionen des Heimatforschers Günther Bock, der für den nordelbischen Raum ein agierendes und weit verzweigtes Verwandtennetz rekonstruiert (S. 455 f., vor allem 476 ff. zu „innerethnischen Ehen“). Zum anderen machen Nathalie Kruppa und Tobias P. Jansen zwar auf die Schwierigkeit der Rekonstruktion verwandtschaftlicher Beziehungen aufmerksam (S. 212), nutzen dann aber doch wieder die Rekonstruktionen Ruth Borks zur Analyse einer billungischen Kloster- bzw. Stiftspolitik sowie „billungischer Bischöfe“ im ostfränkisch-deutschen Episkopat (S. 213, S. 303). Dadurch büßen ihre Ausführungen – die besonders Nathalie Kruppa in Bezug auf ihre Forschung von 2009 schon deutlich relativiert hat3 –an Beweis- und Aussagekraft ein.
Mit der Untersuchung der „billungischen Bischöfe“ wurde hier aber dennoch Grundlagenarbeit geleistet, die sich in dem begrenzten Raum der Beiträge besonders durch die Integration der Memorialquellen auszeichnet und weiterverfolgt werden sollte (S. 277). In der Aufarbeitung spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Memorialquellen könnte – hier ist Nathalie Kruppa und Tobias Jansen zuzustimmen – grundsätzlich eine Lösung für die bisher nicht immer klar nachvollziehbaren Verwandtschaftsbeziehungen liegen (S. 262, S. 304), doch handelt es sich trotz des memorialen Charakters dieser Quellen dann immer noch um retrospektivische Konstruktion und nicht um ein authentisches Bild des 10. und 11. Jahrhunderts.
Ferner erscheinen auch Erklärungsangebote für den Aufstieg der sogenannten Billunger sowie ihr Wirken in Sachsen und im Reich als überaus divers. Stellt Matthias Becher den Aufstieg Hermann Billungs noch als eine Art Ämterlaufbahn und damit als einen „Sonderweg“ der Entwicklung ostfränkisch-deutscher Herzogtümer dar (S. 69), betont insbesondere Jürgen Dendorfer die in Bayern und Schwaben ähnlichen Entwicklungen im 10. Jahrhundert (S. 360). Hingegen sieht letzterer gerade im 11. Jahrhundert den essentiellen Unterschied der Entwicklung Sachsens zu den Herzogtümern Schwaben und Bayern, da die lange blutsverwandtschaftliche Kontinuität der Billunger dort nicht ansatzweise eine Entsprechung fände (S. 366, S. 368).
Neben diesen Problemzonen werden im vorliegenden Sammelband aber auch neue Lösungsansätze geboten. Eine Brücke zu einem neuen Umgang mit den sogenannten Billungern und dem sächsischem Herzogtum schlagen dabei insbesondere Robert Gramsch-Stehfest, Florian Hartmann und Carolin Triebler durch neue methodische Verfahren sowie eine stärkere Einbettung und Kontextualisierung von Quellen und langfristigen Entwicklungen im Reich.
So können etwa computergestützte Auswertungsverfahren die billungischen Netzwerke in einer Weise visualisieren, die nicht nur einzelne Verbindungen untereinander deutlich macht, sondern auch ihre jeweilige Qualität und ihre verschiedenen Ebenen der Konstruktion sichtbar werden lässt (S. 318, S. 337, S. 341). Auf diese qualitativen Netzwerke hebt auch Florian Hartmann ab, der durch eine umfassende Kontextualisierung der Erbgänge nach dem Tod des letzten Billungers und eine Neueinordnung eines Briefes Gunthars von Bamberg (M7, S. 205 f.) personale Verflechtungen in Sachsen erarbeiten kann, die in viel stärkerem Maße als von der älteren Forschung angenommen für die Weiterführung von Besitz und Herzogswürde durch Lothar von Süpplingenburg verantwortlich seien. Das „Billunger-sein“ (S. 181) habe – kurz gesagt – hier eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Eine Neubewertung Herzog Ordulfs gelingt schließlich Carolin Triebler durch die Heranziehung und stärkere Kontextualisierung der Quellen abseits der großen historiographischen Werke (etwa S. 411–413, S. 418); einen von der alten Forschung identifizierten Bedeutungsverlust Ordulfs kann Triebler dadurch nicht ausmachen, weshalb auch die Frage nach den Gründen seiner Rebellion neu zu überdenken sei (S. 420).
Der besondere Gewinn des Sammelbandes liegt daher zusammengenommen weniger in der Erarbeitung der drei im Inhaltsverzeichnis gebotenen thematischen Bereiche „Dynastie und Herzogtum“, „Agieren in weltlichen und geistlichen Sphären“ sowie der „Kontaktzonen des Reiches“ (S. 24), als vielmehr in der Problematisierung des Verwandtseins, der rekonstruierten Genealogie der Billunger sowie der Nachzeichnung der Entwicklung des sächsischen Herzogtums.
Ohne Wasser in den Wein kippen zu wollen, sei hierzu noch angemerkt, dass vielleicht durch eine Anordnung der Beiträge nach methodischen Zugängen die jeweiligen Forschungsgegensätze und Lücken noch deutlicher hätten zu Tage treten können. Fakten und Fiktionen, Struktur und Vorstellung scheinen dabei die jeweiligen Stellschrauben zu sein, um zu einer neuen Bewertung der Herzöge von Sachsen zwischen 931 und 1106 sowie zur Bedeutung der Konstruktion der Billunger gelangen zu können.
Weitergearbeitet werden sollte daher meines Erachtens gerade an den hier sichtbar gewordenen strittigen Punkten, durch deren Lösung eine Geschichte der Billunger sauberer ermöglicht werden könnte als durch die Nachholung einer fehlenden Untersuchung der billungischen „Dynastie“ (S. 12). Diese kann für das 11. und 12. Jahrhundert schließlich noch nicht als „natürliche Entität“4 angenommen werden; eine Untersuchung der Billunger in Herzogtum, geistlichen und weltlichen Sphären sowie in den Kontakträumen des Reiches bietet sich daher kurz gesagt nur unter der Klärung derjenigen Fragen an, die in und durch die Aufsätze aufgeworfen worden sind.5
Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht unter https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127877 (24.05.2024).
2 Vgl. Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert, Husum 1996.
3 Vgl. Nathalie Kruppa, Die Billunger und ihre Klöster. Beispiele zu den weitläufigen Verbindungen im frühmittelalterlichen Sachsen, in: Concilium medii aevi 12 (2009), S. 1–41.
4 Michael Hecht, Dynastiegeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit – Aktuelle Themen und Forschungsüberblick, in: Felicitas Schmieder / Stefan Pätzold (Hrsg.), Die Grafen von der Mark. Neue Forschungen zur Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Beiträge der Tagung am 22. April 2016 in Hagen, Münster 2018, S. 54.
5 Auf die Dissertation von Carolin Triebler lässt sich also hoffen. Vgl. zum hinter dem Band stehenden DFG-Projekt: https://www.ma.histinst.rwth-aachen.de/go/id/fukda (24.05.2024).