„Ich habe gesagt, dass die Sachsen immun sind gegenüber Rechtsradikalismus. Das ist auch heute noch meine Auffassung“, erklärte der erste Ministerpräsident des Freistaates Sachsen nach der deutschen Wiedervereinigung, Kurt Biedenkopf (CDU), in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ im Oktober 2017.1 Bei der Bundestagswahl vom 24. September 2017 hatte die AfD im Freistaat Sachsen zuvor ein Ergebnis von 27,0 Prozent der Zweitstimmen erzielt und war damit vor der CDU zur stärksten Kraft geworden. Doch nicht nur erneute Rekordwerte von 31 Prozent für die „Alternative für Deutschland“ bei Umfragen zur Landtagswahl am 1. September 2024 widerlegen Kurt Biedenkopfs fatales Diktum2: Seit der deutschen Wiedervereinigung gab es reichlich Ereignisse und Entwicklungen, welche die Frage aufdrängten, „[i]nwiefern Sachsen ‚lediglich‘ ein Brennglas überregionaler Trends oder aber doch eine im besonderen Maße durch vorgefundene Rahmenbedingungen rechtsextreme Einstellungen und Haltungen befördernde Region ist“ (S. 28). Immerhin sind in Sachsen seit 1991 bisher 17 Menschen durch rechte Gewalt zu Tode gekommen, womit das sächsische Gewaltaufkommen von rechts über dem Bundesdurchschnitt liegt (vgl. S. 25f.). Außerdem stellte der Freistaat Sachsen eine Hochburg für die inzwischen in „Die Heimat“ umbenannte neonazistische Partei NPD dar, die von 2004 bis 2014 im Landtag vertreten war. Schließlich stuft der Landesverfassungsschutz den sächsischen AfD-Landesverband seit Dezember 2023 als „gesichert rechtsextreme Bestrebung“ ein, da sich dieser gegen die Menschenwürde und das Demokratieprinzip richte.3
Der Frage, ob diese Begebenheiten „nur eine Abbildung von Trends darstell[en]“, ob diese „radikalisiert reflektiert“ werden oder ob ihnen sogar zum Teil vorgegriffen wird (S. 28), geht der Sammelband „Brennpunkte der ‚neuen‘ Rechten. Globale Entwicklungen und die Lage in Sachsen“ von Stefan Garsztecki, Thomas Laux und Marian Nebelin nach und folgt dabei der Prämisse, „[d]ass das Globale ‚stets im lokalen Kontext […] situiert‘ ist“ (S. 23). In der Gesamtheit wird der Sammelband diesem Anspruch gerecht, auch wenn die eingangs formulierte Forschungsfrage nicht abschließend beantwortet wird und ein zentraler Diskussionspunkt bezüglich des Bedrohungspotenzials der „neuen“ Rechten und der AfD offenbleibt. Der Mehrwert und die Relevanz dieser Publikation für die Geschichtswissenschaft liegen nicht nur in der Verknüpfung zwischen lokalen und globalen Ereignissen in Hinblick auf eine „demokratische Regression“ (S. 23); ebenso werden interdisziplinäre Ansätze zur Erforschung des keinesfalls so neuen Phänomens der „neuen“ Rechten gewählt.
Nach einem einführenden Überblick zu globalen Trends und regionalen Entwicklungen durch die drei Herausgeber beschäftigt sich der erste Beitrag anhand einer Qualitative Comparative Analysis (QCA) in komparativer Weise mit dem sächsischen und bayerischen AfD-Wahlmilieu. Der Autor Julian Polenz kommt unter anderem zu den Befunden, dass die AfD in Sachsen in deutlich stärkerem Maße als in Bayern auf lokale Offline-Mobilisierung setzt und sich auf „klassische, kulturell legitimierte politische Organisationsstrukturen“ beruft, während der Landesverband in Bayern wesentlich stärker auf der Plattform „Telegram“ aktiv ist (S. 67). Ebenso stellt Polenz fest, dass sich die sächsische AfD strukturell an den etablierten Parteien orientiert, während die noch antisemitischere und verfassungsfeindlichere bayerische AfD sich bewusst von diesen Organisationsformen abzugrenzen versucht (S. 68).
Eine soziologische Erhebung nimmt auch Sarah Tell vor, die anhand von Posts aus 80 „Telegram“-Kanälen der resonanzstärksten rechten Protestakteur:innen, Redebeiträgen der AfD-Abgeordneten im sächsischen Landtag sowie deren Stellungnahmen in 13 öffentlichen „Telegram“-Kanälen untersucht, inwiefern die Kritik an den Coronamaßnahmen von der sächsischen AfD absorbiert und in der Konfliktaustragung um das Pandemiemanagement eingebracht wurde (S. 77). Ihr zentraler Befund lautet, dass die „Alternative für Deutschland“ in der parlamentarischen Debatte seriöser auftritt als im Internet, wo die Enthemmung auf niedrigere Schwellen trifft (vgl. S. 89).
Besonders erhellend ist im Folgenden der Beitrag von Manuela Bayer über „Anastasia als Brückenspektrum zwischen extremer Rechter und alternativer Milieus“, in dem die Soziologin die Anastasia-Buchreihe des russischen Autors Wladimir Megre analysiert und antisemitische, homophobe, misogyne, rassistische und verschwörungsideologische Elemente beschreibt. Als Anknüpfungspunkte sowohl für das (neu-)rechte als auch für das esoterische Milieu propagieren die Romane laut Bayer „zur Lösung aller Probleme der Welt die Gründung von sogenannten Familienlandsitzen von je einem Hektar Land, der durch eine Familie selbstversorgend bewirtschaftet wird“ (S. 139), was durch die proklamierte Liebe für die Eigengruppe folglich eine „[d]iskursive Allianz zwischen Esoterik und Rechtsextremismus“ (S. 137) eröffnet.
Gewinnbringend ist ebenso der Artikel über die Antikerezeption in der „neuen“ Rechten in Frankreich, Deutschland und den USA von Frank Görne sowie Katarina und Marian Nebelin. Die drei Autor:innen fokussieren sich darin unter anderem auf die Identitäre Bewegung und wie diese den bereits 1998 erschienenen Comic „300“ und seine Verfilmung aus dem Jahr 2006 für ihre polarisierende Agenda – „Gut gegen Böse, West gegen Ost, Okzident gegen Orient, Europa gegen Asien, Freiheit gegen Sklaverei, Demokratie gegen Despotie, offene gegen geschlossene Gesellschaft“ (S. 278) – instrumentalisieren. Referenzpunkt für die Identitäre Bewegung und die „neuen“ Rechten bilden freilich die durchtrainierten und oberkörperfreien Krieger Spartas, die sich der Invasion der zahlenmäßig überlegenen Perser entgegenstellen, die für Dekadenz, Diversität und Multikulturalismus, aber ebenso für Barbarei und Brutalität stehen (S. 279).
Der Beitrag „Neue und alte Rechte in Chemnitz – Knotenpunkte eines Netzwerkes“ von Johannes Grunert und Johannes Kiess beschäftigt sich detailliert mit der rechtsextremen Mobilisierung in der drittgrößten Stadt Sachsens vor und nach den Ereignissen vom 26. August 2018, als es nach einer tödlichen Messerstecherei zu Ausschreitungen, Gewalttaten und rechten Demonstrationen sowie enormen Gegenprotesten kam. Die Autoren stellen fest, dass Chemnitz seit Langem ein Brennpunkt der rechten Szene ist, wo Akteur:innen „ein ungestörtes Leben führen und politisch wirken zu können“ (S. 169). Sie legen auch schlüssig dar, dass es in Chemnitz zwar weniger traditionelle, aber sehr viele flexible Netzwerkstrukturen rechter Gruppierungen gebe. Aus diesem Grund – so eine interessante These des Beitrages – greife auch eine Unterscheidung zwischen „alten“ und „neuen“ Rechten zu kurz (S. 173). Dennoch wird letztere Begrifflichkeit auf die abschließenden Beiträge über die ideologischen Traditionslinien und aktuellen Politikentwürfe rechter Bewegungen und Parteien in Polen sowie über das Wiederaufleben der radikalen Rechten in der Tschechischen Republik im Gewand der „neuen“ Rechten angewandt.
Erwähnenswert ist die klare Struktur des Sammelbandes, in dem jeder Beitrag einem logischen Aufbau folgt und die Forschungserkenntnisse in einem Abschnitt „Fazit“ konzise zusammenfasst. Ebenso gelingt die Verknüpfung von Globalentwicklungen und der Lage in Sachsen, das als „ein Zentrum des Rechtsextremismus in Deutschland“ (S. 25) benannt wird. Fast jeder Beitrag setzt sich mit dem Begriff „‚neue‘ Rechte“ auseinander sowie beschäftigt sich mit dessen Genese und jüngeren Entwicklungen wie etwa der Propagierung des antiegalitären und antiliberalen Konzepts „Ethnopluralismus“. Im Gegensatz dazu besteht allerdings noch keine Einstimmigkeit bei der Verwendung des Begriffes „Rechtspopulismus“. Während etwa für Susanne Rippel hinter „Rechtspopulismus“ oftmals eine manifeste rechtsextreme Ideologie steckt und die Bezeichnung somit vor allem eine Strategieoption der („neuen“) Rechten darstellt, verwenden andere Autor:innen des Sammelbandes den Begriff für die „Alternative für Deutschland“ noch ziemlich unbedarft und verharmlosen damit das Bedrohungspotenzial, das von dieser Partei nicht erst seit der Enthüllung eines Geheimtreffens der rechtsextremen Szene in Potsdam Ende 2023 und der dort diskutierten „Remigrationspläne“ ausgeht. Derartige begriffliche Inkonsistenzen sollten jedoch als weitere Diskurs- und Forschungsdesiderate betrachtet werden und schmälern den Erkenntnisgewinn dieser interdisziplinären und facettenreichen Publikation nicht.
Anmerkungen:
1 „Kurt, das wäre dir nicht passiert!“ – Interview mit Martin Machowecz, in: Die Zeit, 5. Oktober 2017, https://www.zeit.de/2017/41/cdu-sachsen-kurt-biedenkopf-wahlergebnis (01.08.2024).
2 Neueste Sonntagsfragen zum Wahltrend zum sächsischen Landtag, https://politpro.eu/de/sachsen (01.08.2024).
3 Redaktion beck aktuell, „Verfassungsschutz: AfD in Sachsen ist gesichert rechtsextremistisch“, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/verfassungsschutz-afd-in-sachsen-ist-gesichert-rechtsextremistisch (01.08.2024).