Cover
Titel
Müll in der Natur. Eine Mikrostudie zur politischen Ikonographie, Ideengeschichte und Forensik des Anthropozäns


Autor(en)
Krieger, Peter
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian von Wissel, School of Architecture - Theorie der Stadt, Hochschule Bremen

„Müll in der Natur“ ist gemeinhin ein Ärgernis – die neue Studie des Bild- und Stadtwissenschaftlers Peter Krieger (Universidad Nacional Autónoma de México, UNAM) mit dem gleichlautenden Titel aber ganz im Gegenteil ein willkommener Anstoß, vom Müll ausgehend die Beziehung zwischen uns (Stadt-)Menschen und unserer Umwelt zu hinterfragen. Die bei Tectum erschienene Untersuchung reiht sich damit ein in eine aktive, explizit interdisziplinäre Forschungslandschaft zum vielschichtigen Komplex des Wegwerfens und Übriglassens alltäglicher Dinge – viele davon aus Plastik.1

In sechs Kapiteln entwirft Krieger eine „politische Ikonografie, Ideengeschichte und Forensik des Anthropozäns“ (Untertitel) und zeigt, was Menschen dazu veranlasst, „wilde Natur als Müllabladeplatz“ zu missbrauchen (S. xi). Dabei geht der Autor von dem Naturschutzgebiet REPSA in Mexiko-Stadt und dessen Verwendung als illegalem Entsorgungsort für Abfälle aller Art als Fallstudie aus (Kap. I.). Von dort führt der Autor umfangreich durch die ideengeschichtliche Einordnung (Kap. II.) und bildwissenschaftlich geleitete, interdisziplinäre Betrachtung des Themas (Kap. III.). Eine ikonografische Interpretation von Müll-Motiven (Kap. IV.), Überlegungen zum Einsatz von Müll in der Kunst (Kap. V.), wie auch zu konkreten Ideen und Projekten des urbanen Naturschutzes und der Renaturierung (Kap. VI.) geben dem Buch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Anklage und der Suche nach Auswegen aus dem weltweit und täglich stattfindenden „Umweltverbrechen“ unseres „zerstörerischen Umgangs mit der Natur“ (Jürgen Goldstein, Buchrücken).

Kapitel I., Zugänge/Einblicke, öffnet mit dem Schock der visuellen Erkenntnis eines von Müll geplagten Planeten: Immer wieder sind es Bilder, die uns das Ausmaß der menschengemachten Bedrohung des Menschen und seiner Mitwelt vor Augen führen – von den apokalyptisch anmutenden Wolkenfärbungen der unfreiwillig als Schadstoffdeponie herhaltenden Atmosphäre der Megastadt Mexiko, welche Krieger bereits 2017 in den Blick genommen hat2, bis zum ausgelaugten und verwüsteten Erdboden, der uns zum Beispiel aus aktuellen Greenpeace-Fotokampagnen entgegenblickt (S. 5).3 Diese Bilder als „Denk-Bilder“ (S. 60) zu reflektieren und ihr politisches Potential im Sinne von Handlungsaufforderungen zu heben, markiert den Anspruch der Publikation. Zugleich führt das Kapitel in den Mikrokosmos der REPSA in Mexiko-Stadt ein, einem Naturschutzgebiet am Rande des innerstädtischen Universitätscampus, dessen Zerstörung und Unterschutzstellung eine lange und sich wechselseitig beeinflussende Geschichte aufweist.

Kapitel II., Konzepte, widmet sich der konzeptionellen Herausforderung einer „Allgegenwart des Mülls“ (S. 35). Müll breitet sich aus und sammelt sich an, modelliert die Oberfläche unserer Städte und Landschaften und markiert sozialräumliche Ungleichheiten in der Wegwerfgesellschaft. Wie dabei auch anthropozentrische Naturkonzepte (S. 77f.) und eine „Ästhetik des Hässlichen“ (S. 82) verhandelt werden, wird vom Autor überzeugend vorgetragen.

Im dritten Kapitel, Spurensuche, nimmt Krieger die Leser:innen sodann mit in die Perspektivenvielfalt der an einem Nachdenken über Müll in der Natur beteiligten Fachdisziplinen. Zwischen „Visualität“ und „Öko-Ästhetik/-Historie“ spannt sich ein 60-seitiger Gewaltritt durch 20 Disziplinen und ihr jeweils spezifisches Zutun zum Thema. Das ist zuweilen etwas kurz abgehandelt … zugleich aber auch erfrischend, weil Urbanistik zum Beispiel mit Klimatologie oder Architektur mit Edaphologie, das heißt mit dem Einfluss der Böden auf die Lebewesen, in Verbindung gebracht wird und so neue, für das Verständnis des Anthropozäns wichtige Perspektiven eröffnet werden.

Kapitel IV., Ikonografie, widmet sich sodann der bildwissenschaftlichen Sinn-(De)Konstruktion des Mülls in der Natur im engeren Sinne. Kristallisationspunkt hierfür ist die Müllmauer des mexikanischen Künstlers Abraham Cruzvillegas, ein „umweltkritisches Kunstwerk“, welches 2015 in Zusammenarbeit mit Biolog:innen der UNAM zum Thema Biodiversität inmitten der REPSA entstanden ist (S. 6). Krieger begibt sich hier auf eine Reise durch die Verwendung und Bedeutung von Müll in der Kunst – erarbeitet dessen ikonografische Entschlüsselung aber unter Verweis auf „Müll-Bilder“ aus dem Archiv der REPSA (S. 178). Interessant ist, dass er dabei auf vergleichbare Ergebnisse kommt wie die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Claudia Tittel: Diese hat ebenfalls gezeigt, wie Müll in der Kunst als Gegenentwurf, Fetisch, Kritik, Alltagsrelikt oder Archiv, als Zeichen von Authentizität oder als zivilisatorisches Problem thematisiert und dabei immer als Provokation eingesetzt wurde/wird – gleichwohl ob in seiner Schönheit oder als Objekt des Ekels und bedeutsam dabei grundsätzlich in seiner Materialvielfalt und Mannigfaltigkeit.4 Bedauerlich aber ist es, dass insbesondere die Schwarz-Weiß-Bilder meist etwas blass auf den Seiten stehen – für eine bildwissenschaftliche Arbeit wäre hier durchaus mehr Sorgfalt bei der Drucklegung angebracht gewesen.

Die Kapitel V. und VI., Dystopie und Utopie, schließlich zeigen die dem Umweltverbrechen eingeschriebenen Stadt-Mensch-Natur-Relationen. Vom Tatort der Vermüllung ausgehend, verweisen sie auf die mögliche, und mit dem Buch intendierte, Veränderung menschlichen Verhaltens durch Konfrontation, Analyse und Reflexion. Die Mikrostudie wird hier auch auf die mexikanische Megalopole extrapoliert und ihre Vergleichbarkeit und allgemeine Übertragbarkeit auf andere Stadtkontexte, zum Beispiel auch in Deutschland, dargelegt. Dabei werden insbesondere die vier Beziehungsoptionen „Natur als Sehnsuchtsort“ (vgl. S. 199f.) vs. „Wildnis als das Böse“ (vgl. S. 200f.), „Naturschutz als kulturgeschichtliche Kehrtwende“ (vgl. S. 205f.) und „Verwilderung als Zukunftspraxis“ (vgl. S. 209f.) thematisiert.

Das Buch kulminiert in einer „ästhetischen Bodenkunde“, die in mehreren Schritten konturiert wird (S. 98f., 154f. 217f., sowie S. xvii). Ihr Anliegen ist es, den Boden- und Landschaftsverbrauch im Anthropozän visuell erfahrbar zu machen und daraus transformative Handlungsoptionen abzuleiten (S. 98). Müll in der Natur gibt dafür einen sichtbaren Hinweis, welcher das achtlose Wegwerfen von Plastikflaschen ebenso einschließt wie die globale Produktion von (nicht-nachhaltiger) Architektur mit ihren gemeinhin bekannten, vermüllenden Umweltfolgen wie Flächenversiegelung, Bodenverbrauch und Bauschutt, etc. (S. 150). Dramatisch wird es zudem, wenn der Müll nicht mehr sichtbar ist, sondern aufgrund einer allgemeinen „Plastik-Penetration“ der Böden eine nicht-nachhaltige, menschengemachte und oftmals giftige „cultural soilscape“5 (zitiert auf S. 102) zurücklässt. Hier schafft die öko-ästhetische Forschung Abhilfe: Zum einen ist Krieger damit beschäftigt, im Rahmen des Programa Universitario de Estudios Interdisciplinarios del Suelo (PUEIS) der UNAM6 eine Datenbank zur visuellen Repräsentation von Böden aufzubauen (S. 102f.); zum anderen setzt er grundsätzlich die Bilder in Bewegung, da sie einen „Tatbestand ausdrücken, konzeptualisieren und auch distribuieren“ und mit ihrer „materiellen und virtuellen Substanz […] immer wieder katalysierende Vorgänge des Nachdenkens“ auslösen können (S. 154f.).

Mit seiner bildwissenschaftlichen Untersuchung der Tatorte widmet sich Krieger damit auch dem Nachdenken über die Kulturpraxis des Wegwerfens im Allgemeinen. Diese, so hat es Martina Heßler dargelegt, musste zunächst „in einem langen historischen Prozess eingeübt werden […], bevor sie zu einer selbstverständlichen gesellschaftlichen Praxis wurde“, und es war die „Dingflation“, die dem Einüben des Wegwerfens vorausging.7 Dem „Awareness-Behaviour-Gap“, der Lücke also zwischen reflektiertem Wissen und tatsächlichem Tun, welche Maja Grünzner und Sabine Pahl bei der Umsetzung von Verhaltensänderungen im Umgang mit Plastik ausmachen, wird Kriegers Provokation der visuellen Beweisführung also nicht alleine beikommen können – koordinierten Handlungsbedarf machen die beiden Autorinnen deshalb auch weiterhin bei den Wirtschaftsunternehmen und Regierungen aus.8

In der Summe ist „Müll in der Natur“ der Versuch, die Kontaktlinie „Stadt–Natur“ anhand der nicht-nachhaltigen menschlichen Überschreitung derselben – dem Wegwerfen von Müll in der geschützten Wildnis – auszuloten. Dazu zündet Peter Krieger ein Feuerwerk der Konzepte und Perspektiven, um dieser Überschreitung begrifflich und gedanklich beizukommen. Dass dem Rezensenten dabei zuweilen etwas schwindlig wird, ist vermutlich der „komplexen Wissensrepräsentation“ (S. 91) geschuldet, die anhand der Kombination vielfältiger Blickwinkel aus den Natur- und Geisteswissenschaften bei den Leser:innen „epistemische Synergieleistungen“ erzeugen möchte (ebd.). Zugleich führt die visuell-forensische Aufarbeitung eines konkreten Tatorts, der REPSA in Mexiko-Stadt, und ihres ebenso besonderen wie exemplarischen Kristallisationspunkts, der Müllmauer von Abraham Cruzvillegas, aber zu klaren, übertragbaren Einblicken. Damit bietet das Buch viele Anknüpfungspunkte für eine interdisziplinäre Forschung zur Beziehung von Mensch und Müll, Stadt und Natur, und ist auch methodisch interessant für eine visuelle Soziologie/Anthropologie sowie bildwissenschaftliche Stadtforschung. Dem Anspruch, sozial-ökologische „Bewusstseinsarbeit betreiben“ zu wollen (S. 217), wird die Publikation umfassend gerecht.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christiane Lewe / Tim Othold / Nicolas Oxen (Hrsg.), Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, Bielefeld 2016; Jens Kersten, Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaft, Kulturen der Gesellschaft 16, Bielefeld 2016; Wolfgang König, Geschichte der Wegwerfgesellschaft. Die Kehrseite des Konsums, Stuttgart 2019; Laura Moisi, Die Politisierung des Abfalls. Elemente einer Kulturtheorie häuslicher Müllentsorgung, Undisziplinierte Bücher 2, Boston 2020; Michael Thompson, Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten (Neuausgabe), hrsg. von Michael Fehr, Edition Kulturwissenschaft 228, Bielefeld 2021; Johanna Kramm / Carolin Völker (Hrsg.), Living in the Plastic Age. Perspectives from Humanities, Social Sciences and Environmental Sciences, Frankfurt am Main 2023.
2 Vgl. zum Beispiel https://boden-burnout.shorthandstories.com/kapitel-2-ausgelaugt/ (15.07.2024).
3 Vgl. Peter Krieger, Estética de la contaminación atmosférica de la megalópolis. Comparativa de la Ciudad de México con Beijing, in: Guillermo Pulido / Alicia Girion / Aurelia Vargas (Hrsg.), II. Coloquio Internacional de Estudios Chinos y Mexicanos. Del diálogo al entendimiento, Beijing 2017.
4 Claudia Tittel, Szenarien des Mülls. Von Schrott, Abfall und anderen symbolischen Ordnungen des Ausrangierten, in: Lewe / Othold / Oxen, Müll, S. 171–198.
5 E. C. Wells, Cultural soilscapes, in: E. Frossard / W. E. H. Blum / B. P. Warkentin (Hrsg.), Function of Soils for Human Societies and the Environment, Special Publication 266, London 2006, S. 125–132, hier S. 125, https://doi.org/10.1144/GSL.SP.2006.266.
6https://pueis.unam.mx/ (15.07.2024).
7 Martina Heßler, Wegwerfen. Zum Wandel des Umgangs mit Dingen, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16/Suppl 2 (2013), S. 253–266, hier S. 253, 255.
8 Maja Grünzner / Sabine Pahl, Behavior Change as Part of the Solution for Plastic Pollution, in: Kramm / Völker, Living in the Plastic Age, S. 169–195, hier S. 171, 189.

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