Cover
Titel
Gedächtnis in Bewegung. Die Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust im Kino


Autor(en)
Noack, Bettina
Erschienen
Paderborn 2010: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Ebbrecht, AV Medienwissenschaft, Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf", Potsdam

Bettina Noacks Studie „Gedächtnis in Bewegung. Die Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust im Kino“ fügt sich nur auf den ersten Blick in die Fülle von Untersuchungen aus unterschiedlichen Disziplinen über die Darstellungsgeschichte des Holocaust und den Beitrag des Kinos zum kulturellen Gedächtnis ein. Auch wenn Noacks Untersuchung geeignet ist, unter der Perspektive einer „zweite[n] Geschichte des Nationalsozialismus“1 gelesen zu werden, geht sie doch darin nicht auf und das liegt nur zum Teil daran, dass die hier aufgefaltete Gedächtnisgeschichte, wie es im Klappentext des Buches heißt, „gleichzeitig ein Stück Filmgeschichte ist.“ Noack bemüht sich in ihrem Buch auch um eine philosophische Reflexion von Geschichte und Zeit, die sie einerseits mit Gedächtnistheorien, andererseits mit konkreten Filmbeispielen in Beziehung setzt. Ihre theoretische Grundlage entwickelt sie dazu jedoch nicht systematisch, sondern fast beiläufig eingebettet in den Analysen der von ihr untersuchten Filme. Die Auswahl der Filme aus dem schier unerschöpflichen Korpus von filmischen Darstellungen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges folgt diesem Fokus. Im Zentrum stehen „Zeitdarstellungen“ (S. 15). Die Filme, die sie dazu untersucht, bezeichnet Noack als „Erinnerungsfilme“ (S. 10).

Erst beim fortgesetzten Lesen erschließt sich, was genau die Autorin unter diesem Begriff versteht. Zunächst definiert sie die Erinnerungsfilme vorläufig als „Filme, die einen Bezug zwischen der Gegenwart und den damaligen Ereignissen herstellen“ (S. 10), die die Vergangenheit in der Gegenwart aktualisieren. Ausgeblendet bleiben darum Filme, die in der Vergangenheit spielen, diese rekonstruieren, auch wenn natürlich auch solche Filme einen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen. Sie zeigen aber nicht wie das Vergangene in der jeweiligen Gegenwart erscheint, sondern die Vergangenheit wird in solchen Geschichtsfilmen als etwas Abgeschlossenes vorgeführt. Damit definiert Noack den Erinnerungsfilm ausgehend von seiner filmischen Form und nicht ausgehend von den Formen seines sozialen Gebrauchs wie Astrid Erll und Stephanie Wodianka, die stärker die Rezeptionskontexte, das „um den Film herum’ Erinnerte“ in ihre Definition des Erinnerungsfilms mit einbeziehen.2

Noack aber interessiert sich für das filmische Ineinandergreifen der verschiedenen Zeitebenen. Einen ersten Zugang dazu bietet ihr ein Prolog, in dem sie sich mit drei frühen Filmen über den Ersten Weltkrieg beschäftigt: „The Big Parade“ (1925) von King Vidor und „Westfront 1918“ (1930) sowie „Kameradschaft“ (1931) von G. W. Pabst. An Vidors Film diskutiert die Autorin grundsätzliche Überlegungen zur Darstellung des modernen Krieges im Kino und bezieht dies auf Theorien des Schocks, die unter anderem von Walter Benjamin entwickelt worden waren. In der Lektüre von „Westfront 1918“ und „Kameradschaft“ verfolgt Noack diese Spur weiter in Richtung der Masse und der Krise: „In dem ‚Dyptychon’ Westfront und Kameradschaft manifestiert sich das Bewusstsein des Regisseurs, dass sich die deutsche Gesellschaft an einem krisenhaften historischen Punkt befindet. Wie Benjamin, zehn Jahre später, scheint auch er eine Beschleunigung der Geschichte zu empfinden, die er aber [Im Gegensatz zu Benjamin, TE], indem er in Kameradschaft Heilserwartungen an den technologischen Fortschritt knüpft, bejaht.“ (S. 41) Einen zweiten Bezug bildet für Noack das „Körpergedächtnis“, das sie in dem Prolog skizziert und über das sie ihre wichtigsten theoretischen Referenzpunkte einführt: Henri Bergson und Paul Ricœur.

Bergsons und Ricœurs Überlegungen zu Zeit, Erinnerung und Gedächtnis ziehen sich nun durch nahezu alle Untersuchungen, angefangen bei den frühen deutschen Nachkriegsfilmen und dem Exkurs zur Figur der weiblichen Leiche als allegorischem Bild für den Tod und die Vernichtung über die Filme der neuen Wellen in den 1960er-Jahren (am Beispiel von Alain Resnais, Andrej Tarkowskij und Luchino Visconti) und die Darstellungen von Überlebenden und ihrer Traumatisierung im US-amerikanischen Kino bis zu Filmen der 1970er- und 1980er-Jahre. Zwischen Prolog und Hauptteil markiert Noack einen entscheidenden Bruch, der sich nicht nur auf die historischen Ereignisse bezieht, sondern auch die theoretischen Modelle betrifft, mit denen sich die filmischen Erinnerungen entschlüsseln lassen: „es lässt sich feststellen, dass die Theorien zu Massenkultur und Erinnerung aus den 1920er- und 1930er-Jahren für diese Phase nicht mehr greifen.“ (S. 43)

Von nun an geht es um inneres Erleben, um Erinnerungen, die kontrolliert oder unkontrolliert an die Oberfläche der Gegenwart gelangen und als solche auf der Leinwand erscheinen. Erst im Verlauf der Filmanalysen präzisiert Noack dabei auch den Begriff des Erinnerungsfilms. Das führt gerade wegen ihres besonderen Vorgehens, die theoretische Reflexion nicht auf die Filme anzuwenden, sondern diese an ihnen zu entfalten, zu mancher begrifflicher Unklarheit. So wird erst spät klar, dass ein Merkmal der Erinnerungsfilme deren Arbeit mit Rückblenden ist, mit deren Hilfe die Erinnerung an die Vergangenheit in die Gegenwartshandlungen verwoben wird. Ein Film wie Rainer Werner Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“, den Noack diskutiert, arbeitet aber nicht mit Rückblenden, während Samuel Fullers „The Big Red One“ zwar wie Fassbinders Film eine Ver- und Bearbeitung von individueller wie kollektiver Vergangenheit ist, aber fast vollständig eine Rekonstruktion historischer Ereignisse darstellt.

In der Verbindung verschiedener philosophischer Positionen zu Zeit und Erinnerung und den genauen Filmanalysen holt Noack diese begriffliche Unschärfe jedoch immer wieder ein und es scheint beinahe so, als ob das Ephemere des Begriffs gerade die Spezifik dessen trifft, was am Umgang mit Erinnerung in den Filmen aufgezeigt werden soll. Dass dabei der Gegenstand der Erinnerung, die Erfahrung des Holocaust, den Noack im Sinne des Zivilisationsbruchs als Auslöser einer Krise der Wahrnehmung und der Welterfahrung deutet, nicht unscharf wird, verdankt sich insbesondere ihrer kritischen Einordnung und Bewertung der Filme. Immer wieder markiert Noack dazu offenkundige Auslassungen, macht darauf aufmerksam, wie und warum in den verschiedenen Epochen der filmischen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg die Juden als Opfer verschwinden oder ihre Position von anderen Opfererinnerungen abgelöst wird. Dabei beharrt Noack darauf, die diskutierten Filme in ihrer Entstehungszeit zu reflektieren und aus diesem gesellschaftlichen Kontext heraus auch die Begrenzung ihrer Perspektive nachzuvollziehen.

Besonders deutlich wird dies in ihrer Analyse der frühen Nachkriegsfilme, in der sie entschieden scheinbar durchgesetzte Positionen der kanonisierten Filmgeschichtsschreibung kritisiert und deutlich macht, dass entgegen landläufiger Vorstellungen, Erinnerung ein wesentlicher Faktor in diesen Filmen war. Besonders in der sehr genauen Studie zu Käutners „In jenen Tagen“ (1947) wird dies deutlich. Noack verteidigt die Filme damit gegen den Vorwurf einer totalen Verdrängung der Vergangenheit in den beginnenden 1950er-Jahren, aber sie fragt dennoch nach den Auslassungen und Leerstellen, die sich in Bezug auf die deutschen Verbrechen zeigen. Vielleicht hätte dies an weiteren, weniger bekannten Beispielen verdeutlicht werden können, die andere Erinnerungsperspektiven zeigen. Bearbeitet werden die Klassiker: „Die Mörder sind unter uns“, „Zwischen Gestern und Morgen“, „Liebe 47“. Filme, die andere Perspektiven zeigen – und damit auch anderen Erinnerungsmodi folgen – wie „Lang ist der Weg“ über jüdische Displaced Persons, die deutsch-amerikanische Produktion „The Search“ oder der polnisch-jiddische Film „Unzere Kinder“ könnten dazu angeführt werden. Auch dass der italienische Neorealismus hier nur beiläufig erwähnt wird, entspricht dem Eindruck des Kursorischen, der durch die fehlende Begründung der Filmauswahl und die exemplarisch entwickelten Theoriebezüge beim Lesen an einigen Stellen entsteht.

Dem stehen aber wichtige Wiederentdeckungen gegenüber, Filme, die Noack durch ihre Lektüre dem Vergessen entreißt oder erstmals direkt in den Zusammenhang von Weltkrieg und Holocaust stellt. Ihr Exkurs zu Filmen über Triebverbrechen, der unter anderem Peter Lorres „Der Verlorene“ in Erinnerung ruft, dem erst in den letzten Jahren die verdiente Aufmerksamkeit zugekommen ist, wäre hier zu nennen. Aber vor allem das Kapitel zu Samuel Fullers „The Big Red One“ ist eine filmhistorisch kontextualisierte und spannende Auseinandersetzung mit einem nahezu vergessenen Klassiker. In diesen Kapiteln zeigt sich auch die eigentliche Stärke von Noacks Studie. „Gedächtnis in Bewegung“ ist kein weiterer Beitrag zu einer distanzierten und theoretischen Bestimmung des kulturellen Gedächtnisses, das mechanisch wie ein Apparat konzeptualisiert ist und dem die Filme nur Anschauungsmaterial sind. Ohne Scheu auch Grenzen der Disziplinen und theoretischen Bezüge zu überschreiten, macht Noack die bewegten Bilder zu ihrem Ausgangspunkt. Sie setzen die Erinnerungen in Bewegung und sie bewegen die Zuschauer, so wie auch das Gedächtnis nicht statisch ist. Und noch zwischen den Bildern eröffnen sich Erinnerungsräume, die die Autorin zu füllen weiß. Die sehr genauen und präzisen Filmanalysen sind so die eigentliche Stärke dieser reflexiven Auseinandersetzung mit bewegten und bewegenden Erinnerungen.

Anmerkungen:
1 Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 199; vgl. die Rezension von Matthias Hass, in: H-Soz-u-Kult, 04.09.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-143> (21.08.2010).
2 Astrid Erll, / Stephanie Wodianka, Einleitung: Phänomenologie und Methodologie des ‚Erinnerungsfilms’, in: dies. (Hrsg.), Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin 2008, S. 1-20, hier: S. 8; vgl. die Rezension von Thomas Hammacher, in: H-Soz-u-Kult, 04.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-182> (21.08.2010).

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