E. Conze u.a. (Hrsg.): Adel in Hessen

Cover
Titel
Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert


Herausgeber
Conze, Eckart; Jendorf, Alexander; Wunder, Heide
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommision für Hessen 70
Anzahl Seiten
639 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Flügel, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Der vorliegende Band ist aus zwei Tagungen 2008 hervorgegangen und versammelt 27 Einzelbeiträge, die den Adel in Hessen in der Vielfalt seiner verschiedenen Gruppen, seiner Lebensführung und seinem Selbstverständnis vorführen. Ebenso wenig wie der Adel selbst bildet ‚Hessen’ ein konsistentes Untersuchungsobjekt. Vielmehr sind an relativ dauerhaften politischen Verbänden zu unterscheiden: die seit 1567 in die Linien Hessen-Kassel (Kurhessen) und Hessen-Darmstadt geteilte protestantische Landgrafschaft, das katholische Reichskloster, dann Fürstbistum Fulda, der katholische Deutsche Orden und die gemischtkonfessionellen kleinen Reichsgrafen und Reichsritter. Die Grafschaft bzw. das Herzogtum Nassau wird, soweit ich sehe, nur im Zusammenhang der Standesherren kurz erwähnt. Schließlich streuen auch die historischen Rahmenbedingungen des behandelten Zeitraums vom spätmittelalterlichen Alten Reich im 15. Jahrhundert über das konfessionelle Zeitalter der Frühen Neuzeit bis zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sehr stark. Heterogenität und Divergenz sind daher der erste, offensichtliche Befund dieses Unternehmens einer regionalen Erfassung des historischen Phänomens ‚Adel’. Leider wird die im Band enthaltene Informationsfülle nicht durch Register erschlossen.

Den Reigen der Beiträge eröffnet Christine Reinle mit einem Bericht zur sozialen und politischen Lage des landsässigen Adels in der ungeteilten Landgrafschaft im Zuge ihrer Konsolidierung zum fürstlichen Territorium im 15. Jahrhundert. Reinle neigt der These zu, dass der Ausbau der Landesherrschaft nicht gegen den Adel, sondern in Kooperation mit ihm erfolgte.

Von den folgenden Beiträgen zur Frühen Neuzeit sind mehrere den Reichsgrafen und Reichsrittern gewidmet. Gabriele Haug-Moritz behandelt die Einrichtung der Reichskreise und die Formierung der Grafenvereine. Unter den beigegegeben Karten ist diejenige zum Wetterauer Grafenverein aus dem Geschichtlichen Atlas von Hessen hervorzuheben. Zu diesen Wetterauer Grafen zählte Graf Anton von Ysenburg, der Mitte des 16. Jahrhunderts fünfzigjährig eine unstandesgemäße zweite Ehe einging. Über diesen Fall, seine zeitgenössischen Wahrnehmungen und Folgen berichtet Michael Sikora. Die politischen Nöte der Reichsritter um 1600 sind Gegenstand eines Beitrages von Richard Ninnes über die konfessionelle Bündnispolitik der Reichsritterschaften am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges.

Die in den letzten Jahren intensiver diskutierte adelige Hofgesellschaft ist nur mit einem Aufsatz von Christian Peter zum geistlichen Fürstenhof in Fulda nach dem Dreißigjährigen Krieg vertreten, an dem die umliegenden reichsritterschaftlichen Geschlechter zahlenmäßig dominierten. Das Thema der adeligen Pfründen, Posten und Karrieren behandeln auch der kurze Beitrag von Katharina Schaal zur Ballei Hessen des Deutschen Ordens und die prosopographische Untersuchung der Obervorsteher der ritterschaftlichen Stifte in der Landgrafschaft Hessen von 1532 bis 1810 durch Gerhard Aumüller.

Jutta Taege-Bizer stellt die Reichsgräfin Benigna von Solms-Laubach (1604-1702) vor, die eine bedeutende Rolle in der pietistischen Bewegung spielte, und analysiert den Gehalt und die Stoßrichtung der Hinwendung zum Pietismus im Adel. Für den Zweig der Reichsgrafen Solms-Rödelheim skizziert Tobias Busch die Grundzüge der adeligen Ökonomie in einer Miniatur-Landesherrschaft von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Rittergutswirtschaft dagegen behandelt Dieter Wunder in seinem sehr informativen Aufsatz anhand der 1658 geadelten Familie von Geyso und des 1696 in den Freiherrenstand erhobenen O. Ch. von Verschuer. In einem zweiten Aufsatz zu diesen neuadeligen Geschlechtern untersucht Wunder die soziale Integration der über den Militär- und Fürstendienst aufgestiegenen Familien in die altadelige hessische Ritterschaft bzw. in die fränkische Reichsritterschaft, die im 17. und 18. Jahrhundert im Gegensatz zum 19. Jahrhundert noch erfolgreich war. Zur Funktionsweise der lokalen Herrschaft des angesessenen Adels enthält der Band nur einen Aufsatz von Armand Maruhn über die Prozesse adeliger Grundherren mit den Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht im 16. Jahrhundert, die er in der Perspektive einer Verrechtlichung sozialer Konflikte im Fürstenstaat kritisch diskutiert. Laut Maruhn war es vor allem der Adel, der die landesherrliche Justiz für seine Interessen nutzte.

Die frühneuzeitliche Partizipation des Adels an Herrschaft und Verwaltung in der Form von Landtagen thematisiert in diesem Band vor allem Robert von Friedeburg mit seinem anregenden Beitrag zur historischen Semantik und politischen Ideengeschichte. Anhand der Konflikte zwischen der Regentin Amalie Elisabeth und den adeligen Landständen Mitte des 17. Jahrhunderts untersucht von Friedeburg die Verwendung und die Bedeutung der Selbstbezeichnung der Adeligen als ‚Patrioten’ und den recht kleinen politischen Handlungsspielraum adeliger Landsassen.

Dem Komplex der adeligen Kultur und Lebenswelt lässt sich eine weitere Gruppe von Aufsätzen zuordnen. Die spätmittelalterlichen Rechtsfiguren der Ganerbschaften, der Burgfrieden und Geschlechterverträge werden von Joachim Schneider auf ihren funktionalen Nutzen in der Frühen Neuzeit für die Selbstbehauptung der jeweiligen Geschlechter hin diskutiert. Stefan Krieb widmet sich anhand zweier Beispiele den Familienchroniken hessischer Adelsfamilien um 1600. Die Repräsentation des Landadels in seinen Bauten stellt Christian Ottersbach mit seinem Aufsatz zu Burg, Schloss und Herrenhaus vor. Einen weiteren – ausgeprägt skurrilen – Aspekt behandelt Sascha Winter in seinem Beitrag zur Mode adeliger Garten- und Naturbegräbnisse im späten 18. Jahrhundert. Den Aspekt Adel und Stadt diskutiert Andrea Pühringer in ihrem Aufsatz zum Frankfurter Patriziat, zur Errichtung städtischer Adelspalais und zur Entwicklung städtischer Zentren zum Typus der Residenzstadt. Erste Überlegungen zum Anteil des Adels am kulturellen Wandel in der Frühen Neuzeit präsentiert Holger Th. Gräf in seinem Beitrag zum Topos des ‚Musenhofes’, in dem sich der Blick auf die Entfaltung der sogenannten Hochkultur vom 17. bis ins 19. Jahrhundert richtet.

Den Adel in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts behandeln die übrigen sieben Beiträge. Ewald Grothe gibt einen Überblick über die Teilnahme der hessischen Ritter und Standesherren an den konstitutionellen Landtagen in Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel bis 1866. Gisela Ziedeck setzt diese Thematik fort durch ihre Studie zur althessischen Ritterschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte, insbesondere nach der Eroberung Kurhessens durch Preußen. Die ungeschickte Politik des regierenden Fürsten in den Verfassungskonflikten machte es der konservativen preußischen Regierung leicht, den Adel der neuen Provinz zu integrieren. Speziell den Standesherren im 19. Jahrhundert gilt ein Beitrag von Frank Jung. Diese neu geschaffene Gruppe erlangte trotz allen Lamentos über ihre untergegangene Herrlichkeit – wie viele andere grundbesitzende Adelige – durch die bürgerliche Gesellschaft eine für sie sehr vorteilhafte Sanierung ihrer Finanzen, die in vielen Fällen erst ihren sozialen Fortbestand sicherte. Dies zeigt auch der Beitrag von Alix Johanna Cord, die den Übergang der Grafen Solms-Rödelheim zur Gutswirtschaft am Beispiel des Gutes Wickstadt vorstellt.

Christoph Franke präsentiert seine empirische Studie zu den Nobilitierungen und Standeserhöhungen der Offiziere, Beamten, Gutsbesitzer und Unternehmer im Großherzogtum Hessen-Darmstadt von 1806 bis 1918. Er betont die soziale Distanz des alten Adels zu den Nobilitierten. Eine weitere Kontaktzone, in der das Verhältnis adeliger zu bürgerlichen Personen beobachtet werden kann, behandelt Eckhart G. Franz in seiner Übersicht zu den adeligen Land- und Kreisräten in der Staatsverwaltung Hessen-Darmstadts von 1821 bis 1945.

Die insgesamt im Band wenig behandelte Lebenswelt adeliger Frauen nimmt Ortrud Wörner-Heil mit der Frage nach den Möglichkeiten eines eigenständigen Frauenbildungswesens und der außerhäusigen Berufstätigkeit für adelige Töchter in den Blick, indem sie die Entwicklung des Reifensteiner Verbandes vorstellt, der seit 1887 in eigenen Schulen Hauswirtschaftslehrerinnen ausbildete.

Den Abschluss des Bandes bildet der Abdruck eines Vortrags von Eckart Conze über den Adel in der Gegenwart, die mit diesem Thema verknüpften Vorurteile und das Selbstverständnis des Adels, der mehr als je zuvor eine Erinnerungsgruppe darstelle.

Am Ende bleibt die Frage, was man mit diesem stattlichen Band anfangen kann. Der Versuch, über den regionalen Bezug die Komplexität des historischen Phänomens ‚neuzeitlicher Adel’ vorzustellen, ist sicherlich positiv zu bewerten. Aber es bleibt auch weitgehend bei einem enzyklopädischen Ansatz. Die Vielgestaltigkeit des Phänomens ‚Adel’ ist eindrücklich. Der Adel unterscheidet sich in dieser Hinsicht jedoch nicht von den frühneuzeitlichen Bürgern oder Bauern. In einem Sammelband bleiben immer auch Lücken. So habe ich zum Beispiel das Militärwesen als adeliges Handlungsfeld vermisst. Ebenso lässt sich über die Gewichtung streiten. Ich würde mir einen stärkeren Akzent auf der lokalen Herrschaft mit oder über Bauern wünschen und statt den einzelnen Adeligen lieber die Geschichte ganzer Geschlechter oder adeliger Häuser behandelt sehen. Der letzte Punkt verweist bereits auf die größte allgemeine Schwäche der deutschsprachigen Forschung, die dieser Band selbstverständlich nicht ausräumen, aber wieder einmal bewusst machen kann: Es fehlt an einer soliden Forschungstradition im Bereich der historischen Demographie.

Die vielfältigen Formen, Aspekte und Entwicklungen des historischen Phänomens ‚Adel’, aufgefächert am hessischen Beispiel, setzen sich nicht zu einem fassbaren Bild zusammen. Insbesondere die empirisch gesättigten Beiträge lesen sich zwar mit Gewinn. Sie stehen aber, da es an übergeordneten Fragen und Konzepten fehlt, oft für sich und sind deshalb nur für die Spezialisten des jeweiligen Themas in ihrem Gehalt zu beurteilen. Die Antwort auf Fragen nach dem Nutzen und der Ausrichtung des prestigeträchtigen Großunternehmens zum Adel in Hessen müsste naturgemäß die Einleitung von Heide Wunder und Alexander Jendorff liefern, welche die Probleme und Perspektiven der Forschung darzulegen verspricht. Sie ist jedoch einer der schwächsten Beiträge. Unter dem modern anmutenden Ausdruck ‚Regionalgeschichte’ wird die alte fruchtlose Fixierung der Landesgeschichte auf eine ‚raumbildende Wirkung’, hier des Adels, weitergeschleppt, die daher in keinem der folgenden Beiträge eine prominente Rolle spielt.

Es dominieren in der Einleitung ein deskriptiver Formalismus („Vielgestaltigkeit der adeligen Formationen“, „Konsistenz, Kohärenz und Differenz“ des Adels) und eine auffällige Urteilsabstinenz, die inhaltlich gefüllte Begriffe wie frühneuzeitlicher Fürstenstaat, adeliger Kastengeist oder bürgerliche Gesellschaft auffällig meidet. Auch der von Eckart Conze im Vorwort formulierte Hinweis, es gehe darum, wie sich verschiedene Adelsgruppen mit diversen Wechsellagen in Vormoderne und Moderne arrangiert haben, führt zu einem absehbaren Ergebnis: mal besser, mal schlechter. Es dominiert also – wie inzwischen im Fach üblich – die antiquarische Freude an der Deskription der Vielfalt hier des Adels und der Formen seiner Mobilität. Möglicherweise hätte man die Alles imprägnierende alteuropäische Rechtskultur zum organisierenden Zentrum des Vorhabens nehmen können, uns den neuzeitlichen Adel plausibel zu machen. So bleibt man am Ende ratlos, da es kaum Thesen gibt, denen man zustimmen oder widersprechen könnte. Fast kann man sich nach der Lektüre wundern, warum der alteuropäische Adel als Stand in den europäischen Revolutionen abgeschafft wurde.