H. Fischer-Tiné: Low and Licentious Europeans

Titel
Low and Licentious Europeans. Race, Class and ‘White Subalternity’ in Colonial India


Autor(en)
Fischer-Tiné, Harald
Reihe
New Perspectives in South Asian History
Erschienen
New Delhi 2009: Orient Blackswan
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
Rs. 695.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melitta Waligora, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität Berlin

Die Relevanz der vorliegenden Studie geht weit über den angegebenen geografischen und zeitlichen Raum – das koloniale Indien – hinaus. Der Autor platziert seine detailreiche Forschung in den theoretischen Kontext der „new imperial history“ (S. 9), zu dessen weiterer Klärung und Differenzierung er beitragen möchte. Es liegt in der Natur von Imperien, dass sie danach streben, ihre Kernregion zu überschreiten und sich mehr oder weniger global auszubreiten. Weder begann noch endete dieses Bestreben mit der europäischen Kolonisierung der Welt und somit reiht sich das britische Empire und seine Untersuchung in eine lange Geschichte und in eine Geschichtsschreibung ein, die man heute als „global studies“ bezeichnet. In dieser soll nun die „narrow metropolitian perspektive“ (S. 76) bisheriger Forschungen durch einen Ansatz überwunden werden, bei dem die Interaktion und wechselseitige Beeinflussung von Metropole und sogenannter Peripherie im Mittelpunkt stehen. Ziel ist es dabei keineswegs, die Dominanz-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu verharmlosen, sondern durch einen verbreiterten Blick auf die Vielzahl von Akteuren im Geschichtsprozess diesen selbst sowie die mannigfaltigen Hierarchien und Differenzierungen einerseits, und andererseits Verbindungen und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Im kolonialen Indien wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Annahme einer rassischen Überlegenheit der britischen Kolonialherren und der daraus abgeleiteten Aufgabe, die Einheimischen zu zivilisieren, zum wesentlichen Legitimationsgrund der Kolonialherrschaft und zugleich zu einem unlösbaren Problem. Bereits mit der Karikatur auf dem Buchumschlag bringt der Autor das heikle und in der bisherigen Forschung noch vernachlässigte Problemfeld auf den Punkt: Zwei weiße betrunkene Seeleute auf einem Marktplatz von Kalkutta, das sind zwei Vertreter der herrschenden ‚Rasse’, aber der unteren Klasse. Die konfligierenden Hierarchien von Klasse und ‚Rasse’ im kolonialen Indien sind das Thema der Habilschrift von Harald Fischer-Tiné, auf deren Grundlage die vorliegende Monographie entstanden ist.

Die Arbeit zeichnet sich durch eine klare Gliederung und durch die ebenso klaren Angaben über die Themen- wie Zielstellung, Methodik und Ergebnisse der einzelnen Kapitel aus. In einer Einführung wird ein Überblick über das Forschungsfeld und die Forschungsansätze gegeben, an die der Autor anknüpfen möchte. Hier sind vor allem der „interactional approach“, bei dem europäische und außereuropäische Geschichte und Gesellschaft zusammen analysiert werden (S. 8), und die schon erwähnte „imperial history“, die unter anderem von einem gemeinschaftlichen sozialen und kulturellen Raum zwischen Metropole und Kolonie ausgeht, zu nennen.

Dieser Einführung folgen sechs Kapitel sowie eine knappe Schlussfolgerung. Im Kapitel 1 „Difficult differences: British rule in India between material constraints and imperial ideologies“ skizziert der Autor Struktur und Entwicklung der white community und deren ideologische Konstrukte zur Bewältigung der immensen sozialen und ‚rassischen’ Differenzen und Hierarchien im kolonialen Indien und baut so den Rahmen für das Verständnis der nachfolgenden Einzelstudien. Indien galt, mit voller Absicht, nie als Auswandererkolonie und die Anzahl der „British-born Europeans“ und „allied races“ in Indien war im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung immer nur minimal. Diese europäische Gesellschaft in Indien war nun ihrerseits strikt sozial hierarchisiert und konnte demzufolge der einheimischen Gesellschaft nicht als einheitliche, moralisch wie kulturell überlegene ‚Rasse’ gegenübertreten, wie sie es gerne gehabt hätte. Einer dünnen herrschenden und sich aristokratisch verstehenden Schicht stand eine in den unteren Klassen sich vergrößernde Masse von Ladenbesitzern, Soldaten, Missionaren, Eisenbahnern, Bergleuten, Bediensteten, Wächtern, Musikern und Barmädchen als sozial noch akzeptabel gegenüber. Ganz unten und alles andere als akzeptabel rangierten die sogenannten white subalterns in einer vom Autor gezeichneten Pyramide (S. 59), darunter werden von ihm die Armen, Vagabunden, Kriminellen, Prostituierten, Soldatenwitwen, Waisen und Verrückten gefasst. Diese stehen im Fokus der vorliegenden Studie. Hier ist kritisch anzumerken, dass das Konzept des Subalternen im Unterschied zum Begriff der „Klasse“ ein stärker relationales Konzept ist und somit eine gewisse Unschärfe in sich birgt. Alle genannten Schichten und Klassen bis auf diejenigen an der einsamen Spitze können im Verhältnis zur jeweils sozial höher stehenden Gruppe als subaltern verstanden werden. Auch eine ganze Bevölkerung wie die indische galt gegenüber den Briten als subaltern, vom Fürsten bis zum Unberührbaren. Dennoch, und hierin liegt die Crux und das Interesse von Harald Fischer-Tiné, stand dieser subalternen, zudem sozial hierarchisierten indischen Bevölkerung eben nicht eine geschlossene britische Elite gegenüber, sondern eine klassenmäßig differenzierte Gesellschaft, die sich im Ganzen jedoch als überlegene ‚Rasse’ demonstrieren wollte. Und so entstanden in diesem Wirrwarr einerseits überraschende Klassenallianzen über Rassenschranken hinweg. Andererseits wurden die unteren sozialen Klassen der white community ähnlichen Zivilisierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen unterworfen wie die als unterlegen definierten ‚Rassen’, wobei dann wiederum in bestimmten Fällen die ‚Rasse’ die Klasse stechen konnte. Diesen komplexen Verflechtungen geht der Autor in den Einzelstudien nach, in denen er dann auch konsequent das Konzept der Klasse und das Konstrukt der ‚Rasse’ statt das der Subalternen verwendet. Zu überlegen wäre, ob der bei deutschen Historikern des Spätmittelalters (Hergemöller) und der frühen Neuzeit (von Hippel) benutzte Begriff „Randgruppen“ auch für die von Harald Fischer-Tiné ausgewählten Gruppen sinnvoll ist. Zumindest überlappen sich die jeweils in den Fokus genommenen Personengruppen: vagabundierende Seeleute (Kapitel 2), Arme (Kapitel 3), Prostituierte (Kapitel 4) sowie Kriminelle und Sträflinge (Kapitel 5).

Die bloße Existenz dieser Gruppen im kolonialen Indien – wo man erwartete, dass jeder Engländer „to act as if he was an ambassador of the queen“ (S. 182) – wurde als eine Gefährdung für die Ideologie der ‚rassischen’ wie moralischen Überlegenheit der Kolonialherren wahrgenommen. Daher mussten betrunkene, randalierende, faulenzende, bettelnde, zerlumpte oder irre „Weiße“ und, der Gipfel der Schande, europäische Prostituierte, ebenso einer civilising mission unterworfen werden wie auch die indische Bevölkerung. Fischer-Tiné spricht von ‚internal civilising mission’ und ‚external civilising mission’ (S. 134) und sein Argument lautet, dass diese sogenannten inneren Zivilisierungskampagnen einerseits in der Metropole von den dortigen herrschenden Klassen gegenüber ihren einheimischen Armen, Vagabunden etc. eingeübt und auf Indien übertragen wurden, also auf der Hierarchie der Klassen beruhten. Andererseits wurden sie im kolonialen Indien zur Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit der sogenannten äußeren Zivilisierung der indischen Bevölkerung notwendig, die auf einer ‚Rassen’-Hierarchie beruht. Beide bedingten sich wechselseitig, indem sie sich beeinflussten und voneinander lernten. Es ist zu begrüßen, dass der Autor einen Schwerpunkt darauf legt, „to (re-)introduce issues of class“, eine Dimension der Analyse, die „was neglected for a long time when historical research on colonialism and imperialism was dominated by issues of ‚culture’ and ‚discourse’.” (S. 184)

Es ist nun eine nicht hoch genug zu würdigende Leistung des Autors, wie es ihm in den Einzelstudien gelingt, aus einer Fülle von Literatur und vor allem aus Primärquellen, ein spannend zu lesendes und lebendiges Bild dieses sehr speziellen Milieus entstehen zu lassen. Dies glückt insbesondere auch durch die Schilderung von Einzelschicksalen, die den Weg in die Akten der Verwaltung, sei es die des Armen- oder Arbeitshauses, eines Gefängnisses oder Gerichtes gefunden haben. Der Autor muss allerdings zu seinem und unserem Bedauern eingestehen, dass es ihm nur selten möglich war, die Stimme der Betroffenen selbst zu finden und zu Gehör zu bringen (S. 371). So erhalten wir im wesentlichen einen Blick aus der „law and order“-Perspektive der Eliten auf diese Geschöpfe, die es gemäß des damaligen Verständnisses auf den Weg der bürgerlichen Tugenden zu bringen galt: Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit. Der Erfolg dieser Bemühungen war gleichwohl mager.

Beeindruckend ist, wie Harald Fischer-Tiné dem Anspruch einer „imperial history“ nachkommt und die Verflechtungen von Gesetzgebung, Einrichtung von Institutionen und der Herausbildung von Werten und Ideen sowohl in England als auch im kolonialen Indien anhand umfangreicher Literaturrecherchen aufzeigen kann. Er macht deutlich, dass „Imperial history“ nicht meint, dass in Metropole und Peripherie ein und dasselbe vonstatten ging, sondern vielmehr, dass sich durch den Blick auf beide Bereiche neben Gemeinsamkeiten vorhandene Differenzen schärfer offenbaren.

Im letzten Kapitel spielt Fischer-Tiné seine Trumpfkarte aus: die Heilsarmee. Anhand dieser frühen Form einer Internationalen Nicht-Regierungsorganisation lässt sich nochmals sowohl Metropole und Kolonie als gemeinsames epistemologisches Feld beackern als auch die historische Dimension der Globalisierung in den Blick nehmen (S. 325). Gegründet in England 1865 zur Überwindung der gewaltigen sozialen Kluft zwischen Armen und Reichen und der Gefahr des Auseinanderdriftens der Nation, auch religiös, wirkte die Heilsarmee ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts als Hüterin des Empires (S. 328).Sie entwickelte sich in Europa zu einem effizienten Akteur sowohl für soziale Reform als auch für soziale Kontrolle. Dieses Potential erkannten alsbald auch die Verwalter des Empires und es kam zu einer Kooperation zwischen Heilsarmee und dem Kolonialstaat in Indien mit dem Ziel „to teach the elementary lesson of obedience to unruly segments of society“, zum Beispiel für die sogenannten criminal tribes (S. 358/359). Erfahrungen aus der Arbeit im Londoner Großstadtdschungel fanden nun ihren Weg auch in die Gefängnisse und Arbeitshäuser des kolonialen Indien, sowohl für Zivilisierung der Einheimischen als auch der white subalterns.

Harald Fischer-Tiné hat immenses Material bewältigt, welches er dem Leser scheinbar leichtfüßig als spannende und äußerst informative Geschichten präsentiert. Mit seinem Buch leistet er einen wichtigen Beitrag zur „imperial history“ und vertieft unsere Kenntnisse zur Kolonial- und Globalisierungsgeschichte.

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