Einfluss der arabischen Wissenschaften im europäischen Mittelalter

: Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Mit einem Kommentar von Martin Kintzinger und Daniel König. Darmstadt 2010 : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ISBN 978-3-534-23221-5 VI, 265 S. € 29,90

: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Frankfurt am Main 2011 : S. Fischer, ISBN 978-3-10-000424-6 442 S. € 22,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Roland Barthes forderte 1968 in einem vieldiskutierten Aufsatz den Tod des Autors. Sein Ziel war es, das Autorsubjekt als alleinigen Schöpfer und Herrscher über den Text als Mittel der Analyse zu beseitigen. Eine Lektüre der beiden anzuzeigenden Bücher von Sylvain Gouguenheim und Jim al-Khalili lehrt: Der Autor ist zurück und stolpert durch seinen Text, was diesem in beiden Fällen nicht unbedingt zuträglich ist. Gouguenheims erstmals 2008 auf Französisch erschienene und nach einer längeren Zeit der Ankündigung von der „Wissenschaftlichen Buchgesellschaft“ in einer holprigen und nicht immer sicheren Übersetzung von Jochen Grube, um einen kritischen Kommentar von Martin Kintzinger und Daniel König ergänzten und leicht entschärften Fassung auf den deutschen Markt gebrachtes Werk dürfte zu den meistdiskutierten mediävistischen Büchern der letzten Jahre gehören. Auf eine positive Rezension in „Le Monde“ folgte ein vielstimmiger Aufschrei in der französischen Mediävistik. Nicht nur erschien eine Petition von Lehrenden und Studierenden von Gouguenheims Universität Lyon in „Télérama“ und ein Protestschreiben von 56 Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in „Libération“, sondern es kam zu zahlreichen kritischen und teilweise stark polemischen Bezugnahmen und Widerlegungen in der Form von Aufsätzen und Sammelbänden.1 Auch im Internet wurde das Buch verschiedentlich diskutiert und fand Zustimmung besonders in rechten Blogs, wie der Kommentar von Kintzinger und König dokumentiert. In Deutschland wurde diesem Skandal nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt, am ausführlichsten fiel wohl die Rezension von Thomas Ricklin in der „Historischen Zeitschrift“ aus.2 Beim Erscheinen der deutschen Ausgabe liegt so der seltsame Fall vor, dass das Buch bereits ausdiskutiert zu sein scheint. Warum die „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“ das in zahllosen inhaltlichen, methodologischen und argumentativen Details heftig und vielfach überzeugend kritisierte Buch in ihr Programm aufgenommen hat, ist nicht ersichtlich. Unbedingt begrüßenswert ist jedoch die Entscheidung, zwei Fachleute mit einem kritischen Kommentar zu betrauen, zumal dieser in aller Kürze die wesentlichen problematischen Punkte der Studie präzise herausarbeitet und kompetent diskutiert.

Jim al-Khalilis Werk ist in vielen Punkten das Gegenmodell zu demjenigen Gouguenheims: Jener ist ein an der Universität von Surrey lehrender Physiker, sein Buch ist im Kontext der Produktion einer BBC-Dokumentation „Science and Islam“ entstanden. Während Gouguenheim sich dem vermeintlichen Forschungskonsens entgegenstellt, das europäische Mittelalter verdanke seine Kenntnis des griechischen Wissens und der griechischen Philosophie vorrangig den Arabern, die ihm jene übermittelt hätten, will al-Khalili dem westlichen Leser die Zeit nahebringen, in der in seinen Augen die Wissenschaft nirgendwo so hoch entwickelt war wie im arabischen Raum. Aus der dezidierten Perspektive eines säkularen Autors geht es ihm dabei weniger um den Islam als verbindendes Element seiner Protagonisten, vielmehr meint er mit ‚arabischer Wissenschaft‘, dass sie von denen betrieben wurde, die unter der Herrschaft der Abassiden standen, weshalb etwa Andalusien nur knapp in einem Kapitel abgehandelt wird. In zahlreichen Ausflügen werden die wissenschaftlichen Leistungen der antiken Griechen, der Babylonier und Perser als Voraussetzung für die arabische Wissenschaft geschildert. Zwei Bücher also mit ganz unterschiedlichen kommunikativen Intentionen, die sich jedoch in manchen Punkten ähneln.

Dem Leser seien nun die wichtigsten Thesen und Ansichten der beiden Werke kurz vorgestellt, zuerst aus dem Werk Gouguenheims: 1) Nahezu alles wichtige philosophische und sonstige Wissen der Griechen eigneten sich die Gelehrten des lateinischen Wissens direkt aus antiken Quellen an, die arabisch-islamische Kultur spielte bei diesem Prozess keine Rolle. 2) Das griechische Erbe wurde vor allem von Christen bewahrt, sei es in Byzanz, auf Sizilien oder durch nestorianische Christen in Syrien. 3) Die lateinischen Christen suchten aktiv nach dem griechischen Erbe aufgrund ihrer typischen Neugier und ihres Wissensdurstes (idealtypisch verkörpert wird dieses Signum im Aristoteles-Übersetzer Jakob von Venedig), sie waren nicht darauf angewiesen, dass ihnen etwas durch die islamische Kultur übermittelt wurde. 4) Im Gegensatz dazu vermochten islamische Denker sich dem griechischen Erbe nur im Rahmen dessen anzunähern, was die Religion vorschrieb, weshalb alle Aneignung dieses Erbes im Islam selektiv und ungenügend war. 5) Eine zentrale historische Einheit sind Zivilisationen, die zwar Elemente früherer Zivilisationen entnehmen und parallel eigene Strukturen ausbilden, sich nach ihrer Etablierung in ihren Grundzügen jedoch nicht entwickeln, sondern einander nur blockhaft ablösen können. Während die lateinisch-christliche Zivilisation besonders auf kulturellem Gebiet Freiheit ermöglicht und so das griechische Erbe, in dem sie ‚wurzelt‘ (eine Lieblingsmetapher Gouguenheims), vollumfänglich nutzen kann, ist die islamische Zivilisation primär durch Orthopraxie geprägt, die wirkliche Freiheit im Denken und Handeln ausschließt und damit den Kern griechischen Denkens und Wissens nicht adaptieren kann.

Nun zu al-Khalili: 1) Das wichtige ‚wissenschaftliche‘ (für al-Khalili bedeutet das immer: das naturwissenschaftliche und mathematische) Wissen der Griechen und anderer antiker Kulturen wurde von der arabischen Kultur übernommen und weitergeführt. 2) In nahezu allen Punkten konnten arabische Gelehrte das übernommene Wissen auf bedeutende und teils sensationelle Weise erweitern, vertiefen und vor allem empirisch absichern. 3) Auf diese Weise wird die moderne westliche Wissenschaft zu ihrem Erbe, denn (natur-)wissenschaftliches Denken im Sinne eines auf Mathematisierung, Empirie und Forschung basierenden Wissens und Könnens wurde eigentlich erst von den Arabern entwickelt. 4) Das gesamte Europa blieb in dieser Zeit mit wenigen singulären Ausnahmen eine Zeit von Finsternis und Schmutz, und erst die Übernahme der arabischen Wissensbestände über Andalusien als Transmissionsriemen in der Renaissance und das Aufkommen rationalen Denkens im Humanismus ermöglichte das Aufblühen der modernen Wissenschaft, die in vielen Punkten arabische Erkenntnisse und Entdeckungen lediglich fortführen konnte. 5) Für historischen Fortschritt, der vor allem darin besteht, dass Wissenschaftler empirisch arbeiten, ist die Tätigkeit von Gelehrten erforderlich, denen von Herrschern und anderen Machthabern oder Staaten in der Moderne die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sie ihrer Neugier und ihrem Wissensdurst nachgehen können. Wichtig ist insbesondere, dass der Einfluss der Religion (aber auch der nicht-empirischen Metaphysik) zurückgedrängt wird. 6) Der nach dem goldenen Zeitalter der islamischen Wissenschaft einsetzende und bis heute andauernde Niedergang ist begründet im nun dominierenden religiösen Konservatismus und der mangelnden Qualität früher Drucker arabischer Texte in Italien, die verhinderte, dass die arabische Kultur den Buchdruck übernahm und von den damit verbundenen neuen Möglichkeiten der Wissensvermittlung profitierte.

Eine detaillierte Widerlegung der verschiedenen Annahmen und Behauptungen, mit denen beide Autoren zu ihren Thesen kommen, ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich – und wohl auch wenig sinnvoll, da beide Werke in vielen Punkten weit hinter den Stand heutiger Fachforschung zurückfallen. Hierbei handelt es sich nicht um wohlbegründete Korrekturen eines Forschungskonsenses, die in der Erschließung neuer Quellen begründet wären – Quellenstudium kommt bei al-Khalili praktisch nicht, bei Gouguenheim allenfalls beiläufig vor –, oder sich einer umfassenden Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung verdankten – Gouguenheim verzeichnet deren Positionen mitunter bis zur Unkenntlichkeit, es fehlen zentrale neuere Arbeiten, wie etwa das Nachwort von Kintzinger und König aufweist; al-Khalili hat ohnehin, soweit man dies aus den spärlichen Anmerkungen ersehen kann, wenig und obendrein vorrangig englische Einführungen und Überblicksdarstellungen gelesen. Korrekturen zu Gouguenheim bieten unter anderem die in Anmerkung 1 genannten Beiträge und das Nachwort zur deutschen Ausgabe mit zahlreichen Literaturangaben. Um den Überschwang al-Khalilis zu dämpfen, genügt meist bereits ein Blick in Standard-Handbücher und Lexika zu diesem Thema.

Der Schwerpunkt dieser Rezension beleuchtet dagegen eher die narrative Machart beider Werke, die die genannten Thesen plausibilisieren soll. Schon mit der sprachlichen Präsentation lässt al-Khalili für Differenzierungen und Ambivalenzen nur wenig Raum: Zumindest für den deutschen Leser gewöhnungsbedürftig ist es, wenn der Autor vor allem in den ersten Kapiteln des Buches ausführlich von seinen eigenen Erfahrungen während seiner Kindheit in Bagdad berichtet und auch den Abbildungsteil des Bandes mit zahlreichen Familienfotos versieht, ohne aber diesen autobiographischen Ansatz zu einem konsequenten Zugriff auf die präsentierten historischen Fakten auszubauen, etwa als persönliche Aneignung des Gewesenen. Er belässt es weitgehend bei Assoziationen. In der narrativen Aufbereitung wimmelt es von ‚größten‘, ‚bedeutenden‘, ‚berühmten‘ Wissenschaftlern, ‚klügsten Köpfen der Geschichte‘, die gerne als ‚Vater von X‘ apostrophiert werden. Die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte gleicht immerwährenden Olympischen Spielen, in denen al-Khalili den Akteuren aufgrund ihrer Leistungen Medaillen zuweist: Aristoteles ist der größte Philosoph der Antike (nicht Platon, denn ihm fehlte die empirische Fundierung seiner Erkenntnisse), al-Kindi ist der größte Philosoph zwischen Aristoteles und Descartes (nicht al-Farabi, da er kein Universalgelehrter war und er sich kaum für empirisches Wissen interessierte), al-Razi ist in der Philosophie „der am freiheitlichsten denkende Gelehrte des ganzen Islam“ (S. 241), Ibn al-Haytham ist der Vater der naturwissenschaftlichen Methode, Avicenna ist „der berühmteste Gelehrte des Islam“ (S. 279), Ibn Khaldun gilt „als unumstrittener Gründer und Vater der Sozialwissenschaft“ (S. 365), al-Biruni ist der größte der „drei herausragenden Gestalten der mittelalterlichen Wissenschaft“, noch vor Ibn al-Haytham und Avicenna (S. 295). Seine Begeisterung für die Leistungen arabischer Wissenschaft ist nicht zuletzt wegen seiner lebhaften Erzählweise mitreißend, schießt aber zu häufig weit über das Ziel hinaus. Für zahllose moderne naturwissenschaftliche, mathematische und philosophische Leistungen werden von al-Khalili arabische Vorwegnahmen aufgedeckt – und meist im folgenden Absatz deutlich relativiert. Die Art, wie er zu seinen Einschätzungen kommt, ist häufig nur ansatzweise nachzuvollziehen. Kurios wird es, wenn er sich der Frage widmet, ob al-Khwarizmi tatsächlich der Vater der Algebra sei oder lediglich bereits bekannte Einsichten popularisiert habe: „Um die Frage ein für alle Mal zu klären, unterhielt ich mich mit dem Mathematiker Ian Stewart, einem Bekannten, der an der University of Warwick tätig ist und sich schon seit langem für die Geschichte der Algebra interessiert.“ (S. 198) Stewart erbringt die definitive Lösung, indem er darauf verweist, dass al-Khwarizmi als erster allgemeine Prinzipien und Regeln zur Behandlung quadratischer Gleichungen formuliert habe. Inhaltlich ist diese Aussage natürlich durchaus plausibel, aber schon die grundlegende Vorstellung, solche Fragen nach historischen Entstehungsprozessen „ein für alle Mal zu klären“, mutet aus der Perspektive des Historikers methodologisch naiv an, außerdem wird hier (wie im gesamten Buch) übersehen, dass wissenschaftliche Leistungen in der Regel nicht als singuläre Taten großer Männer entstehen, sondern sich sukzessive entwickeln und schrittweise formuliert werden, wobei alle Versuche, feste Markierungen einzuziehen, zwar unterschiedlich gut begründet sein können, aber einen Rest Willkür nie zu verleugnen vermögen. Al-Khalili benennt sogar das entsprechende Problem, wenn er es als Notwendigkeit beschreibt, in der Darstellung wissenschaftlicher Entwicklungen herausarbeiten zu müssen, wer die wichtigsten Beiträge geleistet habe. „Deshalb ist es unvermeidlich, dass die vielen kleineren oder weniger wichtigen Fortschritte, die sich wahllos über Jahrhunderte der Wissenschaftsgeschichte verteilen, wie Blätter im Herbst auf einen hübschen Haufen gefegt werden, und obenauf sitzen jene überlebensgroßen Persönlichkeiten, denen man das Verdienst zuschreibt, ein Fachgebiet mit einem Schlag vorangebracht zu haben.“ (S. 320) Tatsächlich ist die heutige Wissenschafts-, Ideen- und Gelehrtengeschichte weiter, indem sie nicht mehr nach den großen Leistungen der großen Individuen fragt, sondern solche in soziale und diskursive Bedingungen integriert, in denen Gelehrte tätig werden. Dabei wird deutlich, dass diese nie gleichsam allein im Labor stehen, sondern stets in Netzwerken operieren und es zu komplexen Transformations- und Innovationsprozessen kommt.

Das zentrale methodologische Problem in al-Khalilis Darstellung liegt darin, dass er sich zwar Gedanken macht, was die naturwissenschaftliche Methode ausmacht (in seinen Augen ist hier primär die Empirie und die anschließende Formulierung und Überprüfung von Hypothesen zu nennen), solche Erwägungen in Bezug auf Wissenschaftsgeschichte aber offensichtlich nicht unternommen hat. Zwar schwärmt er beständig und zu Recht von den empirischen Leistungen arabischer Gelehrter, leider stützt er selbst seine Thesenbildung jedoch kaum auf Quelleninterpretation. Ein Regulativ, nach welchem zwischen konkurrierenden Forschungsmeinungen ausgewählt wird, gibt es nur in Form des narrativen Effekts: Zwar kennt al-Khalili Zweifel heutiger Historiker an der Bedeutung des titelgebenden ‚Hauses der Weisheit‘ al-Ma’muns, entscheidet sich aber, diesen keine weitere Beachtung zu schenken, da er um diese Einrichtung und die in Verbindung mit ihr wirkenden Gelehrten seine Blütezeit arabischer Wissenschaft, die den größten Teil des Buches einnimmt, verortet. Das Problem der geringen Zahl zeitgenössischer Belege für die genauen Tätigkeiten im Haus der Weisheit, die nicht unbedingt den großen Glanz bestätigen, den man ihm in späterer Zeit zugeschrieben hat, wischt er beiseite mit der zweifelhaften These, das „Fehlen von Beweisen sollte man nicht voreilig als Beleg für ihre Nichtexistenz interpretieren“ (S. 125). Was das für Beweise sein sollen, die nicht vorhanden sind, die aber trotzdem etwas belegen, ist nicht nachvollziehbar. Suggestiv überspielt wird das Problem, indem er von der Bibliothek von Alexandria berichtet und per analogiam zur Vermutung Anlass gibt, in Bagdad müsse es ebenso gewesen sein. In seiner Darlegung der Theorien seiner Protagonisten übersetzt er diese umstandslos in eine moderne Wissenschaftssprache, so dass der von al-Ma’mun in Auftrag gegebene Bau einer Sternwarte in Bagdad unversehens als „das erste staatlich finanzierte Großforschungsprojekt der Welt“ (S. 144) erscheint, das obendrein mit dem CERN in Genf in Verbindung gebracht wird. Einer historischen Epoche wie der Zeit al-Ma’muns wird auf diese Weise ihr historisches Eigenrecht abgesprochen, und sie wird ausschließlich in ihrer Bedeutung als Wegstein auf einer langen aufsteigenden Linie wissenschaftlichen Fortschritts, die in der Moderne vorläufig gipfelt, erkennbar.

Einem solch überraschend simplen Fortschrittsmodell hängen übrigens beide Autoren an: Al-Khalili zeigt sich sogar überzeugt, „dass wissenschaftlicher Fortschritt ein ununterbrochener Prozess ist“ (S. 317) – als hätte es Fleck oder Kuhn, um von neueren Wissenschaftstheoretikern wie etwa Latour, Knorr-Cetina oder Shapin gar nicht zu sprechen, nie gegeben. Immer wird irgendetwas entdeckt oder erkannt, weitergegeben und schließlich verbessert oder zur Vollkommenheit einer definitiven Erkenntnis gebracht. Dieser letzte Schritt wird in beiden Büchern der westlichen Moderne vorbehalten, Entdeckungen machten die Griechen, nach al-Khalili später insbesondere die Araber, das westliche Mittelalter war entweder eine Zeit der Adaption und Aneignung (Gouguenheim) oder der Übernahme (al-Khalili) bereitstehenden Wissens, und mit frühneuzeitlichen Denkern wie Kopernikus, Galilei, Hobbes und Descartes gewannen Wissenschaft und Philosophie erneut an Fahrt. Dass es Brüche, abgebrochene Entwicklungen, Vergessen, gescheiterte Unternehmungen und Denkweisen gibt, die nicht einfach linear in die westliche Moderne führen, scheint für al-Khalili gänzlich unvorstellbar zu sein, für Gouguenheim ist es vorrangig eine Eigenart der islamischen Kultur, wobei in seinem Modell zumindest ein zeitweises Verschwinden eines Teils des griechischen Wissens auch im lateinischen Frühmittelalter denkbar ist. Dafür stellt er sich die Aristotelesrezeption als linearen Fortschritt vom Frühmittelalter bis zum Ende seines Untersuchungszeitraums vor.

Ein abschließendes Wort zu al-Khalili: Begrüßenswert ist das Buch, da es an deutschsprachigen Darstellungen zur Geschichte der arabischen Wissenschaft und dem arabisch-islamischen Denken der ersten Jahrhunderte des Islam, insbesondere gerichtet an ein breiteres Publikum, mangelt und angesichts der öffentlichen, oft polemischen Auseinandersetzung um den Islam, seine heutige Rolle und seine Geschichte eine breitere Kenntnis dieser Epoche in hohem Maße wünschenswert ist. Problematisch aber ist, dass es in verschiedener Hinsicht in alte Klischees verfällt: Das betrifft den Verlauf der Wissenschaftsgeschichte als Aneinanderreihung der Leistungen großer Männer, das naive Fortschrittsmodell, ein Ausspielen von Religion und Wissenschaft gegeneinander und nicht zuletzt das Bild vom europäischen Mittelalter, das al-Khalili zeichnet. Trotz der Anstrengungen von Generationen von Mediävisten ist es hier wieder eine Epoche voller Düsternis, Schmutz und Aberglauben, und erst die Renaissance hat, mit arabischer Hilfe, das Fenster zum Licht der Neuzeit aufgestoßen.

Hat man al-Khalilis Buch vor Augen, ist man geneigt, der Kritik Gouguenheims, die Forschung rechne einseitig alle Kenntnisse des lateinischen Mittelalters den Arabern als Überlieferern an und sehe den Islam damit zu Unrecht als Grundstein für das kulturelle und wissenschaftliche Erwachen Europas, zuzustimmen und seinem Gegenentwurf eine Berechtigung nicht abzusprechen. Allein: Dieser behauptete Forschungskonsens existiert in der mediävistischen Fachforschung nicht, er ist ein Konstrukt Gouguenheims, das er durch geschickte Zitatauswahl und Ignorieren aller anderen Aussagen erzeugt. Einleitend setzt er ein Zitat Alain de Liberas (den die Übersetzung zu einer Frau macht), in dem den Arabern bei der Entstehung der kulturellen Identität Europas „eine entscheidende Rolle“ zugewiesen wird. Es stammt aus dessen brillanter, essayistischer Studie „Denken im Mittelalter“3, in der neben vielen anderen Themen die Bedeutung der Überlieferung antiken Denkens durch die Araber und der Beitrag islamischer Denker zur mittelalterlichen Philosophie an einigen Beispielen aufgezeigt wird, wobei die eigene liberale politische Intention deutlich erkennbar ist. Repräsentativ für die neuere Forschung ist dieses, seinen Reiz aus Zuspitzungen ziehende Buch sicherlich nicht, und so wird in de Liberas Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Philosophie (unter Einschluss der jüdischen und islamischen) auch der angeblich fast vergessene Aristoteles-Übersetzer Jakob von Venedig gewürdigt,4 dem Gouguenheims Studie wegen dessen angeblichen Wirkens auf dem Mont Saint-Michel, das der Autor in seinem knappen Nachwort zur deutschen Ausgabe allerdings selbst für allenfalls bedingt wahrscheinlich hält, seinen Titel verdankt. In Bezug auf die Philosophie darf jedoch als gesicherter breiter Forschungskonsens gelten, dass Wissen und Texte der Griechen vor allem über Andalusien aus dem arabischen Raum ins lateinische Europa gelangten und dass außerdem islamische Philosophen wie Avicenna und Averroes einen erheblichen Einfluss auf die lateinische Philosophie und Theologie ab dem 13. Jahrhundert erlangten. Zur Behauptung, dass abgesehen von der Verbreitung der vor allem durch Christen übersetzten antiken Texte „so gut wie kein kultureller Austausch zwischen der mittelalterlichen Christenheit und dem Islam“ (S. 164) stattgefunden habe, kann Gouguenheim ohnehin nur gelangen, weil er seine Studie vor dem 13. Jahrhundert enden lässt. In der Zeit zwischen Thomas von Aquin und Ludwig dem Heiligen habe „mit dem Beginn der modernen Wissenschaft eine neue Etappe der europäischen Geschichte [begonnen], und diese Wissenschaft ist den Europäern allein gutzuschreiben“ (S. 166). Ein einziger Blick in ein beliebiges neueres Standardwerk zur Philosophie- und Theologiegeschichte des Mittelalters oder in Kintzingers Kommentar genügt, um zu erkennen, dass diese Auffassung schlicht unhaltbar ist; was genau mit dem Beginn der modernen Wissenschaft gemeint sein soll, bleibt obendrein unklar.

Berechtigt ist Gouguenheims Darlegung insofern, als über die Entdeckung des islamischen Denkens des Mittelalters durch westliche Forscher in den letzten Jahrzehnten andere Überlieferungs- und Kontakträume zu sehr an den Rand gedrängt wurden: Das gilt insbesondere für Byzanz, das der französische Mediävist mit großem Nachdruck als Überlieferer antiker griechischer Schriften in Erinnerung ruft. Auch dass es neben der Überlieferung durch den islamischen Kulturraum einen direkten Zugriff auf griechische Texte gab, obendrein die alten Vorstellungen eines Kulturabbruchs mit dem Auslaufen des römischen Reiches unzutreffend sind, ist richtig – und der Fachforschung durchaus bekannt. Gleichwohl fehlen hier präzise Detailanalysen zu solchen Überlieferungs- und Übersetzungsprozessen, wobei die Bedeutung von Kompendien und Zitatensammlungen zu berücksichtigen ist, die diese Studie vollkommen übersieht. Überschätzen sollte man die Griechischkenntnisse im lateinischen Europa in ihrer Quantität und Qualität allerdings nicht, wozu Gouguenheim neigt.

Das Problem des Buches und der Grund für die teilweise heftig erregten Reaktionen seiner Kollegen ist jedoch die Kehrseite dieser These einer eigenständigen Aneignung der griechischen Tradition: Gouguenheim bestreitet nahezu jeden arabisch-islamischen Beitrag selbst zur Überlieferung, hebt allein den Beitrag christlicher Übersetzer im arabischen Herrschaftsgebiet hervor und postuliert ausschließlich die Christen in Europa „als Erben des antiken Griechenland“ (S. 102), während die arabisch-islamische Kultur nur „unter Vorbehalt als Erbin der hellenischen Gedankenwelt gesehen werden“ (S. 66) könne. Die Übermittlung des griechischen Wissens an die islamische Welt sei fast ausschließlich christlichen Autoren geschuldet: „Der muslimische Osten verdankt fast alles dem christlich besiedelten Vorderen Orient. Und gerade diese Tatsache wird heute in der muslimischen wie in der europäischen Welt häufig und gerne verschwiegen.“ (S. 82) Er konstatiert obendrein, freies Denken und eine dem griechischen Erbe eigene Rationalität habe es allein im lateinischen Europa gegeben, während die arabisch-islamische Welt die griechische Überlieferung stets durch das enge Sieb der Religion gepresst und daher ihres eigentlichen Wesens entkleidet habe. Als griechisches Erbe versteht er vorrangig die Schriften des Aristoteles, während die Rezeption des Neuplatonismus, die fälschlich als Eigenart des Islam präsentiert wird, negativ bewertet wird. Insgesamt sei für die islamische Zivilisation Griechenland aus religiösen und politischen Gründen „eine total fremde Welt“ (S. 102) gewesen. Die in zahllosen Gebieten stattfindende Rezeption antiker Schriften und antiken Wissens im arabischen Raum wird auf diese Weise einfach ignoriert. Und wenn Gouguenheim die Bedeutung einzelner Gelehrter wie Averroes anerkennen muss, beeilt er sich hinzuzufügen, dass auch diese das griechische Erbe immer durch ihren Glauben verzerrt gesehen hätten. Außerdem habe es sich in der islamischen Welt stets um eine kleine Elite gehandelt, die sich mit dem antiken Wissen beschäftigt habe, Breitenwirkung habe dies aber nie erhalten, während im lateinischen Westen offensichtlich ein tief verankerter Wissensdurst eine unvoreingenommene, von Freiheit getragene Aneignung des griechischen Erbes ermöglicht habe, zu dem eine Art Wahlverwandtschaft bestand, weil das Christentum selbst hellenisiert sei (was selbst eine nicht unumstrittene Forschungsmeinung darstellt). Dieses Konzept äußert sich etwa in eingängigen Bildern wie: „Der Marsch nach vorne begann also mit einem zur griechischen Antike rückwärts gerichteten Blick, unter deren zunehmenden Einfluss man schon deshalb geriet, weil aus ihr auch das Christentum hervorgegangen war. […] Europa verdankt dieser Suche nach antikem Wissen seinen kritischen Geist, der wiederum für die Prüfung der antiken Texte selbst verantwortlich war“ (S. 58). Die Einseitigkeiten dieses Bildes sind unübersehbar, ebenso die der Thesenbildung geschuldeten Verzeichnungen: Dass auch im lateinischen Westen eine Rezeption griechischer Texte zumeist in einem religiösen Rahmen erfolgte und dem Glauben widersprechende aristotelische Überzeugungen die Zeitgenossen vor erhebliche denkerische Probleme stellten, wird ebenso übersehen wie die Tatsache, dass auch im lateinischen Westen die Liebe zur griechischen Überlieferung kein Massenphänomen war, sondern auf eine kleine Schicht Gelehrter begrenzt war, die mitunter von geistlichen und weltlichen Herrschern unterstützt wurde. Obendrein gab es immer religiös motivierte Schwierigkeiten für eine Rezeption heidnischer Philosophie, umgekehrt jedoch eine christlich gesteuerte Hinwendung zu allem Wahren, da wahres Wissen gleich welcher Herkunft mit einer göttlich garantierten Weltordnung assoziiert wurde. Eine Zwangsläufigkeit, die durch das Bild des christlichen Wissensdurstes (als habe es die christliche ‚curiositas‘-Kritik nie gegeben) suggeriert wird, dass sich der lateinische Westen seines griechischen Erbes annahm, gab es nie. Durch die Vorstellung, Zivilisationen seien in ihren Grundstrukturen festgelegt und könnten selbst durch Kulturtransfer und Kulturkontakt nicht wesentlich verändert werden, wird eine Notwendigkeit historischer Prozesse unterstellt, die historische Offenheit und Kontingenz zumindest auf der Makroebene nicht zulässt. Die christlich-lateinische wie die arabisch-islamische ‚Zivilisation‘ werden von Gouguenheim zu einheitlichen Kulturräumen stilisiert, was dem Bild der aktuellen Fachforschung diametral entgegensteht. Die Maßstäbe, nach denen Wertungen historischer Ereignisse vorgenommen werden, sind ausschließlich abhängig von der Intention des Autors: Was für den lateinischen Westen lobenswert ist, etwa die Lektüre und Übersetzung griechischer Texte, ist im islamischen Bereich bloß sinnentleertes Überliefern fremden Gedankenguts. Mit den methodologischen und faktischen Unzulänglichkeiten seiner Arbeit wird Gouguenheim kaum erreichen, was er als sein Anliegen beschreibt: Eine vorurteilsfreie Diskussion der komplexen Überlieferungs- und Aneignungsprozesse, die das Mittelalter mit der Antike verbinden. Einen Ansatz dazu bietet dagegen der Kommentar von König und Kintzinger.

Anmerkungen:
1 Max Lejbowicz (Hrsg.), L’Islam médiéval en terres chrétiennes. Science et idéologie, Villeneuve d’Ascq 2008; Philipp Büttgen u.a. (Hrsg.), Les Grecs, les Arabs et nous. Enquête sur l’islamophobie savante, Paris 2009; Alain de Libera, Aristote au Mont-de-Piété – Sylvain Gouguenheim, Aristote au Mont-Saint-Michel. Les racines grecques de l’Europe chrétienne, in: Critique 740/741 (2009), S. 134–145; Max Lejbowicz, Chroniqueur au Monde et chercheur au CNRS. Aperçus sur une récente polémique, in: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 5.1.2009, <http://crm.revues.org/11113?&id=111131113> (31.08.2011).
2 Thomas Ricklin, Der Fall Gouguenheim, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 119–135.
3 Alain de Libera, Denken im Mittelalter, München 2003.
4 Alain de Libera, La philosophie médiévale, Paris 2006, S. 358–360.