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Titel
Romania si Europa [Rumänien und Europa]. Acumularea decalajelor economice (1500–2010) [Die Anhäufung der ökonomischen Rückständigkeit]


Autor(en)
Murgescu, Bogdan
Reihe
Historia
Erschienen
Anzahl Seiten
523 S.
Preis
44.95 RON
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Luminita Gatejel, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

Unter dem Titel „Rumänien und Europa. Die Anhäufung der ökonomischen Rückständigkeit“ hat Bogdan Murgescu eine umfassende Wirtschaftsgeschichte Rumäniens vorgelegt, die sich von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart erstreckt. Seine These offenbart schon der Titel, den im Verlauf der Jahrhunderte immer größer werdenden Abstand zwischen der ökonomischen Leistung Rumäniens und den meisten anderen europäischen Staaten, welche er anhand von makroökonomischen Indikatoren feststellt. Seine Hauptquellen sind die von Paul Bairoch, Angus Maddison und David F. Good gesammelten statistischen Datensätze, die er punktuell mit historischen rumänischen Datensätzen ergänzt. Der Autor bemüht sich soweit wie möglich den Human Development Index (HDI – Index für menschliche Entwicklung) der Vereinten Nationen zu berücksichtigen, der neben dem Bruttonationaleinkommen auch die Lebenserwartung und das Bildungsniveau eines Landes in Betracht zieht. Jedoch wurden diese Daten nur für die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert systematisch erhoben, so dass er sich hauptsächlich auf das Bruttoinlandsprodukt als Vergleichswert stützen muss.

Um über die Aussagekraft makroökonomischer Daten besser urteilen zu können, bettet Murgescu diese in sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen ein, die das politische System, die politische Ab- bzw. Unabhängigkeit eines Territoriums, den Einfluss der Religion auf die wirtschaftliche Leistung, das Bildungsniveau, die internationale Wirtschaftskonjunktur in einer gegeben Zeitspanne mit einbeziehen. Methodologisch stützt er sich auf die historische Komparatistik, von der er sich eine präzisere Einschätzung des rumänischen Fallbeispiels erhofft, indem er gesamteuropäische Gemeinsamkeiten und Unterscheide abwägt. Systematisch führt er Vergleiche mit Dänemark, Serbien und Irland, mit drei Ländern, die viele Ähnlichkeiten mit Rumänien, aber auch erhebliche Unterschiede aufweisen.

Das erste Kapitel des chronologisch aufgebauten Buches beschäftigt sich mit der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, als die zukünftigen Territorien Rumäniens in imperiale Gefüge eingebunden waren, sei es als Teil des Osmanischen beziehungsweise oder des Habsburgerreiches. Dabei beschränkt sich sein Fokus auf die beiden osmanischen Donaufürstentümer mit nur kurzen Seitenblicken auf die Provinzen Siebenbürgen und Banat, ohne dafür eine triftige Erklärung zu bieten. Murgescus Schlussfolgerung widerspricht dem negativen Tenor der bisherigen Forschung, indem er diese Periode mit einem konstanten wirtschaftlichen und demographischen Wachstum in Verbindung setzt. Allerdings handele es sich um ein extensives Wachstum und nicht um eins, das sich auf der Steigerung der Produktivität beruhe. Im europäischen Vergleich stellte es sich heraus, dass die zukünftigen rumänischen Provinzen am Ende der Untersuchungsperiode an einem Scheideweg standen und von nun an zwischen entwickelten und den peripheren Provinzen zu unterscheiden ist, das heißt zwischen denjenigen, die es schafften, das extensive Wachstum in eine intensive Produktionssteigerung umzuwandeln und jenen, denen dies nicht gelang (S. 100f.).

In diesem Zusammenhang fällt Murgescus Urteil zum 19. Jahrhundert vernichtend aus, das er als eine Zeit bezeichnet, in der die wirtschaftliche Rückständigkeit zu Kerneuropa immer größer wurde. Hier ist seine datengestützte Wertung konträr zur gängigen Forschung in Rumänien, die die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts überwiegend positiv bewertet, weil sie den Nationsbildungsprozess vorangetrieben hätte. Dabei hebt der Autor durchaus auch positive Aspekte hervor, wie den Prozess der vorangetriebenen Verstädterung und der damit einhergehende Lebensstilwandel oder die neue Exportorientierung der wirtschaftlichen Aktivität. An dieser Stelle wäre es für den Leser hilfreich gewesen, den kulturellen Einfluss des „Westens“ auf Südosteuropa, der die zuvor erwähnten Prozesse beschleunigte, in einen breiteren historiographischen Kontext zu stellen durch das stärkere Einbeziehen von neuerer Literatur zu kulturellen Transferprozessen. Trotzdem konnte diese angehende Modernisierung den wirtschaftlichen Output nur bedingt ankurbeln, weil sich diese auf eine dünne städtische Elitenschicht beschränkte. Der Vergleich mit den anderen drei europäischen Beispielen zeigt, dass versäumte Wirtschaftsreformen und mangelnde Investitionen in das Bildungssystem es nicht möglich machten, den Gewinn aus den steigenden Getreide- und Erdölexporten an breitere Gesellschaftsschichten zu verteilen.

Der negative Tenor bezieht sich auch auf die Zwischenkriegszeit, für die der Autor auf die widersprüchliche wirtschaftliche Entwicklung dieser turbulenten Zeiten hinweist und ein noch größeres Zurückbleiben zwischen Rumänien und den anderen europäischen Ländern feststellt. Sicherlich hatten die Exportflaute bei Agrarprodukten und die Weltwirtschaftskrise negative Auswirkungen auf den Haushalt, jedoch sieht Murgescu den Hauptgrund für das schlechte wirtschaftliche Abscheiden des Landes in den politischen Entscheidungen. Insbesondere der Wirtschaftsprotektionismus, den die Nationalliberale Partei nach dem Ersten Weltkrieg befürwortete, führte zu einer Blockade, weil die eigenen Finanzmittel und das technische Know-how nicht ausreichten, um die vorhandenen Rohstoffe, speziell die Erdölreserven, zu erschließen und anschließend zu vermarkten. In der Folge verschärfte sich das Stadt-Land-Gefälle und die technischen Investitionen in der Wirtschaft blieben sehr bescheiden. Speziell die Landwirtschaft, noch immer der Hauptwirtschaftszweig Rumäniens, schnitt im europäischen Vergleich besonders schlecht ab. Auch nach der Milderung der Weltwirtschaftskrise bis zum Kriegsausbruch änderte sich wenig an diesen Grundsatzproblemen, trotz einer Wende in der Investitionspolitik und einem bescheidenen Wirtschaftswachstum.

Die Formierung des Ostblocks nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für Rumänien die Einführung einer Wirtschaftspolitik nach staatssozialistischem Modell. Die unmittelbaren Folgen waren der Anstieg des Industrieanteils auf bis zu 55% der Gesamtproduktion und eine rapide Urbanisierung. Auch die Bildungschancen der Bevölkerung wurden sichtlich verbessert und der Analphabetismus so gut wie überwältigt. Murgescu konstatiert somit einen radikalen Einschnitt in die ökonomische Entwicklung des Landes, das sich von einem Agrarstaat zu einer wirtschaftlichen Struktur entwickelte, die nicht nur auf die industrielle Rohstoffgewinnung setzte, sondern zunehmend auch verarbeitende Industriezweige wie die Metallindustrie und Chemieindustrie aufweisen konnte. Trotz der nicht zu übersehenden Erfolge äußert sich der Autor kritisch zu den Kosten und den langfristigen Wirkungen dieser Transformation. Er teilt die Periode des Staatssozialismus in zwei zeitliche Abschnitte ein, einerseits die ersten zwei Jahrzehnte nach der kommunistischen Machtergreifung, die von einem dynamischen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet waren und die Zeit ab den 1970er Jahren, in denen die bevorzugte Investitionspolitik in die Schwerindustrie kein Wachstum mehr generierte und schließlich zum wirtschaftlichen Verfalls Rumäniens kurz vor der Wende führte. Die Vernachlässigung der Infrastruktur und des Dienstleistungsbereichs, der überdimensionierte Bereich der Schwerindustrie und Großprojekte von unklaren (zwiespältigem) wirtschaftlichen Nutzen erklären das zunehmend schlechte makroökonomische Abschneiden im europäischen Vergleich.

Das letzte kurze Kapitel verfolgt den wirtschaftlichen Zick-Zack-Kurs Rumäniens über den EU-Beitritt bis zum Jahr 2010. Wegen der zeitnahen Ereignisse legt sich der Autor auf kein abschließendes Urteil fest, konstatiert aber große Widersprüche zwischen den eingeleiteten Reformen in Richtung Marktwirtschaft und der Beibehaltung der existierenden Wirtschaftsstrukturen oder zwischen Korruption und rechtsstaatlicher Transparenz.

Dem Autor ist ein sehr nützliches Buch gelungen, welches sich als Referenztitel in der rumänischen Historiographie durchsetzen wird. Die systematische Bereitstellung und Verarbeitung historischer makroökonomischer Datensätze ist seine größte Stärke. Auch der kritische Umgang mit dem historischen Datenmaterial, dessen Entstehung immer wieder angemessen hinterfragt und sorgfältig historisiert wird, ist sehr positiv zu beurteilen. Auch ihre Einbettung in sozial- und kulturgeschichtliche Kontexte ist sehr hilfreich, wobei es auffällt, dass bestimme Aspekte wie die Bewältigung des Alltags im Staatsozialismus oder die Problematik der Kulturtransfers in der historiographischen Debatte weit mehr Erkenntnisse generiert haben, als diejenigen auf die Murgescu sich bezieht. Bei dieser punktuellen Kritik ist jedoch zu unterstreichen, dass das Hauptaugenmerk des Buches auf der Einschätzung der langfristigen ökonomischen Performanz Rumäniens im europäischen Kontext liegt und dieses Versprechen an den Leser löst er voll und ganz ein.

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