D. Göktürk u.a. (Hrsg.): Transit Deutschland

Cover
Titel
Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Eine Dokumentation


Herausgeber
Göktürk, Deniz; Gramling, David; Kaes, Anton; Langenohl, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
878 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Berlinghoff, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Zu Beginn der 1990er-Jahre, in einer Zeit aufgeheizter politischer Kontroversen im Bundestag und rassistischer Morde im frisch wiedervereinigten Deutschland, veröffentlichte Klaus J. Bade gemeinsam mit der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung die in den Folgejahren mehrfach neu aufgelegte Dokumentation „Ausländer – Aussiedler – Asyl in der Bundesrepublik Deutschland“. Dort versuchte er, die Debatte durch Aufklärung zu beruhigen.1 Neben einer fundierten Einleitung in die zu dieser Zeit häufig wenig differenzierten Schlüsselbegriffe der Debatte dokumentierte er diese anhand ausgewählter Texte aus der publizistischen Diskussion.

Gute 20 Jahre später, die Republik diskutiert inzwischen über „die Integration“ von „Menschen mit Migrationshintergrund“, erscheint erneut eine Dokumentation über den deutschen Einwanderungsdiskurs in Form einer Dokumentensammlung. Es handelt sich um die erweiterte deutsche Fassung des bereits 2007 veröffentlichten „Germany in Transit“.2 Während die erste Auflage die 50 Jahre vom ersten Anwerbeabkommen 1955 bis zum Zuwanderungsgesetz 2005 in den Blick nahm, reichen die nun vorliegenden Dokumente bis ins Jahr 2010. Doch nicht nur zeitlich geht der Band weit über Bades Textsammlung hinaus. Mit dem Anspruch, die Einwanderungsgeschichte „beider Deutschlands“ (S. 17) zu dokumentierten, greift die Arbeit über den westdeutschen Diskurs hinaus und bindet beide Genealogiestränge der gesamtdeutschen Debatte mit ein. Die Aufeinanderbezogenheit der beiden deutschen Staaten vor 1990 wird auch in diesem Bereich mehr als deutlich.

Ausgehend von der Annahme, „dass deutsche Gegenwartskultur nicht ohne Kenntnis von Migrationsdebatten verstanden werden kann“ (S. 19), wollen Göktürk, Gramling, Kaes und Langenohl (im Folgenden Göktürk, u.a.) ein historisches Archiv zur Verfügung stellen. So sollen aus unterschiedlichen Perspektiven Debatten über das Selbstverständnis der „multiethnischen Gesellschaft […] in Deutschland“ (S. 17) angestoßen werden: „Intendiert ist ein Netzwerk von Kommentaren, die ihrerseits neue Kommentare auslösen“ (S. 19). Es handelt sich also, ebenso wie bei der 2007 von der US-amerikanischen Historikerin Rita Chin vorgelegten Studie3, um eine kulturhistorische Betrachtung der deutschen Einwanderungsgeschichte. Im Gegensatz zu Chin, die sich auf literarische Werke konzentrierte, beziehen Göktürk, u.a. auch Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Liedtexte, wissenschaftliche Aufsätze, amtliche Bekanntmachungen, politische Reden und Rechtstexte in ihre Sammlung mit ein.

Ihren kulturhistorischen Ansatz begründen Göktürk, u.a. nicht nur mit einer vorsichtigeren, multiperspektivischen Annäherung an die deutsche Migrationsgeschichte, die sich vermeintlichen Eindeutigkeiten versage, sondern auch mit zwei auf den ersten Blick widersprüchlichen Befunden. Einerseits hätten sich die Integrationsdiskurse in Deutschland stets auf den Pfaden der Kulturalisierung bewegt: So habe beispielsweise in der Debatte um Einbürgerung in den späten 1990er-Jahren zwischen den Kontrahenten über die Voraussetzung der kulturellen Integration grundsätzlich Einigkeit bestanden. Lediglich die Indikatoren einer „erfolgreichen“ Integration seien umstritten gewesen. Andererseits habe die kulturelle Arbeit von Migranten und „Menschen mit Migrationshintergrund“ sehr viel früher und umfassender mehrheitskulturelle Anerkennung erfahren, als die Künstler/innen ihre politische Anerkennung als deutsche Staatsbürger: „Kultur diente als Ersatz für politische Repräsentation und soziale Gleichstellung“ (S. 33). Dadurch hätten sich die kulturellen Grenzen zwischen „fremd“ und „eigen“ früher und anders verschoben als in der politischen Debatte.

Die engagiert verfasste Einleitung zeichnet auf gut 20 Seiten die Immigrationsdebatten von der „Ausländerbeschäftigung“ und der „sozialistischen Bruderhilfe“ über „Türkenproblem“ und „Überfremdungsgefahr“ bis hin zu „Doppelpass“, „Leitkultur“ und „transnationalen Identitäten“ in Bundesrepublik und DDR nach. Sie liefert damit eine mögliche Deutung der präsentierten Dokumente. Dabei scheuen sich Göktürk, u.a. nicht vor starken Thesen: Die „klare Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘, zwischen dem Eigenen und dem Fremden [sei] eine grundlegende Voraussetzung von deutschem Selbstverständnis“ (S. 23). Diese sei zwar durch das offizielle Bekenntnis, Deutschland sei ein Einwanderungsland, seit einigen Jahren infrage gestellt worden, präge den öffentlichen Diskurs jedoch weiterhin. Das ist zwar überzeugend, doch bleibt die Frage offen, ob dies eine deutsche Besonderheit darstellt oder ob nicht die Trennung zwischen Eigenem und Fremden eine Grundvoraussetzung der meisten modernen Gesellschaften, wenn nicht von Kollektiven insgesamt ist.

Der Text bewegt sich auf der Höhe aktueller kultur- wie sozialwissenschaftlicher Migrationsforschung, beispielsweise wenn festgestellt wird, dass das Eingeständnis, „Einwanderungsland“ zu sein, bereits bei seiner Verlautbarung überholt gewesen sei, da der Begriff eindimensional komplexe Migrationsdynamiken unter dem Spezialfall der Einwanderung subsumiere. Dem soll der im Titel verwendete „Transit“-Begriff Rechnung tragen, da er „vielfältigere Formen von Mobilität und Immobilität“ (S. 24) abdecke und damit ein realistischeres Bild der Migrationsgeschichte Deutschlands zeichne als der „auf assimilierend[e] Integration“ zielende Begriff „Einwanderung“ (ebd.).

Intention und Aufbau der Quellensammlung orientieren sich am „Weimar Republic Sourcebook“ von Mitherausgeber Anton Kaes.4 Anhand der elf Kategorien „Arbeitende Gäste“, „Sozialistische Freunde“, „Xenophobie und Gewalt“, „Was ist deutsch?“, „Fremder Glaube“, „Inszenierte Vielfalt“, „Kein Einwanderungsland?“, „Leben in zwei Welten?“, „Schreiben auf Achse“ sowie „Deutschland, ein türkisches Märchen“ und „Europa – and beyond“ werden chronologisch jeweils 20-30 Dokumente, zum Teil gekürzt, bereitgestellt. Ziel ist es, Themen wie Arbeitsmigration, Rassismus im Alltag, Identitätsdebatten oder die Inszenierung von Multikulturalität schlaglichtartig zu beleuchten.

Den einzelnen Dokument(auszüg)en sind jeweils ein knapper Herkunftsnachweis, ein bis zwei Sätze zur Kontextualisierung sowie Verweise auf andere im Band enthaltene Quellen vorangestellt. Diese Erklärungen, die in der amerikanischen Erstausgabe erstaunlicherweise fehlen, ersetzen jedoch nicht die Eigeninitiative der Leser/innen, die sich, sofern nicht Zeitzeuge/in, den Kontext der Texte selbst erarbeiten müssen. Eine Chronologie im Anhang gibt dabei Hilfestellung. Diese ist ebenso wie eine umfangreiche, poetische wie wissenschaftliche Texte umfassende, Bibliographie, eine Filmographie sowie ein Verzeichnis von Weblinks auch online einsehbar. Dort sollen sie regelmäßig ergänzt und aktualisiert werden.5

Einige Quellen, wie ein Merkblatt der Türkischen Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung zum Verhalten im Ausland (S. 56ff.), eine Ein- bzw. dem Ton nach eher Vorladung der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul (S. 63f.) oder der Text „Fremd im Eigenen Land“ der HipHop-Gruppe „Advanced Chemistry“ (S. 160ff.), wurden bereits in den Katalogen migrationsbezogener Ausstellungen der vergangenen Jahre abgedruckt.6 Auch Schlüsseldokumente, wie das „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“ von 1913 (S. 215f.) oder das „Heidelberger Manifest“ von 1982 (S. 155ff.), sind längst online oder in anderen Sammelbänden verfügbar.

Der Großteil der Dokumente wurde jedoch aus Zeitungen und Zeitschriften, Romanen und Reden, Fachbüchern und Archiven gesammelt und wird hier erstmals thematisch zusammengefasst präsentiert. Insbesondere die literarischen Texte und die Debattenbeiträge der letzten fünf bis sechs Jahre ergänzen die bisher veröffentlichten Textsammlungen. Hier findet sich Wladimir Kaminers Beschreibung seiner Schwierigkeiten, einen Einbürgerungsantrag zu stellen (S. 613) ebenso wie der knappe Text des „Fehlfarben“-Liedes „Militürk“ (S. 635f.) oder Hans-Ulrich Wehlers Argumentation gegen einen EU-Beitritt der Türkei in der „Zeit“ (S. 705ff.).

Zwischen zwei Artikeln aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einem über das deutsch-italienische Anwerbeabkommen von 1955 (S. 45f.) und einem über die Krise der Europäischen Union anlässlich der griechischen Staatsschulden von 2010 (S. 765ff.), präsentieren Göktürk, u.a. eine Vielzahl erwartbarer wie überraschender Teile der deutschen Debatte um Migration, die Lust auf Blättern und Stöbern machen. Erfreulicherweise orientiert sich die Sammlung hierbei nicht nur an der üblichen politischen Einteilung der deutschen Migrationsgeschichte wie Anwerbung, Asylkompromiss und „Green Card“, sondern bezieht auch gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Aspekte wie beispielsweise Alltagsrassismus bei der Wohnungssuche, das Aufkommen von „diversity management“ oder die Debatte über die Authentizität von „Mulitikultur“ beim Berliner „Karneval der Kulturen“ mit ein. Dabei wird die häufig verdrängte Kontinuität von Debattenbeiträgen ebenso sichtbar wie der Wandel des Umgangs mit der „multiethnischen Einwanderungsgesellschaft“. Erstaunlich ist bei dieser Offenheit das Festhalten am ersten Anwerbeabkommen als Beginn der Sammlung, der mit gutem Recht ebenso hätte verlegt werden können wie der (vorläufige) Schluss der Sammlung.

Die Dokumentensammlung von Göktürk, u.a. bietet eine umfang- und abwechslungsreiche Fundgrube an Quellen zur deutschen Migrationsgeschichte seit 1955, die sich zur Verwendung in der schulischen und universitären Lehre ebenso eignet wie zum individuellen „Schmökern“ und eine Vielzahl von Gedanken- und Diskussionsanstößen bereit hält.

Anmerkungen:
1 Klaus J. Bade, Ausländer. Aussiedler. Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Hannover 1990.
2 Deniz Göktürk / David Gramling / Anton Kaes (Hrsg.), Germany in Transit. Nation and Migration 1955-2005, Berkeley 2007.
3 Rita C.-K. Chin, The Guest Worker Question in Postwar Germany, Cambridge 2007.
4 Anton Kaes / Martin Jay / Edward Dimendberg (Hrsg.), The Weimar Republic sourcebook, Berkley 2004.
5 German Department der University of California, Berkley, Multicultural Germany Project, <http://mgp.berkeley.edu> (13.07.2111).
6 Vgl. Aytaç Eryilmaz / Mathilde Jamin (Hrsg.), Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, Essen 1998; Kölnischer Kunstverein u.a. (Hrsg.), Projekt Migration, Köln 2005; vgl. Joachim Baur: Rezension zu: Kölnischer Kunstverein (Hrsg.): Projekt Migration. Köln 2005, in: H-Soz-u-Kult, 26.06.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-219> (29.08.2011); Rosmarie Beier-de Haan / Jan Werquet (Hrsg.), Fremde? Bilder von den „Anderen“ in Deutschland und Frankreich seit 1871, Dresden 2009.

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