Titel
Erlebtes und Gedachtes. Erinnerungen eines unabhängigen Historikers


Autor(en)
Barkai, Avraham
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Rürup, Technische Universität Berlin

Dies ist ein Buch, das einen großen Leserkreis verdient. Es ist der Rückblick eines Historikers, aber keine Gelehrtengeschichte älteren Stils. Der Verfasser berichtet über ein Leben, in dem sich große Teile der Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegeln, und er reflektiert die Hoffnungen, die plötzlichen Umbrüche und die allmählichen Veränderungen, die dieses inzwischen neun Jahrzehnte umspannende Leben entscheidend geprägt haben.

1921 im Berliner „Scheunenviertel“ geboren, wuchs Avraham Barkai in einem streng orthodoxen Milieu auf. Er besuchte jüdische Schulen, zuletzt das Realgymnasium der Berliner Adass-Jisroel-Gemeinde, das er 1935 vorzeitig verließ, um sich im religiös-zionistischen Jugendbund Brit Hanoar auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Nach einem Jahr in einer Jeschiwa in Frankfurt am Main, begann er auf dem Lehrgut Steckelsdorf im Brandenburgischen die Vorbereitung auf das Leben in einem Kibbuz. Im Frühjahr 1938 verließ er Deutschland.

Nach der Ankunft in Palästina wurde Barkai Mitglied der sozialistischen zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hatzair. Einer zweijährigen Ausbildung auf einer Landwirtschaftsschule – er studierte, wie er in den Erinnerungen formuliert, in dieser Zeit nicht nur den Obstbau, sondern mit kaum geringerer Intensität auch „Marxismus-Leninismus“ – folgte im Frühjahr 1941 der Beitritt zu einer Haschomer Hatzair-Gruppe, die die Gründung eines Kibbuz unmittelbar an der syrischen Grenze, vorbereitete. Nach der Ansiedlung auf dem dafür erworbenen Gelände im November 1945 folgten mühsame Jahre des Aufbaus, ehe der Kibbuz voll funktionsfähig und wirtschaftlich erfolgreich war. Lehavot Habashan war ein ausgesprochen „linker“ Kibbuz, sowohl in der politischen Ausrichtung als auch in der alltäglichen Praxis des gemeinsamen Lebens und Arbeitens, in der man sich konsequent an den zionistisch-sozialistischen Idealen orientierte. Avraham Barkai war vor allem für den Obstbau – lange Zeit der wichtigste Erwerbszweig des Kibbuz – zuständig, übernahm aber immer wieder auch andere Leitungsfunktionen im Kibbuz und in der Kibbuz-Bewegung, unter anderem als Beauftragter des Haschomer Hatzair in der Schweiz (1951-53) oder als Mitarbeiter der Kulturabteilung der Bewegung in Tel Aviv (1964-66).

Dann begann das, was allmählich zu seinem „zweiten Beruf“ wurde und in dieser Weise damals nur in der israelischen „Pionier-Gesellschaft“ möglich war: Aus dem Kibbuz-Landwirt und Obstbau-Fachmann wurde ein Forscher, der schon mit seinen ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen nachdrücklich auf sich aufmerksam machte. Die Kibbuz-Bewegung ermöglichte ab 1960 einzelnen ihrer Mitglieder ein Universitätsstudium, und die Hebräische Universität in Jerusalem nahm Barkai, der das Gymnasium schon mit 14 Jahren verlassen hatte, im Herbst 1963 probeweise als „besonderen Studenten ohne Schulabschluß“ und nach einem Jahr als ordentlichen Studenten auf. Da er in den folgenden Jahren neben seiner Tätigkeit im Kibbuz jedoch nur mit geringem zeitlichen Aufwand studieren konnte, verging einige Zeit, ehe er seine Ausbildung in Ökonomie (1967) und Geschichte (1972) zum Abschluss bringen konnte. Doch damit ging es nun erst richtig los: Er begann ein Promotionsstudium, das er anfangs durch eine Halbtagstätigkeit als Wirtschaftsjournalist bei der Mapam-Zeitung, dem Organ der linkssozialistischen Partei, finanzierte, später durch ein Stipendium des Instituts für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv.

Die Dissertation über „Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus“, in Deutschland 1977 veröffentlicht, irritierte die Fachwelt zunächst durch die überraschende These, dass es trotz aller Kontinuitäten einerseits und Improvisationen andererseits sinnvoll sei, von einem eigenständigen NS-Wirtschaftssystem zu sprechen, erwies sich aber mittel- und langfristig als sehr erfolgreich: 1988 erschien das Buch in einer erweiterten Ausgabe als Fischer-Taschenbuch, 1986 in hebräischer, 1990 in englischer Übersetzung. Es folgten etliche Forschungen zur jüdischen Wirtschaftsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Aus diesen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte entstanden in der Folgezeit wichtige Studien zur Auswanderung deutscher Juden nach Nordamerika, deren Ausmaß und Bedeutung in der Geschichtsschreibung bis dahin deutlich unterschätzt worden war. Ihren vorläufigen Abschluss fanden diese Arbeiten in dem in den USA erschienenen Buch „Branching Out: German-Jewish Immigration to the United States, 1820-1914“ (1994).

Angesichts seines Anfang der 1990er-Jahre bereits vorliegenden Oeuvres war es eine naheliegende Entscheidung, dass Avraham Barkai als Hauptautor für den vierten Band („Aufbruch und Zerstörung, 1918-1945“) der „Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit“ (1996/97, wenig später auch in einer englischen und hebräischen Ausgabe) des Leo Baeck Instituts gewählt wurde. Die durchweg schwierigen Kapitel dieser Geschichte werden souverän präsentiert: auf dem neuesten Forschungsstand, differenziert in der Argumentation, aber schnörkellos und eindringlich in der Darstellung. Schon wenige Jahre später veröffentlichte er ein weiteres großes Buch: „‘Wehr Dich!‘ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938“ (2002), die erste Gesamtgeschichte der größten und einflussreichsten jüdischen Interessenorganisation. Als Israeli in ausgesprochen C.V.-kritischer Tradition aufgewachsen, gelang es ihm, eine ebenso verständnisvolle wie kritische Geschichte zu schreiben, die dem liberalen jüdischen Bürgertum in eindrucksvoller Weise gerecht wird. Er durchbrach die vorherrschenden Klischees eines verachtenswerten „Assimilantentums“ und arbeitete stattdessen das neue jüdische Selbstbewusstsein außerhalb des zionistischen Lagers heraus, die Rückbesinnung auf jüdische Religion und Kultur in einer pluralistisch konzipierten deutschen Gesellschaft. Das war und ist eine Leistung, die für einen israelischen Historiker bis dahin undenkbar erschien.

Die wichtigsten Ergebnisse seiner umfangreichen und vielseitigen Forschungsarbeit werden in den „Erinnerungen eines unabhängigen Historikers“ zwar erwähnt, aber nicht in extenso referiert. Barkai geht es in seiner Darstellung vielmehr darum, einerseits den Kontext seiner Forschungen deutlich werden zu lassen und andererseits sich mit anderen, abweichenden Auffassungen auseinanderzusetzen. Das ist eine hochinteressante Lektüre, die den Leser zum Mit- und Weiterdenken anregt. Die „Unabhängigkeit“ des Autors besteht nicht nur darin, dass er mit keiner Universität oder Wissenschaftlichen Akademie dauerhaft verbunden war und ist, sondern ein „Kibbuznik“, der ohne institutionellen Rückhalt erstaunliche Ergebnisse erzielt. „Unabhängig“ ist er darüber hinaus auch in seinem Urteil, einschließlich der Bereitschaft, auch eigene Grundpositionen immer wieder neu zu überdenken. Zu beklagen ist allenfalls seine allzu große Bescheidenheit: So erfährt der Leser gar nicht, dass er viele Jahre lang als (ehrenamtlicher) Präsident des Jerusalemer Leo Baeck Instituts amtierte, und nur höchst beiläufig, dass ihm 2003 von der Freien Universität Berlin ein Ehrendoktortitel verliehen wurde.

Eine höchst willkommene „Zugabe“ ist der dritte Teil der Erinnerungen mit dem Titel „Israel und der Kibbuz im Wandel“. Der mit der Staatsgründung von 1948 einsetzende Rückblick ist selbstbewusst und kritisch zugleich. Der Verfasser bekennt sich zu der sozialistischen Utopie des Hashomer Hatzair und der Kibbuz-Bewegung und gesteht unumwunden ein, dass viele der auch von ihm geteilten – zeitweise sogar kommunistischen – Positionen auf die Dauer nicht zu halten waren. Der militärische Sieg von 1967 war für ihn ein „Phyrrhussieg“, der in der Entwicklung Israels eine deutliche Zäsur bedeutete. Für die Zeit bis 1967 urteilt er: „Es war im Großen und Ganzen eine liberale, säkulare und selbstgenügsame Gesellschaft; ein um sozialen Ausgleich bemühter Wohlfahrtsstaat, in dem die Armut erträglich war und der Reichtum nicht protzte.“ (S. 176) Das änderte sich, gepaart mit einem aggressiver werdenden Nationalismus, bis in die immer schärfer werdenden Existenzkrisen des Staates Israel. Mit dem Niedergang der israelischen „Labour Party“ (Mapai) und dem Wahlsieg Begins begann ein „radikaler Wandel der Wirtschafts- und Sozialstruktur Israels“ (S. 182): „Nach 1977 fiel im Laufe weniger Jahre die bescheiden lebende, relativ egalitäre Gesellschaft, deren wirtschaftliches Wachstum den meisten Bevölkerungsschichten zugute kam, einem neoliberalistischen Sozialdarwinismus zum Opfer, neben dem das Großbritannien der ‚Iron Lady‘ Margaret Thatcher wie ein wohltätiger Sozialstaat erscheint.“ (S. 186)

Das sind scharfe Urteile, mit dem gleichwohl nicht die Solidarität mit dem Staat, in dem der Verfasser lebt, aufgekündigt wird. Ähnliches gilt für seine Einstellung zu den tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in den Kibbuzim. Von dem Kibbuz-Sozialismus, den er mit aufgebaut und jahrzehntelang voller Überzeugung praktiziert hat, ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Avraham Barkai bedauert das, aber er konstatiert die Veränderungen, beispielsweise die „Verschiebung der Prioritäten von der Gemeinschaft zur Familie“ (S. 200), unsentimental. Er beklagt sich nicht und gesteht durchaus ein, dass es auch Fehleinschätzungen und Fehlkonstruktionen gegeben habe, die korrigiert werden mussten. Sein abschließendes Urteil lautet deshalb: „Wir haben etwas Bleibendes geschaffen, selbst wenn in unserem kollektiven Leben nicht alle Blütenträume reiften. Damals glaubten wir, dass unsere Lebensform nicht eine abgesonderte Enklave, sondern eine Keimzelle für eine kommende, gerechtere und für alle Menschen glücklichere sozialistische Gesellschaft sei. Dieser Glaube hat sich als ein Traum erwiesen, aus dem wir nur langsam und schmerzhaft wachgerüttelt wurden.“ (S. 217f.)

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