M. A. Larsen: The Making and Shaping of the Victorian Teacher

Cover
Titel
The Making and Shaping of the Victorian Teacher. A Comparative New Cultural History


Autor(en)
Larsen, Marianne A.
Erschienen
Basingstoke 2011: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
£58.00 / € 69,19
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karin Priem, Faculté des Lettres, des Sciences Humaines, des Arts et des Sciences de l’Education, Université du Luxembourg

Marianne A. Larsen präsentiert mit „The Making and Shaping of the Victorian Teacher“ eine Geschichte der diskursiven und praxeologischen Fabrikation des Lehrers und der Lehrerin im Viktorianischen England. Eine kursorisch angelegte komparatistische Analyse soll ergänzend aufzeigen, dass die dort aufgespürten Merkmale der Formung und Gestalt(gebung) von Lehrpersonen eine generelle Tendenz in Schottland, England, Nordamerika, Frankreich und Preußen widerspiegeln. Motiviert wurde der Band in erster Linie durch die aktuelle Situation, die Larsen, Professorin für Erziehungswissenschaft an der University of Western Ontario (Kanada), als effizienzorientierten, regulierenden und kontrollierende Zugriff auf die Lehrtätigkeit an Schulen charakterisiert. Insofern soll eine Geschichte der Gegenwart des Lehrberufs vorgelegt und explizit eine Perspektive von der Gegenwart zurück in die Geschichte entwickelt werden.

Die Schwerpunktsetzung auf die viktorianische Ära (ca. 1830–1880) wird entsprechend des oben skizzierten Forschungsprogramms mit Ähnlichkeiten zur Gegenwart begründet. Folgende Punkte seien hier von Belang: das Engagement des Staates bei der Gestaltung des Bildungssystems und die damit verbundene Vorstellung von Schule als Instrument der Lösung gesellschaftlicher Probleme, die Entwicklung standardisierter Curricula und Prüfungen sowie eine staatlich gesteuerte Lehrerinnen- und Lehrerbildung, wobei letztgenannte nach Auffassung von Larsen vor allem dazu diene, Lehrerinnen und Lehrer zu kontrollieren und deren Berufsrolle sozial zu konstruieren. Das viktorianische England, so wird hervorgehoben, habe vor allem den guten Lehrer bzw. die gute Lehrerin erfunden, und die Analyse dieser sozialen Konstruktion als Geschichte diskursiver Praktiken und Technologien des Selbst sowie moderner Machtausübung ist – in Anlehnung an Foucault – Gegenstand des Bandes. Larsen schreibt also weder eine Professionalisierungsgeschichte noch eine Geschichte der Verwissenschaftlichung oder Sozialgeschichte des Lehrberufs. Im Mittelpunkt steht einzig und allein die Frage, wie sich ein mächtiges Diskursfeld hinsichtlich des guten Lehrers und der guten Lehrerin entfalten konnte. Zu diesem Zweck werden zahlreiche Primärquellen herangezogen, die sich vor allem auf zentrale Institutionen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung beziehen.

Das einführende Kapitel (S. 29–49) gibt einen kurzen Überblick über die Motive sowie das finanzielle und gesetzliche Engagement des viktorianischen Staates beim Aufbau eines wirkungsvollen Bildungssystems. Nationalstaatlichkeit, Industrialisierung und Urbanisierung spielten dabei, so wird betont, generell eine Rolle, auch wenn die politische und organisatorische Gestaltung von Bildungssystemen aus komparatistischer Sicht durchaus zeitliche Verzögerungen und regionale Unterschiede aufweist. Larsen hebt allerdings hervor, dass diese sogenannten Modernisierungstendenzen die zunehmende Bedeutung von Bildungssystemen nicht hinreichend erklären können; ausschlaggebend sei hier auch die Aktivität sozialer, politischer und kolonialer Reformer, deren pädagogische Reisen und Publikationen insgesamt ein einflussreiches diskursives Feld durch hohe gegenseitige Wechselwirkung erzeugt hätten.

Die folgenden Kapitel widmen sich dem eigentlichen Thema des Bandes: der Formung des guten Lehrers und der guten Lehrerin bzw. des modernen Lehrers und der moralisch gebildeten Lehrerin im viktorianischen England. Diese Entwicklung begann, so wird zunächst ausgeführt, mit Krisenbewusstsein und Spott hinsichtlich der Armen und des Personals an den niederen Schulen – beide Diskursstränge werden als eng miteinander verbunden beschrieben. Die Armen, so erfährt man, wurden als faul, träge, arbeitsscheu, ungebildet, trunk- und spielsüchtig sowie körperlich krank klassifiziert und alle diese negativen Eigenschaften wurden auf mangelnde Moral zurückgeführt. Diese Diagnose und die Angst vor revolutionären Umbrüchen habe schließlich soziale Reformen inspiriert: Erziehung und Schulbildung als Mittel zur Bekämpfung von mangelnder Moral und Armut sowie Förderung von Untertanentreue und gesellschaftlicher Stabilität traten auf den Plan – sowohl in Westeuropa als auch in Nordamerika. Damit einher ging eine Kritik am status quo des niederen Schulwesens. Dort beschäftigte Personen wurden ganz ähnlich wie die Armen als verkrüppelte, blinde und lahme sowie unordentliche, trunksüchtige, verarmte und gebrochene Existenzen charakterisiert. Das Problem mangelnder Moral, so kann Larsen überzeugend zeigen, wurde daher folgerichtig auch auf das schulische Lehrpersonal und deren Unterricht übertragen. Eine typische Lehrperson galt als ungehobelt und gewalttätig, chaotisch sowie wenig ambitioniert und unfähig zur Führung eines geordneten Unterrichts und Schulbetriebs. Die Verschränkung der Armutsdebatte mit der Debatte über den schlechten Lehrer machten die Bühne frei für eine neue Figur: die des guten Lehrers.

Der gute Lehrer hatte Larsen zufolge eine männliche und eine weibliche Komponente: die männliche wurde vom modernen Lehrer verkörpert während die moralische Lehrperson eher weiblich angelegt war. Die moderne Lehrperson zeichnete sich durch wissenschaftliches Wissen und didaktisches Können aus: Assoziationslehre, Phrenologie, Moralphilosophie und pädagogische Lehrwerke (zum Beispiel von Combe und Pestalozzi) gehörten ebenso zum Repertoire wie Rhetorik, Didaktik, Fachkenntnisse und schließlich psychologische Lehren des Kindesalters. Insgesamt wurde der moderne Lehrer im öffentlichen niederen Schulwesen des viktorianischen Zeitalters als literarisch gebildete, hochkultivierte, rationale, aufgeklärte und wissenschaftlich interessierte Persönlichkeit entworfen, der man in einigen Lehrerbildungseinrichtungen sogar Griechisch- und Lateinkenntnisse abverlangte. Was nun die Figur der moralischen Lehrperson angeht, so ergibt sich ein dazu konträres Bild, das, wie bereits erwähnt, feminin geprägt war: Statt wissenschaftlicher Rationalität standen hier christlicher Glaube, Liebe, Bescheidenheit und Demut im Zentrum. Als ergänzende Tugenden galten Pünktlichkeit, Freundlichkeit, Fröhlichkeit, Geduld, Ausgeglichenheit, Fleiß und Sympathie gegenüber Kindern. Lehrer(innen) als moralische Persönlichkeiten sollten vor allem als Vorbild christlicher Lebensführung ihre Wirkung zeigen. Und auch dieses Modell erwies sich laut Larsen als internationales diskursives Muster.

In Kapitel 6 (S. 107–131), 7 (S. 132–156) und 8 (S. 157–186) werden die Technologien moderner Fremd- und Selbstregulierung in Bezug auf den guten Lehrer behandelt. Am Anfang stehen die Institutionen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und verschiedene Formen der Schulaufsicht, die von Larsen als eine „Myriade“ (S. 121) von sorgsam abgestuften Überwachungsformen beschrieben werden und sich auf „Geist“, „Körper“ und „Seele“ (S. 122) der Lehrpersonen richteten. In den lehrerbildenden Institutionen herrschte ein strenges Zeitregime, das sowohl Studium, pädagogische und religiöse Übungen sowie Anleitung zur Selbstreflexion als auch Gymnastik, militärische Übungen und körperliche Arbeit umfasste. Für persönliche Interessen blieb keine Zeit wie überhaupt Alleinsein generell nicht vorgesehen war. Hinzu kamen ein bestimmter Kleidungscode, ein Netz von Prüfungen und statistische Datensammlungen, die den gut sichtbaren und gläsernen Lehrer erzeugten. Die Erwartung war, dass so (im Sinne von Foucaults Technologien des Selbst), wie von unsichtbarer Hand geführt, ein Habitus der idealen Lehrperson erzeugt wurde, der die gesamte Person, Denken und Körper, erfasste und gleichzeitig, durch deren vervielfältigende Replikation im Klassenzimmer, ganze Schülerpopulationen moralisch bessern sollte.

Am Ende des Bandes folgt eine Diagnose für die Gegenwart: Die beschriebenen Praktiken der Selbst- und Fremdregulierung hätten für die Ausgestaltung des Lehrberufs nach wie vor Gültigkeit, doch sei damit keineswegs ein identisches Bild vom guten Lehrer verbunden. Der heutige Lehrer soll, so Larsen, vor allem berechenbar, effizient und technisch versiert sein – dass er literarisch gebildet sei und Liebe zu seinen Schülern entwickle, wäre dagegen nicht mehr von Belang.

Es ist aber fraglich, ob das diskursive Feld zum Fremd- und Selbstbild des Lehrers bzw. der Lehrerin sowie deren angemessener Ausbildung inhaltlich so leicht einzugrenzen und zu identifizieren ist. Wäre es denn nicht plausibler anzunehmen, dass regionale und kulturelle Differenzen der Schule und des Lehrberufs (auch in Bezug auf verschiedene Schulformen und Gender-Aspekte) zahlreiche widersprüchliche Tendenzen, Imaginationen und Bilder erzeugen und dass die Schattenfiguren des Lehrberufs als Subtexte pädagogischer Debatten innerhalb des Diskursfeldes „Lehrberuf“ nie obsolet geworden sind, sondern ein unausrottbares Eigenleben führen? Dazu gehören der Lehrer als Dilettant, der autoritäre Lehrer, der Lehrer als Technokrat, der verklemmte Lehrer, der kumpelhafte Lehrer, der zwanghafte Lehrer, der besserwisserische Lehrer usw. Denn zahlreiche positive und negative Lehrertypologien bevölkern das kulturelle Gedächtnis. Diese prägen nicht nur das Fremd- und Selbstbild der Berufsgruppe, Ausbildungsgänge und pädagogische Reflexionen, sondern auch kulturelle Artefakte wie Autobiographien, Schulromane, Photographien und Filme. Individuelle, regionale und kulturelle Abweichungen und Widersprüche des Lehrberufs können also durchaus als koexistierende oder kontrastierende Aspekte Globalisierungstendenzen ergänzen und unterwandern. Als solche bedürfen sie, trotz des allgemeinen Trends zur Vergröberung, weiterhin einer historischen Erklärung und Analyse.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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