Cover
Titel
Das Motorrad. Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft


Autor(en)
Steinbeck, Frank
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 216
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 57,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dorothee Hochstetter, Berlin

Der völkische Kulturphilosoph Ernst Günther Gründel, bekannt durch seine Generationenbeschreibung der Weimarer Republik, wertete die Technikbegeisterung als Signum der jungen Generation. Er schrieb Anfang der 1930er-Jahre: „Diese Jugend verwechselt vielleicht Sinfonie und Simonie, aber bestimmt nicht BMW und DKW.“1 Die Technik- und Mobilitätseuphorie werde nicht durch das Auto, sondern zuallererst durch das Motorrad repräsentiert: „Auf dem Motorrad aber, das man sich zwischen die stahlharten Schenkel klemmt wie ein feuriges Pferd, ist man eins mit der Maschine, hat selbst die Hundertkilometergeschwindigkeit und kann sie […] in jedem Augenblick messen und greifbar empfinden.“2

Das von Gründel kolportierte generationelle Lebensgefühl ist untrennbar mit dem Motorrad verbunden. War dies ein Grund dafür, warum es in Deutschland zwischen 1926 und 1960, in der DDR bis in die 1990er-Jahre, mehr Motorräder als Autos gab? Diente das Motorrad als Wegbereiter der Motorisierung in Deutschland oder war es nur Ersatzobjekt einer kollektiv ersehnten, aber nicht verwirklichten Automobilisierung der Gesellschaft? Im Zentrum der Dissertation von Frank Steinbeck steht die Verbreitungsgeschichte des Motorrads. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Zwischenkriegszeit, bezieht aber sowohl die Vorgeschichte als auch die Zeit nach 1945 mit ein, um langfristige Entwicklungen deutlich zu machen.

Die Studien zur Geschichte der Massenmotorisierung in Deutschland sind inzwischen zahlreich.3 Zumeist steht das Auto im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Untersuchungen unterscheiden sich hinsichtlich der Fragestellung und Herangehensweise. Bis in die 1980er-Jahre sah man in motorisierten Fortbewegungsmitteln ein technik- und unternehmensgeschichtliches Phänomen, messbar in Hubraum und Kilometern pro Stunde, ein Wunderwerk der Technik, das zum Staunen und Bewundern von sportlichen und technischen Höchstleistungen einlud. Danach beschäftigten sich Wirtschafts- und Verkehrshistoriker mit der Motorisierung und seit einigen Jahren dominieren kulturgeschichtliche Ansätze. Auch interdisziplinär forschende historische Teildisziplinen wie die Konsumgeschichte, die historische Jugendforschung, die Tourismusgeschichte und die Protestgeschichte interessieren sich für diesen Forschungsgegenstand. Neu hinzugekommen ist die Mobilitätsgeschichte („mobility studies“), in der unterschiedliche Formen und Repräsentationen von Mobilität regional, national oder transnational untersucht werden. Kategorien des Raums, der Beschleunigung und der Veränderung des Lebensstils sind vielversprechende Untersuchungsfelder.4

Das Buch von Frank Steinbeck zeigt sich von diesen modernen Ansätzen relativ unbeeinflusst. Es hebt vor allem auf technik-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte ab und integriert juristische und politikgeschichtliche Perspektiven. Die Arbeit ist in drei chronologische Hauptteile gegliedert. Unter I. „Voraussetzung und Verbreitung bis 1918“ schildert der Autor den Stand der Motorisierung vor dem Ersten Weltkrieg mit besonderer Berücksichtigung des Motorrades sowie die militärische Verwendung im Krieg und stellt die Frage: War der Krieg ein Auslöser für den Motorradboom der 1920er-Jahre? In Kapitel II „Aufstieg zum Volksfahrzeug in der Weimarer Republik“ geht es um die Gründe für die gestiegene Verbreitung unter Einbeziehung der Käuferstruktur und der steuer- und verkehrsrechtlichen Rahmenbedingungen. In Kapitel III „Motorrad und Motorisierung im Dritten Reich“ untersucht Steinbeck, wie erfolgreich die NS-Motorisierungspolitik war. Als Primärquellen verwendet er zeitgenössische Motorradzeitschriften, Archivmaterial aus dem Bundesarchiv (NS-Archivgut und Bestände der Reichsministerien) und Firmenarchivalien (DKW und Zündapp). Für einen Vergleich der Motorisierungsbemühungen, der Hemmnisse, der Rahmenbedingungen sowie der Käuferschichten und der Nachfrage zieht er die USA und England als Referenzstaaten heran.

Der Erste Weltkrieg war, so Steinbeck, kein Motorisierungsbeschleuniger. Im Gegenteil, er hemmte die konstruktionstechnische Motorradentwicklung, sodass die deutschen Unternehmen nach 1918 nicht mehr konkurrenzfähig waren. Hinzu kommt, dass der Lebensstandard im Deutschen Reich gegenüber anderen Nationen bereits vor 1914 niedriger war und die Konsummöglichkeiten beschränkte. Der Krieg schwächte potenzielle Käuferschichten zusätzlich, sodass sich die Motorisierung, insbesondere die Automobilisierung verzögerte; Arbeiter und Angestellte, die in der Weimarer Republik ihren Lebensstandard erhöhen konnten, kauften sich Motorräder. 1926 gab es im Deutschen Reich erstmals mehr Motorräder als Autos. In den USA dagegen gerieten die Motorradhersteller nach dem Ersten Weltkrieg in die Krise, der Bestand an Motorrädern sank dauerhaft. Gründe dafür waren der niedrige Anschaffungspreis einiger Automodelle (Ford T), die weitflächigen Siedlungsstrukturen und das schlechte Image von Motorrädern. Nicht wirklich überraschen dürfte das Ergebnis, dass sich der deutsche Motorisierungsrückstand vor allem im automobilen Bereich im „Dritten Reich“ nicht aufholen ließ, auch wenn die nationalsozialistische Propaganda etwas anderes glauben machen wollte.

In der Forschung weithin akzeptierte Thesen und Ergebnisse werden im vorliegenden Buch nicht revidiert, sondern differenzierter betrachtet. Dies betrifft insbesondere die Kleinkrafträder, denen Steinbeck ein eigenes Unterkapitel widmet. Kleinkrafträder stellten 1932 mit 400.000 Zulassungen über 48 Prozent aller motorisierten Zweiräder. Hier lässt sich die steuer- und verkehrsfreundliche Politik der Weimarer Republik nachweisen. Trefflich streiten kann man hingegen darüber, wie sich die Akzeptanz des Motorrads entwickelt hat. Steinbeck widerspricht Kurt Möser darin, dass der Erste Weltkrieg das negative Image von Motorrädern verbessert habe (S. 77f.). Wenn man Stimmungen in der Bevölkerung untersuchen möchte, stößt man unweigerlich auf ein Quellenproblem. Fast scheint es, als ob das Ergebnis willkürlich veränderbar ist, je nachdem welche Tages-, Fach- oder Boulevardzeitungen ausgewertet werden, ob Polizeiakten erhalten sind, die Proteste und Anzeigen dokumentieren, und welche literarischen Beobachtungen später von Historikern als zitierwürdig angesehen werden.

Die Stärken des Buches liegen in seiner Daten- und Faktenfülle, weniger in der analytischen Durchdringung des Materials. Der Leser erhält einen guten Überblick über konstruktionstechnische Innovationen, Hersteller, Absatzzahlen, Anschaffungs- und Unterhaltskosten, Käuferschichten, staatliche Maßnahmen, Interessengruppen, Motorsport, den Einfluss von Kriegen und der Weltwirtschaftskrise sowie über regionale Unterschiede; er lernt die ganze Bandbreite motorisierter Zweiräder, vom Fahrrad mit Hilfsmotor bis zur schweren Maschine mit Beiwagen, kennen. Man bemerkt hier deutlich das Streben nach Vollständigkeit. Ein Sachregister, das in Monographien dieser Art selten ist, bietet eine sinnvolle Erschließungshilfe und ist positiv hervorzuheben.

Zwei kritische Anmerkungen seien erlaubt. Erstens: Das Buch enthält an einigen Stellen allgemeingeschichtliche Platitüden, die nicht belegt werden oder nicht nachvollziehbar sind. So sei aus einer Begriffsdiskussion über den Arbeitstitel des Buches „eine fruchtbare Ergänzung zur Debatte um die Geschichte Deutschlands“ entstanden (S. 11); die Kriegs- und Inflationsfolgen hätten „das Besitzbürgertum, die relativ kleine obere Mittelschicht […] sicher stärker [getroffen] – und gerade sie besaß durch ihre gesellschaftliche Stellung ein Meinungsbildungsmonopol, dessen Einfluss sich auch beim Mythos der Kriegsbegeisterung zeigte, die insgesamt lange nicht so groß war, wie zum Teil noch heute behauptet wird“ (S. 80). Zweitens: Der Autor charakterisiert in Anlehnung an den Wirtschaftshistoriker Hans Mottek den Widerspruch zwischen dem industriellen Entwicklungsniveau Deutschlands und dem Stand der Motorisierung als „Sonderweg“. Die staatliche Förderung der Kleinkrafträder, durch den der Unterhalt von Kleinkrafträdern für die Mittelschicht erschwinglich war, wird als „gelungene[r] Sonderweg“ bezeichnet (S. 321). Diese deutschen Besonderheiten mit dem Reizwort „Sonderweg“ zu belegen, das unter anderem auf die geschichtswissenschaftliche Diskussion über die zurückbleibende liberal-demokratische Modernisierung in Deutschland verweist, verwirrt terminologisch mehr als es erhellt.

Insgesamt handelt es sich bei der Studie von Frank Steinbeck um eine solide, quellengesättigte Geschichte der Verbreitung des Motorrads von den Anfängen bis 1945, die zwar mit wenigen neuen Erkenntnissen aufwartet, aber der Intention des Autors entspricht, zu verdeutlichen „warum Motorräder während der Zwischenkriegszeit in Deutschland zum motorisierten Individualverkehrsmittel schlechthin aufstiegen“ (S. 310) – das Buch nimmt in dieser Hinsicht den Rang eines wissenschaftlichen Standardwerks zur deutschen Motorradgeschichte ein.

Anmerkungen:
1 Ernst Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, 3. unveränd. Aufl., München 1933 (1. Aufl. 1932), S. 140.
2 Ebd., S. 141.
3 Heidrun Edelmann, Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland, Frankfurt am Main 1989; Angela Zatsch, Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Automobilzeitalters, Konstanz 1993; Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des Automobils 1895 – 1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002.
4 Siehe dazu das Kapitel „All the world is on the move“? Mobilität(en) in der Moderne, in: Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt am Main 2012, S. 90-115.

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