A. Fauve-Chamoux u.a. (Hrsg.): The Stem Family in Eurasian Perspective

Titel
The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th centuries


Herausgeber
Fauve-Chamoux, Antoinette; Ochiai, Emiko
Reihe
Population, Famille et Société / Population, Family and Society 10
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 558 S.
Preis
€ 86,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Eibach, Historisches Institut, Universität Bern

Die Vielfalt der Haushaltsformen bzw. der Familienstrukturen im vormodernen Europa steht seit bald 50 Jahren auf der Tagesordnung der sozialhistorischen Familienforschung. Sowohl John Hajnals berühmter Artikel über ‚European marriage patterns‘ als auch Peter Lasletts ‚The world we have lost‘ wurde zuerst 1965 publiziert.1 Von Beginn an ging es darum, bestimmte Typen des personellen Zusammenlebens im Haushalt zu eruieren und mittels Datenbanken zu quantifizieren. Massenhaft überlieferte Kirchenbücher, Geburts-, Heirats- und Sterberegister boten und bieten die Gelegenheit dazu, historische Trends und regionale Spezifika Europas zu identifizieren. Dabei lässt sich leicht denken, dass mit der fortschreitenden Zahl quantitativer Studien die europäische Landkarte der Historischen Familienforschung immer differenzierter und unübersichtlicher wurde. Im Prinzip sind begriffliche Schablonen wie ‚Kernfamilie‘, ‚erweiterte‘ oder ‚multiple‘ Haushalte auf verschiedenste Epochen und Gesellschaften anwendbar. Spezifisch für den von Antoinette Fauve-Chamoux (École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris) und Emiko Ochiai (Kyoto University) herausgegebenen Band ist der parallele Fokus auf sogenannte Stammfamilienhaushalte (‚stem family‘) in einigen Regionen Europas und Asiens. Die europäischen Fallstudien thematisieren vor allem Beispiele aus Frankreich (genauer: die Pyrenäen), Deutschland und Österreich sowie Skandinavien. Die Beispiele aus Asien (genauer: Ostasien) stammen vorwiegend aus Japan, daneben auch Korea, Vietnam, Thailand und China.

Was ist eine ‚Stammfamilie‘ bzw. ein ‚Stammfamilienhaushalt‘? Wie Fauve-Chamoux und Ochiai in der Einleitung betonen, gehen sie von der Minimaldefinition aus, dass ein verheiratetes Kind als Erbe im Haus der Eltern wohnen bleibt. Konstitutiv ist darüber hinaus, dass der Haushalt als Ort von Produktion und Reproduktion – als Idealbild figuriert der Hof in der Agrargesellschaft – möglichst über die Generationen hinweg ungeteilt und damit ungleich unter den Geschwistern vererbt wird (S. 3). Diese Definition, die auf die empirischen Forschungen Frédéric Le Plays (1806–1882) zurückgeht, wird in den Beiträgen des Bands immer wieder aufgegriffen (so etwa durch Richard Wall, S. 56). Letztlich geht es um die quantitative Verifizierung oder Falsifizierung dieser Definition. Am Ende steht als Ergebnis: „The stem-family is a specific and flexible system; the ‚house‘ is a socio-economic unit, a permanent entity transmitted to successive generations […]. In both eastern and western societies, this transmission may occur in a male or a female line.” (so Fauve-Chamoux S. 530, fast wortgleich: S. 501)

Nach den interessanten, mit viel Aufwand betriebenen Einzelstudien sind die Resultate des europäisch-asiatischen Vergleichs substanziell, indes überschaubar (S. 552–554). Sowohl in den französischen Pyrenäen als auch in Nordostjapan war die Stammfamilie bzw. das japanische Gegenstück der ‚ie‘ auch über die Transformation zur Moderne hinaus die Norm. In der japanischen ‚ie‘ findet sich die Vererbung an weibliche Nachkommen weniger häufig als in Europa. Primogenitur wurde in beiden Fällen nicht durchgängig beachtet. Der Familienbesitz wurde dort wie hier insbesondere in ländlich-agrarischen Regionen nach Möglichkeit zusammengehalten. Das Haus als namensgebendes Gebäude und der zugehörige Besitz oder in Japan als Ort des Familienaltars und des Gedenkens an die Ahnen waren geeignet, um Familienidentität zu konstruieren. Anders als der französische ‚Code civil‘ (1804) stärkte der ‚Meiji-Code‘ (1898) die ‚ie‘ als familiäres Rückgrat der japanischen Gesellschaft. Aber beide soziale Formen erwiesen sich, wie Fauve-Chamoux abschließend festhält, als flexibel und geeignet, demographische Krisen und andere Katastrophen zu überstehen.

Die Lektüre der Fallstudien zeigt allerdings für Europa, dass der Begriff ‚Stammfamilie‘ vielerorts nicht ohne Einschränkung zu gebrauchen ist und, wie etwa Schlumbohm betont, bei ideologiekritischer Betrachtung zweifelhaft ist (S. 96–99). So gehörte ein konservatives Hofdenken, das vor allem danach trachtete, das familiäre Erbe zusammen zu halten, keineswegs immer und durchgängig zur Grundausstattung eines von Vertretern des Bürgertums beschworenen ‚Bauerntums‘. Auch in Österreich bezogen, wie Ehmer aufzeigt, junge Ehepaare nicht zwangsläufig ein elterliches Wohnhaus, sondern suchten sich oft einen neuen Wohnort. Für eine emotionale Bindung an das ‚Stammhaus‘ gibt es in den Quellen kaum Hinweise (S. 126). Vergleiche der Haushaltstypen innerhalb von Japan zeigen, dass trotz bemerkenswerter partieller Parallelen zwischen ‚ie‘ und ‚Stammfamilie‘ in punkto Vererbungspraxis, Heiratsalter und personelle Zusammensetzung des Haushalts eine einheitliche Kategorisierung auch Gefahr läuft, Unterschiede zu verwischen (Ochiai, S. 317–320). Dass das Projekt des Vergleichs zwischen europäischen und asiatischen Familientypen einen Obertitel trägt, der eindeutig aus den auf europäische Gesellschaften bezogenen Debatten europäischer Gelehrter seit dem 19. Jahrhundert hervorgegangen ist, erscheint etwas einseitig. Automatisch stellt sich die Frage, ob als alternativer Titel nicht auch ‚The Ie Family in Eurasian Perspective‘ vertretbar wäre.

Der quantifizierende Ansatz der sozialhistorischen Familienforschung war und ist verschwistert mit der Historischen Demographie. So berufen sich Antoinette Fauve-Chamoux und Emiko Ochiai in ihrer Einführung auch explizit auf die Fortschritte der Historischen Demographie und die Verfügbarkeit großer Datenbanken in einigen Ländern (S. 2). Bewertet man dieses Vorgehen an der Zahl wissenschaftlicher Studien, die es hervorgebracht hat, so war es äußerst erfolgreich. Und man darf nicht unterschätzen, dass man heute eine ganz andere empirische Basis hat, um über die Geschichte der Familie zu reden, als noch zu Zeiten von Le Play, Wilhelm Heinrich Riehl oder Otto Brunner. Dies ist ein Fortschritt. Vor dem Hintergrund der verschiedenen konzeptionellen ‚Wenden‘ der Geschichtswissenschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten fällt allerdings auf, welche Gesichtspunkte bei einem solchen Fokus auf „the evolution of family reproduction“ (S. 531) fehlen. So vermisst man folgende Aspekte: Akteurinnen und Akteure im Haus, lebensweltliche Praktiken, generationelle und Geschlechterrollen im Alltag, Interaktionen mit Nachbarn, hausinterne Konflikte und deren Regulierung, performative Selbstinszenierungen als Familie oder ‚Haus‘. All dies wird nicht thematisiert. Relevant bleibt der interkulturelle Vergleich, der mit den primär quantitativen Mitteln der sozialhistorischen Familienforschung ausgelotet wird. Darüber hinaus wird der im Untertitel des Bands genannte Begriff der ‚House Societies‘ sicher noch viel Forschung inspirieren.

Anmerkung:
1 John Hajnal, European marriage patterns in perspective; in: David V. Glass / David E.C. Eversley (Hrsg.), Population in history. Essays in historical demography, London 1965, S. 101–143; Peter Laslett, The world we have lost, 1. Aufl., London 1965.

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