Die Rote Armee Fraktion in Film und Literatur

: Filmgeschichte als Diskursgeschichte. Die RAF im deutschen Spielfilm. Münster 2012 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-10437-3 118 S. € 19,90

: Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls "Katharina Blum" bis zum "Baader-Meinhof-Komplex". Paderborn 2012 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77378-4 514 S. € 58.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Ahrens, Institut für Soziologie, Universität Gießen

Seit Kurzem erschließen die Sozial- und die Geschichtswissenschaften das Medium Film als epistemologisch bedeutsam. Mit Blick auf die zentrale kulturelle Stellung von Film im 20. Jahrhundert erfolgt diese neue Wertschätzung spät und scheint reichlich überfällig. Umgekehrt ist sich die Filmwissenschaft seit Längerem der gesellschaftlichen und historischen Indexikalität ihres Gegenstandes bewusst. Verwundern kann das nicht, stellt doch eine der Gründungsschriften der Filmwissenschaft, Siegfried Kracauers Von Caligari zu Hitler, den Versuch einer Synthese zwischen einer medienformalen Analyse des Films, seiner kulturhistorischen Einordnung und seiner gesellschaftlich-poltischen Bedeutung dar.

In jüngster Zeit erscheinen vermehrt Studien, die das Verhältnis zwischen Gesellschaftswissenschaften und dem Medium Film oder umgekehrt zwischen Filmwissenschaft und gesellschaftlichen Kontexten in den Blick nehmen. Dies geschieht auffallend häufig über das Thema des Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Dabei ist erstaunlich, dass bislang keine umfassende Studie zur Verarbeitung des Phänomens der RAF in Film und Literatur vorlag. Schließlich haben Film und Literatur als gesellschaftliche Leitmedien schnell und umfangreich auf den Terrorismus in Deutschland, seine gesellschaftlichen Auswirkungen und seine biografischen Dramen reagiert. Obwohl es mindestens seit den 1980er-Jahren eine umfassende sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der RAF gibt, fehlten bislang Untersuchungen im Feld kultureller Performanz. Symptomatisch ist, dass dies erst im Gefolge der ebenso wegweisenden wie umstrittenen Ausstellung „Zur Vorstellung des Terrors“, 2005 in den Berliner KunstWerken, und mit der seit 2007 massiver einsetzenden Historisierung der RAF geschieht.

Zwei substantielle Beiträge zum Thema stellen die Untersuchungen von Julia Schumacher und Cordia Baumann dar. Diese nähern sich insbesondere den filmischen Verarbeitungen der RAF und beabsichtigen darüber eine Einordnung in zeitgeschichtlich definierte gesellschaftliche Diskurslagen. Beide Arbeiten einigt die Absicht, neben der inhaltlichen Analyse und fachlichen Einordnung einen Beitrag zur methodischen Erschließung ihres Gegenstandes zu leisten. So signalisiert Julia Schumacher schon im Titel ihrer Studie, dass sie „Filmgeschichte als Diskursgeschichte“ versteht. Schumacher nimmt explizit Bezug auf Kracauers Verständnis von Film als „Ausdruck der gesellschaftlich geteilten Vorstellungen und Gefühlszustände einer Nation“ (S.4). Das filmische Artefakt stellt nicht nur kulturelle Symbolisierungsleistungen und Ikonisierungen kultureller Kontexte bereit, die sich im filmischen Narrativ und seiner ästhetischen Inszenierung exemplarisch verdichten. Vielmehr wird der einzelne Film selbst zu einem gesellschaftlichen Datum, das von empirischer Qualität ist. Dieses Vorgehen verbindet Schumacher mit dem medienwissenschaftlichen Ansatz von Siegfried J. Schmidt, der davon ausgeht, dass soziale Individuen sich mithilfe von Medien auf verbindliche Modelle von Wirklichkeit einigen. Diese Lesart koppelt sie mit einem foucaultianischen Verständnis von Diskursen als intersubjektiven Machtbeziehungen. So kann sie sich Filmen als einem kulturellen Material nähern, das in sich bestimmte symbolische gesellschaftliche Kommunikationen aufhebt. Einen ähnlichen Zugang wählt Cordia Baumann, die neben Filmen auch literarische Produktionen untersucht. Methodisch liegt ihr Augenmerk aber klar beim Film, den sie, insbesondere aufgrund der „Prägekraft von Filmen auf das kollektive Gedächtnis“ (S. 20) für eine Verwendung in der Geschichtswissenschaft erschließen möchte.

Schumachers Buch geht auf eine an der Universität Hamburg vorgelegte Magisterarbeit zurück. Damit ist bereits die wesentliche Schwäche ihrer eigentlich sehr gelungenen Studie benannt. Umfang und Qualifikationsniveau einer Magisterarbeit erlauben naturgemäß keinen umfassenden Zugriff auf den Materialkorpus. Eine hinreichend komparative Analyse der Filme, die sich seit den 1970er-Jahren mit der RAF auseinandergesetzt haben, ist hier allein vom Volumen her nicht möglich. Daher beschränkt sich Schumacher auch auf die Analyse von zwei für sie exemplarischen Filmen – Margarate von Trottas Die bleierne Zeit (1982) und Heinrich Breloers Todesspiel (1997). So gelungen deren Interpretation auch ausfallen mag, die tektonischen Verschiebungen im filmischen Diskurs, der zugleich als Abbildung gesellschaftlicher Diskurse gelesen wird, lassen sich so nicht zeigen, sondern nur grob erahnen.

Das ist gerade wegen Schumachers umsichtiger Analyse von Breloers Todesspiel umso bedauerlicher, die hochgradig informativ und klug ausfällt. Dort gelingt es ihr überzeugend, zu zeigen, welche Veränderung speziell die Figur Hanns Martin Schleyers erfährt. Dieser rückt in Breloers Film erstmals in den Vordergrund der Darstellung und wird durchweg positiv als Mensch und Opfer gezeichnet. Seine nationalsozialistische Vergangenheit spielt dagegen kaum eine Rolle. Schleyer, wie auch die gezeigten Regierungsvertreter, werden zu Personen mit Individualität und charakterlicher Tiefe. In keiner Weise fungieren sie mehr als Chiffren für gesellschaftliche, politische und historische Zusammenhänge oder Machtverhältnisse. Wahrscheinlich wäre Breloers Position, Schleyer als eine solche Chiffre darzustellen, hieße der Intention der RAF in die Hände zu spielen.

Zu Chiffren eines inhumanen Aufbegehrens werden für Breloer stattdessen die Mitglieder der RAF, die bei ihm nicht mehr Individuen mit einer Geschichte sind, die sie an den „deutschen Verhältnissen“ (Peter Brückner) scheitern lässt. Insbesondere zeigt dies Schumachers Analyse des Verhörs, dem die RAF Schleyer unterzieht. Dies wird von Breloer genutzt, um die RAF selbst als faschistoid zu demaskieren, während er entscheidende Informationen zu Schleyer gar nicht oder nur verklausuliert ausgibt. Gegen den Duktus des Dokudramas, das eine neutrale Faktendarstellung suggeriert, macht Schumacher klar, welche exzeptionelle Rolle einem Film wie Todesspiel innerhalb laufender Diskurspolitiken der Gegenwart zukommt. Die gesellschaftliche Perspektive auf die RAF und speziell auf den Deutschen Herbst wurde unter anderem durch Breloers Fernsehzweiteiler maßgeblich neu definiert. Über solche Filme und die sie begleitende Mediendiskussion werden sozial Perspektivierungen etabliert, die „gesellschaftlich geteilte Vorstellungen“ ikonisch und narrativ ermöglichen und diskursiv herstellen.

Das Verdienst, Breloers strategischen Ansatz innerhalb eines Deutungsdiskurses der Gegenwart zur jüngeren (west-)deutschen Geschichte herauszuarbeiten, zeichnet Schumachers Studie besonders aus. Zwar ist auch die Analyse von Trottas Die bleierne Zeit als Überblendung von Biografiegeschichte und Gesellschaftsgeschichte durchaus gelungen, die Stärke der Studie liegt aber eindeutig auf dem Kapitel zu Breloers Film. Gerade vor diesem Hintergrund stellt sich einmal mehr die Frage nach dem Sinn einer Publikation von Examensarbeiten. In diesem Fall wäre es zweifellos ratsamer gewesen, die Magisterarbeit als Grundlage für ein oder zwei Aufsätze zu nutzen und den Rest des Materials eventuell in ein größer und systematischer angelegtes Promotionsprojekt einfließen zu lassen. So aber bleibt es eine Monografie, die zwar mit einem für die Diskussion um das Verhältnis von RAF, Gesellschaft und Film wichtigem Kapitel brilliert, darüber hinaus aber aufgrund ihrer zwangsläufigen methodischen, analytischen und materialhaften Begrenzungen notgedrungen ein Torso bleiben muss.

Einen solchen Torso stellt Baumanns umfangreiche Studie, eine Dissertation an der Universität Heidelberg, gerade nicht dar. Mit großer Akribie hat sie zahlreiche Verarbeitungen der RAF und des Deutschen Herbstes in Film und Literatur zusammengetragen. Mit beeindruckender Gründlichkeit und in der Absicht, zu zeigen, „wie Historiker diese Quellen einbinden und analysieren können“ (S. 389), hat Baumann ein Buch vorgelegt, das zweifellos den Standard für eine Beschäftigung mit dem Thema auf der Materialebene setzen wird. Wer sich künftig mit literarischen und filmischen Produktionen im Umfeld der RAF auseinandersetzen will, sollte zunächst Baumanns Buch konsultieren. Auf dieser Ebene der Sammlung und der Sichtung liegt das bleibende Verdienst dieser Arbeit. Ob ihr programmatischer Anspruch ebenso eingelöst ist, bleibt fraglich. Die Schwachstelle der Arbeit sieht Baumann selbst sehr genau, wenn sie einschränkend bemerkt: „Die Vielzahl der Quellen erlaubte es nicht, auf alle Randaspekte der Entstehungszusammenhänge und die gesamte Rezeptionsbreite einzugehen […]“ (S. 389). Daraus resultiert aber nicht bloß ein formales, sondern ein für die Untersuchung gravierend strukturelles Problem, was ihren analytischen Wert angeht.

Schließlich versteht diese sich keineswegs primär als Materialsammlung und ist so auch nicht aufgebaut. Vielmehr exponiert Baumann die Aspekte einer inhaltlichen Analyse. So möchte sie doch im Anschluss an Roland Barthes und dessen Mythen des Alltags zeigen, wie über kulturelle Artefakte gesellschaftlich ein „Mythos RAF“ emergiert ist, von dem publizistisch und politisch häufig gesprochen wird. Dieser Ansatz hat durchaus instruktives Potenzial, ließe sich doch über Barthes’ Kultursemiotik sowie weitere Ansätze wie die von Umberto Eco, Hayden White und anderen zeigen, wie sich als Mythos zu bezeichnende Narrationen im Feld kultureller, gesellschaftlicher, politischer Diskurse verdichten und hier bedeutungsstiftend wirksam werden. Der Mythos wäre somit eng verbunden mit Schumachers Begriff des Diskurses. Doch nicht nur sucht man den Namen Michel Foucault in Baumanns Dissertation vergebens, obwohl gerade für die von ihr formulierte Forschungsperspektive ein diskursanalytischer Ansatz instruktiv gewesen wäre.

Auch der analytische Bezug auf kulturelle Verfahren der Mythologisierung wird rasch zur Floskel, die Baumann genauso formelhaft verwendet wie die Diskursprotagonisten, deren Begriffsverwendung sie einmal zu ihrer Arbeit inspiriert hatte. Dabei geht Baumann in ihrem theoretischen Aufriss zum Begriff des Mythos und zu Praktiken der Mythisierung durchaus kenntnisreich vor. Sie verbindet Barthes mit Hans Blumenberg und führt unter Bezugnahme auf die beständige Variation von „Erzählvarianten“ im Rahmen der Mythologisierung auch das Zusammenspiel von „Entmythologisierung“ und „Remythologisierung“ aus (S. 33). Diese Ansätze verbindet sie mit der kulturwissenschaftlichen Diskussion um Erinnerung und Gedächtnis im Anschluss an Maurice Halbwachs und Jan Assmann und findet in dem bei Günter Riederer entnommenen Begriff der „Mythomotoren“ ein instruktives analytisches Werkzeug. Ihre Akzentuierung soll darauf liegen, die „Prägekraft von Spielfilmen, TV-Sendungen und populären Romanen“ als mediale „Impulsgeber“ für das kollektive Gedächtnis nachzuzeichnen (S. 42). Deshalb wählt sie für ihre Arbeit schließlich auch keinen chronologisch verfahrenden Aufbau, sondern gliedert diese nach inhaltlichen Aspekten.

Umso bedauerlicher bleibt es, dass Baumann diese ambitionierte Agenda nicht einlöst: Ihre Studie bleibt im Kern eine Materialsammlung. Innerhalb der einzelnen Gliederungspunkte verfährt sie strikt chronologisch und orientiert sich an drei gesellschaftlich/kulturellen Rezeptionsphasen der RAF (frühe Phase, 1970er- und 1980er-Jahre; mittlere Phase, 1990er-Jahre; späte, bis heute andauernde Phase), die sie immer neu durchspielt. Stellt sich damit schon die Frage, ob ihr dann nicht mit einem insgesamt chronologischen Aufbau mehr gedient gewesen wäre, der für den Leser im Labyrinth des Materials auch übersichtlicher gewesen wäre, so wird dieser Eindruck durch Baumanns Vorgehen in den einzelnen Abschnitten unterstrichen. Entlang ihrer chronologischen Einteilung arbeitet die Autorin der Reihe nach einzelne Beiträge ab. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf die Wiedergabe der Narrative.

Wofür sich Baumann irritierenderweise fast gar nicht interessiert, ist eine Analyse ihres Materials in der von ihr selbst proklamierten Perspektive einer Nacharbeitung von Filmen und Literatur als Elementen einer kulturellen Mythentradierung. Nur nebenbei wird hierauf noch Bezug genommen und dies uninspiriert und schlagwortartig. Weder geht Baumann auf Inszenierungsweisen ein, noch bezieht sie zeitgenössische Diskussionen, politische Kontexte und ästhetische Verfahren ein. Ohne all dies ist ihr Thema aber gar nicht aufzuschlüsseln. So bleibt ihre Interpretation von Breloers Todesspiel weit hinter Schumachers Analyse zurück – zumal diese sich, wie bei fast allen behandelten Werken, dank der inhaltlichen Gliederung auf eine Vielzahl an Kapiteln verteilt. Zwar stellt Baumann lapidar fest, die Zeichnung der Regierung habe sich seit Breloer geändert, beziehungsweise zuvor sei diese gar nicht in Erscheinung getreten, doch knüpft sie an diesen Befund nicht eine Frage an – abgesehen davon, dass sie sich wundert, wie wenig sich etwa von Trottas Die bleierne Zeit oder Reinhard Hauffs Messer im Kopf für die immanenten Strukturen in den Institutionen oder für die Menschen, die sie verkörpern, interessieren.

Um solchen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, hätte es mehr bedurft, als nur einer braven Sammlung an Material und deren Ausbreitung. Dazu hätte man die untersuchten Filme und Romane in laufende Diskurslagen einordnen müssen. Man hätte sie auf zeitgenössische Theorieströmungen sowie auf die politischen Diskussionen und Hintergründe der Zeit beziehen müssen. Solche Filme sind weder verstehbar ohne Einbezug theoretischer Ansätze noch ohne eine Aufbereitung des Zeitkolorits. So subtil sie gearbeitet sein mögen, bleiben von Trottas und Hauffs Filme doch Eingriffe in ihre Gegenwart. Der Staat ist darin eine gesichtslose Institution, höchstens ein „ideologischer Staatsapparat“ (Louis Althusser), der Herrschaft exekutiert; erst in zweiter Linie geht es um eine normative Bewertung einzelner Handlungen. Im Falle Breloers, der Geschichtsschreibung aus der Distanz und, mit Walter Benjamin, aus der Position der Sieger heraus betreibt, liegt das ganz anders.

Damit scheitert Baumanns Studie am eigenen Anspruch. Hätte sie ihr Material gekürzt, sich auf Film oder Literatur beschränkt und den verbleibenden Korpus für eine ihren eigenen Ansprüchen Genüge tragende Analyse genutzt, dann hätte sie vielleicht nicht nur eine informative, in der Form aber unübersichtliche Materialsammlung vorgelegt, sondern auch eine instruktive Analyse zum geschichtswissenschaftlichen Umgang mit kulturellen Artefakten in Form von Medienprodukten.

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