S. Krebs u.a. (Hrsg.): Landschaften quer Denken

Cover
Titel
Landschaften quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen


Herausgeber
Krebs, Stefanie; Seifert, Manfred
Reihe
Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 39
Erschienen
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Speckels, Institut für Materielle Kultur, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Landschaft hat Konjunktur – und Landschaft befindet sich in Bearbeitung. Die Veröffentlichung „Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen“ bündelt die Hauptvorträge der gleichnamigen Tagung, die im September 2009 an der Technischen Universität Dresden vom interdisziplinären Arbeitskreis Landschaftstheorie (AKL) und dem Bereich Volkskunde am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (IGSV) gemeinsam veranstaltet wurde. Sie hatte Vertreter/innen aus Forschung, Planung und Gestaltung zusammengebracht. Der Titel ist dabei Programm: Der Band bietet sowohl einen Abriss europäischer Landschaftsgeschichte als auch ihre kritische Revision in unterschiedlichen disziplinären Perspektiven. Im pluridisziplinären Zusammenwirken brechen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaftler/innen das fest gefügte Gehäuse Landschaft auf und relativieren dessen Vorstellungsfeld in Form neuer Zugänge und Entwürfe: „Landschaft quer denken als Herausforderung“ (S. 19). Mit dem in der Publikation erstmals veröffentlichten „Dresdner Manifest“ präsentieren die Verfasser/innen Guido Fackler, Norbert Fischer, Stefanie Krebs, Manfred Seifert und Miriam Volmert in 6 Thesen die topologisch orientierte Konzeption einer übergreifenden Landschaftstheorie.

Die Anthologie ist in fünf Sektionen aufgeteilt: 1. Theorie der Landschaft: Zwischen Bild und Prozess, 2. Künstlerische Produktion und Rezeption von Landschaft, 3. Modellierte Landschaften, 4. Zwischenräume – Räume ohne Bilder? und 5. Mobilitätslandschaften.

Anknüpfungspunkte aller Beiträge sind Darstellungen von Landschaft, die in verschiedenen Kontexten und aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive analysiert werden. Zunächst erläutert der Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer aktuelle landschaftstheoretische Diskurse im Vergleich zu dem von Joachim Ritter geprägten Landschaftsbegriff. Dabei entwickelt er Aspekte des ästhetischen Verhältnisses zur Natur anknüpfend an den Philosophen Martin Seel weiter und zeigt seine Rezeptionsgeschichte bis in die Möglichkeitsräume des Alltäglichen auf. Dass Landschaft Gegenstand performativen Handelns ist, verdeutlicht die Landschaftsarchitektin Stefanie Krebs. Sie erläutert den erweiterten Landschaftsbegriff im theoretischen Verständnis unter anderem von John Brinckerhoff Jackson sowie Denis Cosgrove und sensibilisiert mit Michel Serres zur Auseinandersetzung mit der Umgebung, zum ‚Visitieren!’. Die Landschaftsarchitektin Lucia Grosse-Bächle stellt Landschaft als Labor, Entwerfen als forschende Praxis zur Auseinandersetzung mit Landschaft vor. Veränderungen disziplinärer Zugangsweisen rekapituliert der Volkskundler Manfred Seifert in seinem Beitrag „Ethnologisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Raum und Landschaft“. Im Unterschied zu den für die Ästhetik des Landschaftsbegriffs gesellschaftlich nachwirkenden Vorstellungen von Raum und Landschaft als kulturbestimmende Größen in der älteren volkskundlichen Forschung werden sie heute als gesellschaftliche-kulturelle Konstruktionen begriffen. „Einen kulturwissenschaftlich relevanten Raum kennzeichnet damit nicht mehr primär die objektive räumliche Lage, sondern das beim Subjekt von innen heraus entworfene Verhältnis zur Welt.“ (S. 67)

Dem Erbe künstlerischer Produktion und Rezeption von Landschaft widmet sich die zweite Sektion. Die Kunsthistorikerin Miriam Volmert betrachtet politisch-historische Kontexte von Landschaftsmalerei im Holland des 17. Jahrhunderts. Anhand populärer Reiseberichte erörtert der Anglist Stephan Kohl „moralische Implikationen ästhetisch konstruierter Landschaften: Nordengland vs. Südengland“ im 20. Jahrhundert. Rainer Guldin, Literatur- und Kulturwissenschaftler, beleuchtet unter dem Titel „Luftschaften – Zur Rolle der Wolken in der Konstitution von Landschaften“ diese Zeichen bildhafter Raum-Definition im Vergleich von chinesischer und europäischer Malerei.

Mit der Analyse zum Dresdner Welterbestreit des Volkskundlers Sönke Friedreich beginnt die dritte Sektion, die sich Erfahrungsweisen von Landschaft und ihren Modellierungen widmet. Sie verdeutlicht den Mythos der ‚schönen Stadt’, der allen historischen Erfahrungen zum Trotz gleichsam unverwundbar erscheint. Möglichkeiten zur Wahrnehmung und Darstellung von Landschaft in einem prozesshaften Verständnis zeigt die Landschaftshistorikerin Annemarie Bucher auf. Sie akzentuiert gegenwärtige Erfahrung von Stadtlandschaft als doppelt mobilisiert. Anhand von Tonaufnahmen in zwei Zeitschnitten desselben Ortes stellt der Geograph Justin Winkler das Verhältnis von Klanglandschaft und Zeitlandschaft vor. Warum Dresden als schön empfunden wird, erläutert der Soziologe und Ethnologe Rolf Lindner mit seinem Konzept der Geschmackslandschaft. Er zeigt, wie Artefakte zu Erkennungssphären und Stadtlandschaften als soziale Distinktionsräume modelliert wurden, zu kulturellen Geschmacks-scapes sozusagen. Neue Codierungen des Verhältnisses von Natur und Kultur erläutert die Landschaftspflegerin Monika Sommer in ihrem Beitrag „Die Farben der Ökologie“.

Die vierte Sektion verhandelt Muster und Modelle veränderter Darstellungsweisen, Schnittstellen alter und neuer Landschaftsbegriffe im historischen Prozess. Eingangs rekapituliert der Architekturtheoretiker Thomas Sieverts die internationale Rezeption seines Konzepts der „Zwischenstadt“ – einem Modell, das historisch unterschiedlich realisiert wird. Der Geograph Jürgen Hasse wendet sich in seinem Beitrag „Parkhäuser – Schwarze Löcher in der Stadtlandschaft“ einem modernen urbanen Element und mit europäischen Hochgaragen automobilen Distinktionsverschiebungen zu. Der Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer entschlüsselt in seinem Beitrag „Metamorphosen des Landschaftsbegriffs Patchwork-Landschaften in Postsuburbia“ die grundlegenden Veränderungen des Landschaftsverständnisses im Zuge der industriellen und postindustriellen Entwicklungen. Er analysiert auch jüngste Konzepte und Repräsentationen wie ‚landscape abused’ oder ‚Mikrolandschaften’ im Rückbezug auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen am Beispiel der Metropolregion Hamburg. Deutlich wird, dass der Wandel der Wahrnehmungen geschichtlich „seinerseits von den sich materiell niederschlagenden Wechselwirkungen zwischen Natur, Kultur und Gesellschaft.“ zeugt (S. 245).

Die letzte Sektion, „Mobilitätslandschaften“, vertieft den Blick auf Landschaft als ästhetische und soziale Produktion bzw. Rezeption im Kontext von Modernisierungsprozessen. Als ‚Flussschaft’ entwirft der Ethnograph Andreas Martin die auf ‚Strecke’ ausgerichtete Lebensweise von Binnenschiffern und ihre Formung natürlicher, ökonomischer und sozialer Bedingungen – als „Reduzierung durch Bewegung“. Mit seinem Beitrag „Von Technotopen der Beschleunigung zu ‚Biotopen’ der Entschleunigung: Kanallandschaften“ fokussiert der Volkskundler Guido Fackler den Übergang von einem rational-technischen Paradigma zu veränderten sozialen Aneignungsweisen des Raumes. Er analysiert Kanäle als einst gefeierte Gegenstände einer Verkehrs- und Infrastrukturtechnik sowie gefallene und wiederentdeckte bzw. zum heritage gewordene Landschaftselemente. Der Historiker Thomas Zeller präsentiert die Voraussetzungen veränderter Wahrnehmungsweisen als Folge und Bestandteil technisch durchmodellierter Landschaftsgestaltungen. Er zeigt in seiner Untersuchung von europäischen Alpenstraßen und amerikanischen ‚parkways’, wie „Landschaft Teil eines nationaltouristisch definierten Konsums“ (S. 297) wurde, der unterschiedlichen Konditionen unterlag.

Landschaft als Erfahrungs- und Vorstellungsraum sowie als Forschungsterrain der Moderne: Gemeinsam ist allen Darstellungen der Bezugspunkt Mobilität, der damit als konstitutiv für moderne Landschaftskonstruktionen erscheint.

Die Fallstudien unterschiedlicher gesellschaftlicher Konstellationen verdeutlichen die im Alltag selbstverständlich erscheinende Identität des Raums als diskontinuierlich erzeugt. Die Autor/innen gehen von Objektivationen aus, die auch als Marksteine mit der klassischen Landschaftsgeschichte vernetzt sind, untersuchen sie jedoch im Hinblick auf ihre Entstehungszusammenhänge, sozialen und politischen Kontexte, wie es der Beitrag von Miriam Volmert besonders anschaulich vorführt. Artefakte werden wie Museumsstücke erschlossen, die Zeugnis ablegen von der Formkraft der „Ästhetisierung der Weltansicht der Gebildeten“, die in „Verallgemeinerung des landschaftlichen Blicks“ „Wahrnehmung von Wirklichkeit“ normierte (S. 187). Neue Konzepte wie Flussschaft, Geschmackslandschaft, Patchworklandschaft, Timescape oder Luftschaft transgredieren die ästhetische Erfahrung des bürgerlichen Blicks auf eine dritte Ebene zivilgesellschaftlich orientierter Bewegungen. Die Sektionen schaffen Rückbindung an eine Produktionsgeschichte der Moderne, an der wir als Interessenten der Strukturen des öffentlichen Raums teilhaben.

Landschaftsgeschichte wird so in ihrer sozialen Formierungskraft in den Blick genommen und als mentalitätshistorisches Modell, zu dem sie im Prozess der Moderne geronnen ist. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit den blinden Flecken disziplinärer Zugänge. Deren gesellschaftlich-historischen Hintergrund verdeutlicht die Darstellung zur Entwicklung des Landschaftsbegriffs und fachwissenschaftlichem Diskurs von Norbert Fischer und Manfred Seifert. Erst im nationalen 19. Jahrhundert ist der Begriff Landschaft enzyklopädisch greifbar. In Auflösung der Dichotomie von Natur- und Kulturlandschaft verschränkt sich die theoretische Erörterung des Räumlichen postindustriell mit Begriffen des Sozialen. Die definitorische Vorherrschaft einer dem klassischen Raumdeterminismus verpflichteten geografischen Sichtweise wird im Blick auf dessen Konstruktionsweisen überwunden.

Die Veröffentlichung überführt die älteren gesellschaftspolitischen Deutungen des Beschleunigungstheorems sowie der mit ihm verknüpften Kompensationsansätze in eine dynamische Aktualität des sozialen Handlungsraums. Das Paradigma Landschaft als transdisziplinäres Problem sowie relevante Agentin der Wissensproduktion aufzuwerfen, gibt vielfältige Impulse für Theorie und Praxis und eröffnet neue Sichtweisen auf raumordnende und Wirklichkeit bestimmende Prozesse. Norbert Fischer plädiert dafür, die gesellschaftskritischen Potentiale einer dynamischen Landschaftsperspektive verstärkt zu nutzen. Nach den Verwerfungen, die der akademische spatial turn hervorgebracht hat, Forschung wieder sozial und gesellschaftlich zu orientieren, ohne kurzschlüssig nur praktisch zu wirken, könnte ein Gewinn der Dresdner Intervention sein.