A. Schulz u.a. (Hrsg.): Das Parlament als Kommunikationsraum

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Titel
Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum


Herausgeber
Schulz, Andreas; Wirsching, Andreas; Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 162
Erschienen
Düsseldorf 2012: Droste Verlag
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Weidner, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Parlamentarische Kommunikation erfreut sich seit einiger Zeit in der historischen Forschung neuer Beliebtheit. Ein Bezug zur Stoßrichtung kultur- und politikgeschichtlicher Debatten der letzten Jahre ist dabei unübersehbar: Die Verfechter der Neuen Kulturgeschichte rückten seit den 1990er-Jahren symbolische Praktiken und Repräsentationen in den Fokus. Die Diskussion um eine Neue Politikgeschichte kreiste in den 2000er-Jahren intensiv um die Begriffe ‚Kommunikation‘ und ‚Kommunikationsraum‘. Die „parlamentarischen Kulturen“ drängen sich damit schon vor dem Hintergrund gängiger Alltagsverständnisse als Gegenstand auf: Die Kritik am ‚bloß‘ symbolischen Handeln von Politikern ist allgegenwärtig – und dass Parlamentarier etwas repräsentieren, steht außer Zweifel. Im Parlament wird außerdem per Definition viel kommuniziert. Das Parlament als ‚Kommunikationsraum‘ zu begreifen, liegt also nahe. Vor dem Hintergrund solcher Alltagsverständnisse – das zeigt auch die Kritik ‚klassischer‘ Politikhistoriker an den neuen Ansätzen – lassen sich Kommunikation und symbolische Praxis im Parlament allerdings nur zu leicht als Epiphänomene der ‚eigentlichen‘ und, wie es oft hieß, ‚harten‘ Machtkonstellationen abtun.

Doch der Anspruch der Kultur- und Kommunikationsgeschichte geht deutlich weiter. Der anzuzeigende Band versammelt eine Fülle von Beiträgen, die antreten, „parlamentarische[…] Kultur“ nicht als „Supplement einer Institutionenanalyse“ zu begreifen (Andreas Schulz / Andreas Wirsching, S. 11f.). Damit ist der Band auch forschungspolitisch ein klares Plädoyer, Symbol- und Deutungssysteme nicht als schmückendes Beiwerk der ‚wirklichen‘ Machtverhältnisse, sondern als deren Kern stark zu machen. All jene, die die einschlägigen politik- und parlamentarismushistorischen Debatten der letzten Jahre verfolgt haben, mag diese Herangehensweise nicht überraschen. Der interdisziplinär angelegte Band – der erste in einer vielversprechenden neuen Reihe der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien – erweist sich aber in verschiedener Hinsicht als weiterführend.

Er versammelt allein 15 empirische Beiträge, die (größtenteils) den Mehrwert der neuen politikgeschichtlichen Perspektive an gut gewählten Beispielen oder in dichten diachronen Überblicken plastisch machen. Pointierte exemplarische Studien (unter anderem Hélène Miard-Delacroix’ vielschichtige Analyse von Reden ausländischer Gäste im Deutschen Bundestag) finden ebenso Platz wie breite, routinierte Überblicke mit ausgeprägten Langzeitthesen (beispielsweise der Text von Mitherausgeber Schulz zum Wandel von Redneridealen im 19. Jahrhundert).

Der Erklärungsanspruch und die Reichweite der Beiträge sind durchaus unterschiedlich. In der Zusammenschau zeichnen sich aber Anhalts- und Eckpunkte einer europäisch vergleichenden Geschichte des Parlamentarismus im 19. und 20. Jahrhundert ab, die über die klassische Ideen-, Verfassungs- und Institutionengeschichte hinausgeht. Besonders die Beiträge, die die medialen Transformationen (Frank Bösch) sowie die visuellen (unter anderem Andreas Biefang) und sprachlichen Repräsentationen des Parlamentarismus (beispielsweise Thomas Mergel) in Längsschnitten vergleichend in den Blick nehmen, liefern überzeugende Typisierungen und Periodisierungsvorschläge. Insgesamt wird ein fundamentaler Wandel der parlamentarischen Kultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts betont: Die „Presse- und Medienrevolution“ erweiterte den „Resonanzraum parlamentarischen Handelns nahezu unbegrenzt“, was die „Responsivität“ der Parlamente gegenüber der Öffentlichkeit erheblich erhöhte und letztlich zum Wandel der „parlamentarische[n] Repräsentationskultur“ führte (Schulz / Wirsching, S. 20). Aufgezeigt werden die feinen Abstufungen und Aporien dieser Tendenz unter anderem am Wandel der öffentlichen Präsenz von Parlamentsbauten (Ines Soldwisch und Stefan Paulus), aber auch am Beispiel von Gewaltpraktiken im parlamentarischen Kontext (Tobias Kaiser).

Nicht nur die Jahrhundertmitte, sondern auch die Zeit um die Jahrhundertwende 1900, also die ‚klassische Moderne‘ mit ihrem neuartigen (massen-)medialen Ensemble (dazu zum Beispiel Andreas Biefang, S. 363), wird in den Beiträgen des Bandes immer deutlicher als Umbruchphase erkennbar: An den Konfigurationen der Visibilität von Politik im Allgemeinen und des Parlamentarismus im Speziellen (siehe besonders Luboš Velek, S. 350ff.) veränderte sich Grundlegendes: Die mediale Sichtbarkeit von individuellen Parlamentariern wurde immer wichtiger und das Ideal der Transparenz parlamentarischer Prozesse gewann an Bedeutung.

Zurückhaltend geben sich die Herausgeber und die meisten Autoren allerdings, wenn es darum geht, einen langfristigen Trend zu „medial vermittelten, symbolisch visuellen und theatralisch-inszenatorischen Formen“ (S. 21) parlamentarischer Kommunikation in die Gegenwart zu extrapolieren. Lediglich der Sprachwissenschaftler Armin Burkhardt gibt sich im Zuge seiner Analyse parlamentarischer Sprachformen im Deutschen Bundestag sehr entschieden: Er verficht eine These der „Pervertierung“ der Sprachformen im „Schaufensterparlament“ und konstatiert eine Degeneration zum „mehr oder weniger inszenierten Schaukampf“ (S. 303). Solch kulturkritische Untertöne, die letztlich hinter dem komplexen Begriff des Symbolischen zurückbleiben, an dem die anderen Beiträger sich abarbeiten, werden sonst vermieden.

Ein weiteres Verdienst des Bandes besteht darin, Fragen des europäischen Vergleichs und Transfers parlamentarischer Kultur systematisch anzugehen. Das Desiderat, nicht nur die klassischen ‚Mutterländer‘ des Parlamentarismus, also besonders England und Frankreich, in den Blick zu nehmen und in eine Synthese zu integrieren, gehen mehrere Autoren zwar an. Europa wurde aber, wie die Herausgeber einräumen, zumindest in diesem ersten Band der Reihe „an den Rändern gestutzt“ (S. 14). Präsentiert werden am Ende Versatzstücke einer unter anderem um die Niederlande (Carla van Baalen / Anne Bos) erweiterten Geschichte der ‚Mutterländer‘ sowie ein genauerer Blick auf die Habsburgermonarchie (samt ihrer Nachfolgestaaten) und ‚Deutschland‘.1 Die Herausgeber machen es sich in der Einleitung nicht leicht, das Verhältnis von anspruchsvollem europäischem Vergleichskonzept und pragmatischer Umsetzung auszutarieren. Letztlich plädieren sie für ein „fluides“ Europakonzept. Damit drängt sich geradezu die Frage auf, ob es nicht weiterführen könnte, die Europäizität des Parlamentarismus als Deutungsmuster systematisch zu historisieren – also beispielsweise in Legitimationsdiskursen, aber auch in der Parlamentarismuskritik Europabezügen diachron nachzugehen. Umgekehrt zöge dies allerdings die Frage nach sich, warum man die Europäizität indirekt fortschreibt und den Parlamentarismus nicht gleich als globales Phänomen in den Fokus rückt. Die spannenden Bezüge zur nordamerikanischen Gegenwart, die Henk te Velde in seiner Analyse parlamentarischer Obstruktionspraktiken herstellt, machen den Mehrwert einer solchen, an Transfers orientierten Weitung der Perspektive bereits deutlich.

Die ‚gestutzte‘ Umsetzung des Vergleichsansatzes mag auf den ersten Blick unbefriedigend erscheinen. Weiterführend und aufschlussreich sind die Befunde des Bandes dennoch ohne Zweifel. Bereits jetzt vertieft beispielsweise der Fokus auf „Vielvölkerstaaten“ (wie den habsburgischen) das Verständnis des komplexen Verhältnisses von Parlamentarismus und Nationalstaat. Janko Prunk und Marjetka Rangus kommen in ihrem räumlich breit angelegten Beitrag beispielsweise zu der These, dass Versuche politischer Lösungen für Nationalitätenprobleme im Rahmen von einheitsstaatlichem Parlamentarismus stets scheiterten. Für den gesamteuropäischen Parlamentarismus der Gegenwart ist dies wohl ein beunruhigender Befund, sicher aber ein Denkanstoß.

Deutlich wird im Band ebenfalls: Es gibt selbst in den erweiterten Kernbereichen des ‚gelingenden‘ westlichen Parlamentarismus noch genug zu tun. Das ist zumindest der Fall, wenn man sich auf den kommunikationsgeschichtlichen Ansatz, Vergleich oder Transfer systematisch einlässt und nicht im Rahmen klassischer funktionalistischer Institutionenanalysen verbleiben will. Kein Mangel besteht bereits jetzt an Überlegungen zu den Theorie- und Methodenproblemen einer ‚neuen‘ Geschichte parlamentarischer Kommunikation. Allein der Theorieabschnitt des Bandes versammelt (neben der instruktiven Einleitung weitere) vier Spezialisten, die sich dem kommunikationsgeschichtlichen Blick auf parlamentarische Kulturen aus unterschiedlichen Richtungen annähern. Allen Einsteigern in die Materie seien besonders Barbara Stollberg-Rilingers „Grundsätzliche kommentierende Überlegungen“ empfohlen, die den Leser knapp und konzise in den Debattenstand zur ‚Kulturgeschichte des Politischen‘ einführt. Werner J. Patzelt entwirft aus politikwissenschaftlicher Perspektive einen analytischen Bezugsrahmen, um das „Parlament als Kommunikationsraum“ zu fassen.
Abschließend sei der Blick noch auf Stefan Haas’ Überblick zur „kommunikationstheoretische[n] Wende“ in der Geschichtswissenschaft gelenkt, gerade weil er in seinen ‚Zitieruniversen‘ etwas andere Schwerpunkte setzt als die politikgeschichtliche Debatte der letzten Jahre (unter anderem macht er die ‚Toronto-School‘ deutlich stärker). Seine Überlegungen setzen beim „Medium und seinen materiellen Bedingungen selbst“ an (S. 33f.). Damit rückt ein Desiderat der Theoriedebatte in den Blick: Welche Rolle das ‚Materielle‘ – man denke neben der Massenpresse beispielsweise an Architekturen oder auch fotografische Techniken – prinzipiell für die Etablierung von Parlamentsmacht spielt, wurde bislang wenig systematisiert. Der Band bietet hier auch inhaltlich eine Fülle von Anregungen.

Anmerkungen:
1 Weitere Konferenzen und Bände der Parlamentarismuskommission versprechen nord- und südeuropäische Erweiterungen.