G. Althoff: Päpste und Gewalt im Hochmittelalter

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Titel
„Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter


Autor(en)
Althoff, Gerd
Erschienen
Stuttgart 2013: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Ohst, Seminar für Evangelische Theologie, Bergische Universität Wuppertal

Der Titel von Althoffs Studie ist ein Zitat aus dem Liber ad amicum des Bonizo von Sutri, der scharfsinnig, gelehrt und in geschliffener Rhetorik den gregorianischen Standpunkt im Investiturstreit vertritt. Mit der grellen Kontrafaktur von Matthäus 5,10 spitzt Bonizo Augustins These zu, dass Gewaltausübung, Verfolgung seitens der Sachwalter der wahren Kirche gegen deren Feinde durchaus geboten sein kann. Eine beiläufige Bemerkung Carl Erdmanns aufnehmend1, insistiert Althoff darauf, dass Augustin das so gar nicht geschrieben habe und so wird ihm das im schulmäßigen Sinne falsche, wenngleich keineswegs sinnentstellende Zitat zum Indiz einer „neuen kirchlichen Gewalttheorie“ (S. 18; vgl. auch S. 215f.); hier zeige sich wie in einem Brennspiegel nicht weniger als „das neue Verhältnis der Kirche zur Gewalt“ (S. 17): Erst im Zuge der Kirchenreformbewegung und des Investiturstreits habe die Überzeugung Platz gegriffen, es sei legitim, um christlich-religiös begründeter Motive willen Gewalt anzuwenden. Rhetorisch fragt Althoff, ob hier „ein blinder Fleck in der christlichen Sicht auf die eigene Geschichte“ liege (S. 15). Die Antwort: Laut Klappentext wird durch sein Buch „ein neuer Blick auf Christentum und Kirche“ eröffnet.

Nach einer Einleitung (S. 11–37) entfaltet Althoff seine These in neun Untersuchungsgängen. Er stellt die „neuen Geltungsansprüche“ Gregors VII. und deren biblische Begründungen dar (S. 39–53). Zurückgreifend wendet er sich dann dem „Kampf für den Zölibat und gegen die Simonie“ im Reformpapsttum zu; er erblickt darin „[f]rühe Ansätze zur Anwendung von potestas“ (S. 55–73): Durch die schiefe Verwendung des potestas-Begriffs in diesem Zusammenhang bezeugt er unfreiwillig die Zwangslage, in die er sich mit seiner anachronistischen Anwendung des Gewaltbegriffs (siehe unten) hineinmanövriert hat. Der „Rechtfertigung von Gewalt in gregorianischen Streitschriften“ (S. 75–98) und den „Gegenstimmen heinricianischer Parteigänger“ (S. 99–119) sind die beiden Zentralkapitel der Monographie gewidmet. Für ein deutlich anderes Problemfeld steht dann „Papst Urban II. und die Gewalt gegen Ungläubige auf dem ersten Kreuzzug“ (S. 121–146) und auf noch weitere Zusammenhänge verweist das Kapitel über den „Einfluss“ der (angeblichen) „Gewaltdiskurse auf das Kirchenrecht: Die causa 23 des Decretum Gratiani“ (S. 147–163). Unter den Stichworten „Gewaltrhetorik und Gewalt“ werden in einer Zwischenbilanz Ergebnisse gesichert (S. 165–188). In einem „Ausblick“ rückt die „‚Häresie des Ungehorsams‘“ in den Fokus – dahinter verbirgt sich allerdings nicht ein Blick auf das zentrale Kapitel spezifisch kirchlicher Gewaltgeschichte schlechthin, nämlich auf den bis weit in die Neuzeit sich hinziehenden oft auch blutigen Ausrottungskampf gegen halsstarrige christliche Glaubensabweichler, sondern ein thematisch sehr eng geführter Gang durch Hauptetappen des Kampfes zwischen Imperium und Sacerdotium (S. 189–213). Eine Zusammenfassung (S. 215–229) wiederholt die in der Einleitung exponierte These.

Diese These trägt Althoff an seine Quellen heran, und so ist es wenig überraschend, dass diese ihm dann auch die Belege liefern. Sie stützt sich ihrerseits wiederum auf die höchst problematische Voraussetzung, dass das antike, spätantike und frühmittelalterliche (katholische) Christentum einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen die Anwendung von psychophysischem Zwang und Druck zur Durchsetzung der christlichen Wahrheit gehabt habe. Die hierin verborgen waltende, noch einmal höherstufige Annahme, der moderne Begriff der ‚Gewalt‘, der das mit ihm gemeinte Phänomen abgesehen von jeder qualitativen Näherbestimmung (gerecht/ungerecht; legitim/illegitim usw.) bezeichnen will, sei ohne weit ausgreifende hermeneutische Vorüberlegungen als Deutebegriff für mittelalterliche Quellen geeignet, sei zumindest notiert.

Die Überzeugung, dass die Anwendung von psychophysischem Druck und Zwang aus religiösen Motiven oder zur Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche unter allen Umständen illegitim sei, ist jedoch keinesfalls schlichtweg als frühchristliche Selbstverständlichkeit anzusprechen. Augustins geschichtstheologische Auskunft, der Gewaltverzicht Jesu, der Apostel und der Märtyrer sei nur für ihr besonderes Zeitalter maßgeblich gewesen, führt auf andere Spuren. Schon die vorkonstantinischen katholischen Gemeinden waren längst nicht so staats- und damit gewaltfern, wie ihr anscheinend unbegrenzt vitales Klischeebild glauben machen will und die auch von Christen selbst initiierten staatlichen Eingriffe ins kirchliche Leben, die natürlich immer mit Druck und Zwang verbunden waren, begannen schon in der Ära Konstantins. Nein, die Überzeugung, dass christlicher Glaube nie, nirgends und von niemandem mit Zwangs- und Gewaltmitteln zur Geltung gebracht werden kann, entstammt nicht einem Goldenen Zeitalter des frühen Christentums, sondern ist erstmals in der reformatorischen Theologie Martin Luthers aufgeblitzt, nämlich in seiner auf dessen theologische und religiöse Grundlagen zielenden Kritik des Kreuzzugsgedankens. Schubkraft erhielt sie durch die ‚Stiefkinder der Reformation‘, also die Täufer und einige renaissance-humanistische Wegbereiter der Aufklärung. In der Empörung über die staatlichen und kirchlichen Gräueltaten im Ausrottungskampf gegen den französischen Protestantismus klärte sie sich zum Toleranzpostulat, das sein intellektuelles Widerlager in einer skeptisch-agnostischen Relativierung der Frage nach der ‚Wahrheit‘ religiöser Vorstellungen hat. Retrojiziert man dieses für bestimmte spezifisch neuzeitliche Formationen christlicher Religion charakteristische Gewalttabu ins antike oder frühmittelalterliche Christentum hinein, dann ergeben sich zwangsläufig perspektivische Verzerrungen, und eine solche waltet in Althoffs Leitthese.

Mir erscheint nach der Lektüre von Althoffs Buch und, dadurch angeregt, einiger Libelli de lite präziser bestimmbar zu sein, auf welchem gemeinsamen Boden die Parteien stritten und wo die bestimmenden Differenzen sich zwischen ihnen auftaten. Gemeinsam ist die aus Augustins antidonatistischen Schriften übernommene Grundannahme, dass die christliche Religion die Bereitschaft zur Wehrlosigkeit gegenüber gewalttätigen Gegnern weder pauschal noch unterschiedslos fordere. Erlaubt oder geboten ist die (gewaltsame) Gegenwehr, wenn sie mit dem herrschenden Motiv der Nächstenliebe ausgeübt wird – sei es zum Schutze derer, die sich selbst nicht wehren können, sei es zum Schutze des Angreifers vor sich selbst. Diese Aufgabe stellt insbesondere der Häretiker, der durch seinen verblendeten Missbrauch von Teilstücken der christlichen Wahrheit sich selbst und anderen das ewige Verderben zuzieht, wenn man ihn gewähren lässt. Außerdem ist er ja ohnehin durch seine Taufe der wahren, katholischen Kirche zum Gehorsam verpflichtet! Ihm darf und muss, so Augustin, Einhalt geboten werden! Grundsätzlich unerlaubte Mittel gibt es hier nicht, wie es ja auch und gerade für den getauften Christen kein Recht auf Irrtum gibt. Wie gesagt: Auf diesem gemeinsamen kategorialen Grund bewegen sich beide Parteien. Die ‚Gregorianer‘ nun wenden ihre systematisch wie historisch hochreflektierte Argumentationskunst an den Nachweis, dass die ‚Heinricianer‘ Häretiker sind: Als Simonisten, als Nikolaiten oder als deren Begünstiger und, last but not least, als Verweigerer des dem Nachfolger Petri geschuldeten Gehorsams. Diesen Vorwurf nun versuchen die ‚Heinricianer‘ ins Feld der Gegner zurückzuspielen, indem sie sie beschuldigen, ihrerseits das göttlich verbürgte Verhältnis der wechselseitigen Zu- und Unterordnung von weltlicher und geistlicher Gewalt durcheinandergebracht zu haben. Unstrittig ist also, dass gegen Häretiker gewaltsam vorgegangen werden muss; der kontradiktorische Gegensatz entzündet sich an der Frage, wer Häretiker ist.

Ein Fremdkörper im argumentativen Zusammenhang von Althoffs Buch ist das Kapitel über die Kreuzzüge, denn hier geht es ja um ein ganz anderes Problem. Althoff stellt die Verbindung her, indem er auf das „neue Verhältnis der Kirche zur Gewalt“ rekurriert (S. 129). Exemplarisch stellt er das Massaker ins Zentrum, das die siegreichen Kreuzfahrer nach der Eroberung Jerusalems angerichtet haben: Papst Urban II. habe in seiner Predigt in Clermont die muslimische Beherrschung Jerusalems als Sakrileg gedeutet, welches durch Blut gesühnt werden müsse. Er habe damit höchste Gewaltbereitschaft provoziert, welche sich dann in Jerusalem entladen habe. Das bezeugen zeitgenössische Chronisten, die hier wieder auf die in Clermont eingeführten biblischen Deutungsmuster verweisen (zusammenfassend S. 140). Das liest sich prima vista einleuchtend, fast suggestiv. Aber was erfährt man aus den Texten, wenn man sie quellenkritisch liest? Nun, die Autoren legen hier jeweils ihre eigenen Deutungen dar, indem sie diese herkömmlicherweise in die fiktive Rede eines Protagonisten kleiden. Jeder Berichterstatter lässt den Papst seine Rede halten; von der des Papstes erfahren wir also schlechterdings – nichts. Ebenso sind die biblischen Interpretamente in den Erzählungen von den Ereignissen in Jerusalem als literarisch-theologische Gestaltungen der Autoren zu deuten; die bruta facta muss man im Kontext vergleichbarer Berichte werten; hier ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel: „Alle die unsrigen fielen in die Stadt ein, und jeder raffte an sich, was er in den Häusern und Zisternen fand. Als es Tag geworden war, töteten sie alle, die sie fanden, Männer wie Frauen. Kein Winkel der Stadt war ohne Leichen von Sarazenen und kaum konnte man auf den Straßen der Stadt gehen, ohne auf die Leichname der Sarazenen zu treten.“2 Hier war kein Sakrileg mit Blut zu sühnen, sondern der anonyme Autor, ein Augenzeuge, berichtet ohne jede religiös-moralische Überhöhung ganz lakonisch davon, wie diese Kriege eben geführt wurden.

Es steht zu hoffen, dass Althoffs Buch fruchtbare Debatten über die von ihm behandelten historischen Einzelthemen, aber auch über Grundsatzfragen historischer Hermeneutik und Begriffsbildung anregen wird.

Anmerkungen:
1 Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935 (Nachdruck Stuttgart 1955), S. 82–85.
2 Heinrich Hagenmeyer (Hrsg.), Anonymi Gesta Francorum, Heidelberg 1890, XXX,7, S. 408 (Eroberung von Maarat am 11. Dezember 1098; dt. M.O.).