S. M. Huber: Wandel des Bildes des Kindes in Schweizer Kinderbibeln

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Titel
Für die Jugend lehrreicher. Der religionspädagogische Wandel des Bildes des Kindes in Schweizer Kinderbibeln in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Huber, Stefan Mario
Reihe
Arbeiten Zur Religionspädagogik 53
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
597 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Esther Berner, Department Erziehungswissenschaft, Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität Potsdam

Mit der Thematik Kinderbibeln widmet sich der vorliegende Band einem Gegenstand, dessen Relevanz für die historisch-pädagogische Forschung und insbesondere für die Pädagogik der Aufklärung erst in jüngerer Vergangenheit entdeckt worden ist.1 Als ein Medium mit großer Reichweite haben Kinderbibeln – zu deren Leserschaft ja nicht nur die adressierten Kinder, sondern auch erwachsene (Vermittler-)Personen gehörten – Vorstellungen vom Kind und von Kindheit maßgeblich mitbestimmt.

Stefan Mario Huber untersucht in seiner Dissertation drei in der Schweiz entstandene Kinderbibeln aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genau mit diesem Ziel, den Wandel von Kindheitsbildern, der Auffassung von Kindgemäßheit, aber auch der Idee von Gott, dem Menschen und dessen moralischer Beschaffenheit darzustellen. Den Ausgangspunkt bildet dabei eine Definition des Mediums Kinderbibel anhand von drei Kriterien, nämlich der Absicht einer religiösen Unterweisung, der Zielgruppe Kinder und Jugendliche und dem inhaltlichen Bezug auf die Vollbibel (S. 35). Die Wahl fiel dabei erstens auf die katechetische Kinderbibel des Berner Pfarrers und Pietisten Abraham Kyburz, die 1744/45, also 30 Jahre nach Johann Hübners bis nach 1800 weit verbreiteten Biblischen Historien erschienen ist; zweitens auf die wiederum rund 30 Jahre später publizierten Biblischen Erzählungen für die Jugend (1772/74), herausgegeben von der Zürcher Asketischen Gesellschaft unter der Redaktion Johann Jakob Hess’; und drittens auf die kurz darauf entstandenen 60 Biblischen Geschichten (1774/79) – eigentlich eine Bilderbibel – des Winterthurers Rudolf Schellenberg. Im Gegensatz zu Kyburz, dessen Non-Konformismus in Lehre und Charakter ihn immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit brachte, gehörte Hess zum geistlichen und intellektuellen Establishment seiner Heimatstadt Zürich; er wurde 1795 sogar zum Antistes und damit zum Vorsteher der Kirche des Standes Zürich gewählt. Schellenberg wiederum, von Haus aus Maler und Illustrator, dürfte über den Kontakt zu Johann Kaspar Lavater mit der Asketischen Gesellschaft in Verbindung gekommen sein. Eine besondere Nähe zwischen den beiden jüngeren Kinderbibel-Werken ergibt sich dadurch, dass auch die Bilderbibel Schellenbergs von der Asketischen Gesellschaft initiiert wurde und in ihrer Konzeption, abgesehen von der Konzentration auf die bildliche Darstellung, weitgehend mit den von Hess redigierten Biblischen Erzählungen übereinstimmt. Jene dienten damit auch und vor allem zur Illustration der Letzteren. Im Gegensatz zu den Biblischen Erzählungen, die selbst ohne Bilder auskommen, ist Kyburz’ Werk mit Illustrationen versehen, wobei der Text eindeutig im Zentrum steht. Die kurzen Texte zu Schellenbergs Kupferstichen in den Biblischen Geschichten stammen aus der Feder Lavaters, der übrigens auch zu den Texten in Hess’ Biblischen Erzählungen beigetragen hatte.

Im Anschluss an die Einleitung widmet Huber den drei Kinderbibeln je ein Hauptkapitel. Diese sind identisch strukturiert in 1. Einführung (Auswahlkriterien, Quellenlage und Forschungsstand), 2. Leben und Werk des Verfassers und 3. Analyse der Kinderbibel; hierbei beschränkt sich die eigentliche Text- bzw. Bildanalyse neben der Rekonstruktion der Entstehung, Informationen zu Erscheinungsort, Auflagen, Umfang, Aufmachung und Verbreitung auf ein verhältnismäßig knappes Unterkapitel. Zur Verbreitung fehlen leider empirische Angaben – hier hätte der Rückgriff auf die 1799 in der Helvetischen Republik flächendeckend in der ganzen Schweiz durchgeführte Schulumfrage, die unter anderem auch nach den verwendeten Schulbüchern fragte, wertvolle Informationen geliefert.

Die Ergebnisse der Untersuchung lassen gemäß Huber den Schluss auf „eine generelle Entwicklungslinie bzw. -geschichte im Blick auf Schweizer Kinderbibeln in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (S. 525) zu, womit den drei Titeln durchaus repräsentativer Charakter zugesprochen wird. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen der Ebene der theoretischen, konzeptionellen Überlegungen, die die Autoren bezüglich einer pädagogisch und didaktisch angemessenen Gestaltung der Kinderbibel anstellten, und der Ebene der tatsächlichen Umsetzung. Während nämlich Reflexionen hinsichtlich einer Übersetzung des biblischen Ausgangstextes in eine kindgemäße Form durchaus bereits bei Kyburz vorhanden waren, gingen diese hier noch kaum in die konkrete Werkgestaltung ein, ganz im Gegensatz zu den beiden jüngeren Ausarbeitungen. Eine deutliche Entwicklungstendenz lässt sich damit insbesondere auf der Umsetzungsebene feststellen. Eine Konsequenz der didaktischen Überlegungen war, dass die Zürcher das der kindlichen Vorstellungskraft eher angemessene Historienformat wählten. Kyburz hingegen blieb der katechetischen Lehrform verhaftet, deren Vorbildwirkung hier offenbar noch eine unüberwindliche Prägkraft zukam. Unter den Differenzen inhaltlicher Art hervorzuheben ist der hohe Stellenwert, der der menschlichen Vernunft gegenüber dem Glauben in den biblischen Historien bzw. Erzählungen im Gegensatz zu Kyburz’ Katechismus zukommt. Spielt bei diesem die Erbsündenlehre noch eine zentrale Rolle, hat sie bei jenen ihren konstitutiven Charakter für die Auffassung vom Menschen (und vom Kind) verloren. Szenen der Gewalt und Sexualität sind hier in ihrer Drastik deutlich abgeschwächt und so dem kindlichen Auffassungsvermögen angepasst worden. Insbesondere letztere Themen werden in den beiden jüngeren Titeln wenn, dann entschärft wiedergegeben. Diese Differenz sollte nicht oder nicht allein dem Unvermögen Kyburz’, die kindlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen, zugeschrieben werden, sondern hat seine Ursache mitunter darin, dass dieser das Kriterium der Bibeltreue erklärtermaßen höher wertete als pädagogische Motive. Die Zürcher hingegen waren in erster Linie darum bemüht, die Ereignisse in Text und Bild entmystifiziert und rational erklärbar wiederzugeben. Gott erscheint als liebender und fürsorglicher Vater. Teufel, Dämonen und Höllenstrafe haben, ganz im Gegensatz zu Kyburz, ihre moralisch-erzieherische Funktion verloren. Ist das Erscheinen Belzebuebs unumgänglich, wie anlässlich der Versuchung Jesu (Mt 4), so erscheint er in der bildlichen Darstellung durch Schellenberg vermenschlicht, das heißt ohne Hörner, Bocksfüße oder ähnliche Attribute.

Die Ergebnisse verweisen somit deutlich auf den Einfluss zeitgenössischer aufklärungstheologischer Ideen, wie sie auch im Philanthropismus, mit deren Vertretern und Umkreis (Basedow, Chodowiecki) die Zürcher in Kontakt standen, wirksam waren. Insofern kann Huber denn anhand des Materials auch ein in sich schlüssiges Bild von der Rezeption und der Wirksamkeit „relevanter Einflüsse und Strömungen“ (S. 45) zeichnen. Indem Huber die Quellen im Licht des geistesgeschichtlichen Kontextes interpretiert und sie zugleich als Repräsentation dieser Strömungen und prägend für deren Entwicklungsverlauf heranzieht, überrascht die Kohärenz der Ergebnisse nicht. Die Linearität der im Zeichen der Aufklärung stehenden Entwicklung ist dabei auch der Textauswahl und der geringen Zahl untersuchter Kinderbibeln geschuldet. Hinzu kommt, dass zwei der drei Texte in enger Relation zueinander stehen, was Entstehungsraum und -zeit, diskursives Umfeld und personelle Beziehungen angeht. Somit bilden die beiden jüngeren Werke zusammen den für Modernität stehenden Gegenpol zur älteren Kinderbibel von Kyburz. Allfällige Abweichungen und Irritationen von der anzunehmenden Entwicklungslinie können so gar nicht ins Blickfeld geraten.

Neben der Selektivität der Texte spiegelt sich diese „glättende Tendenz“ in gewissen Interpretationen und Gewichtungen von Fakten, so etwa, wenn Lavater eindeutig als aufgeklärter Verfechter der Ökumene dargestellt und die Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn damit marginalisiert wird, oder wenn Huber das den Biblischen Erzählungen bzw. Geschichten zugrunde liegende Methodenverständnis mit Rousseaus Idee der negativen Erziehung in Zusammenhang bringt.

Die vorliegende Studie bildet einen wertvollen Beitrag zur historischen Lehrmittelforschung allgemein und zum Wandel der Kinderbibel im 18. Jahrhundert im Speziellen. Bezüglich der drei untersuchten Werke bietet sie mit ihren 600 Seiten ein eigentliches Kompendium. Die zusammenfassenden Kapitel und Fazits auf verschiedenen Gliederungsebenen erleichtern den Zugang auch all jenen Bildungshistoriker/innen, die sich allgemein für Forschungsergebnisse zur Entwicklung von Kindheitsvorstellungen im 18. Jahrhundert sowie zum Wandel didaktischer und methodischer Konzepte und Strategien interessieren.

Anmerkung:
1 Vgl. Christine Reents, Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder, Werkanalyse und Wirkungsgeschichte einer frühen Schul- und Kinderbibel im evangelischen Raum, Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset…, Leipzig 1714 bis Leipzig 1874 und Schwelm 1902 (=Arbeiten zur Religionspädagogik 2), Göttingen 1984.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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