G. Didi-Huberman: Remontagen der erlittenen Zeit

Cover
Titel
Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte 2


Autor(en)
Didi-Huberman, Georges
Reihe
Bild und Text
Erschienen
Paderborn 2014: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Wiedenmann, Institut für Theater- und Medienwissenschaft, Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Anschließend an seine beiden Werke „Bilder trotz allem“ und „Wenn die Bilder Position beziehen“1, beschäftigt sich der Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman auch in diesem Essay mit der Frage nach der visuellen Darstellbarkeit der Shoah. Sowohl differenzierte historiografische als auch ästhetische Problematisierungen kennzeichnen dabei seine Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Seine Position zur bildlichen Darstellung des Genozids in vorangegangenen Texten hatte gleichwohl gerade bei französischen Intellektuellen – allen voran Claude Lanzmann – harsche Kritik hervorgerufen. So hielt Gérard Wajcman Didi-Huberman entgegen: "Es gibt keine Bilder der Shoah."2 Didi-Huberman wurde „Sensationslust“3 und "hypnotische Faszination“4 am Grauen vorgeworfen und seine Kritiker sahen – wie Anton Holzer rekapitulierte – „in seiner Argumentation eine unzulässige religiöse Fetischisierung des fotografischen Bildes“5. Remontagen der erlittenen Zeit setzt sich erneut gegen diesen Ikonoklasmus zur Wehr, denn die angebliche Undarstellbarkeit des Holocausts darf laut Didi-Huberman nicht zu einer grundsätzlichen Bilderabwehr führen, sondern erfordert permanente Reflexion. Anton Holzer hat diese Haltung Didi-Hubermans gegenüber visuellen Dokumenten treffend beschrieben: „Der Autor wehrt sich dagegen, Archivbildern die Fähigkeit, über geschichtliche Ereignisse zu berichten, grundsätzlich abzusprechen. Aber er schlägt auch nicht blind den gegenteiligen Weg ein, nämlich Bilder als eindeutige Pfade zur Vergangenheit zu sehen.“6

Ist der 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz ohnehin Ausgangspunkt für einen erneuten kollektiven Blick auf Dokumente, Filmaufnahmen und Bilder aus jener Zeit, so avanciert er für Didi-Huberman zum Auslöser einer grundsätzlichen Neubefragung der Lesbarkeit der Geschichte in und durch das vorhandene Bildmaterial. Denn, was tun, wenn eine „gesättigte Erinnerung in ihrer Wirksamkeit selbst bedroht ist“ (S. 16)? Didi-Huberman sucht also nach Optionen einer neuen ars memoria, die es erlaubt, nachhaltige Memorationsmöglichkeiten auszuloten: „Lesbar machen, das kann bedeuten, die allgemeinen und umfassenden Fragen neu aufzuwerfen […]. Das kann, bescheidener angelegt, aber auch bedeuten, sich auf Grundlage eines lokalen oder ‚mikrologischen‘ Prinzips […] über ein singuläres Einzelobjekt zu beugen, um zu entdecken, inwiefern es durch die ihm innewohnende Komplexität sämtliche Fragen neu aufwirft, als deren Kristallisationspunkt es dient“ (S.17). Ziel wäre es also, durch mikrohistorische Einzelfallbeschreibungen, durch eine bottom-up-Strategie, Geschichte wieder lesbar zu machen. Nicht von ungefähr verweist Didi-Hubermann auf das induktive Vorgehen des Indizienparadigmas nach Carlo Ginzburg, denn gerade den Details und Einzelfällen soll die Aufmerksamkeit geschenkt und hieraus eine neue Erkennbarkeit der Geschichte rekonstituiert werden.

Theoretisch kohärent ist daher auch der Rekurs auf Walter Benjamins Prinzip der Montage in der Geschichtsschreibung: Denn nach Benjamin sind es ja die großen Narrationen (Geschichtsphilosophien hegelscher Provenienz), die zu einer Unleserlichkeit der Geschichte führen. Daher plädierte er für eine fragmentarische Form der Geschichtsschreibung, für das „Lumpensammlerprinzip“7 und für das Beobachten eines „Unzeitigen, Leidvollen, Verfehlten“8 – es gelte den Blick auf die „Trümmer der Geschichte“9 zu heften. Was für Didi-Huberman bedeutet, „jenseits der großen Interpretationen struktureller und globaler Natur“ (S. 18) historische Ereignisse durch konkrete Anschaulichkeit wieder in den Fokus zu rücken und dadurch nicht „nur zu sehen [voir], sondern auch zu wissen [savoir]“ (S. 18). Aus der Kombination von Singularitäten, aus kleinsten Bauelementen soll das Geschehene wieder ansichtig werden; wie in der filmischen Montage sollen die vorangegangene Fragmentierung und der daran gekoppelte Zusammenhangsverlust durch das Zusammenfügen abstrakter Einzelteile wieder kompensiert werden. Durch die Re-Synthese einzelner Bildfragmente werden im Film wie in der Geschichtsschreibung wieder eine konkrete Wahrnehmung der Bewegung und ein neuer bildhafter Sinnzusammenhang hergestellt – eine strukturelle Analogie, die vor Didi-Huberman schon Siegfried Kracauer gezogen hatte.10

Da sich jede Zeit von ihrem gegenwärtigen Standpunkt aus der Vergangenheit widmen muss, geht es eben auch nicht primär um ein „Wieder-Lesen“ sondern um ein „Neu-Lesen“ der Geschichte. Schriftliche Quellen und Zeugnisse sollen zusammen mit dokumentarischem Bildmaterial bearbeitet und montiert werden. Der Begriff der „Remontage“ verweist schon auf die Ebene einer wiederholten Konstruktionsarbeit, einer Restitution geschichtlicher Memoration durch neue Wege der Bearbeitung. Entsprechend formulierte Benjamin: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen. […] In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von Neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ (S. 22) Daher auch „Remontagen einer erlittenen Zeit“: Didi-Hubermans theoretische Konzeption einer wiederzugewinnenden Intelligibilität der Geschichte durch Fragmente ist zugleich das methodische Setting seiner eigenen Herangehensweise im vorliegenden Band.

Die Problematik einer Nicht-Lesbarkeit der Geschichte beschreibt Didi-Hubermann sodann anhand des Blicks auf die geöffneten Lager: Gemeint ist sowohl der konkrete Blick vor Ort mit den Augen der Befreier als auch und vor allem das Fotografieren und Filmen dieses sich offenbarenden Grauens. Die historische Lesbarkeit dieser Aufnahmen, so der Autor, wird jedoch schon durch ihre nachfolgenden Gebrauchsweisen als Beweismittel im juristischen Prozess getrübt. Denn Beweismittel werden anderen Fragen und Prüfungen unterzogen als Bildmaterial, das der Erinnerung dienen soll. Die dergestalt verschüttete Lesbarkeit solcher Bilddokumente lässt sich – so die These – jedoch durch Remontage und Rekontextualisierung mit anderem Material, mit schriftlichen Zeugnissen (etwa mit Berichten der Überlebenden) wieder herstellen. Beispielhaft erläutert Didi-Huberman dies an den Filmaufnahmen, die Samuel Fuller 1945 bei der Öffnung des Lagers Falkenau aufgenommen hatte. Der circa 20-minütige, eher amateurhafte Stummfilm ist ein unlesbares „Rohdokument“ (S. 47), da uns die Entstehungskontexte der Aufnahmen fehlen. Erst durch die Reintegration des Materials in den 1988 entstandenen Film von Emil Weiss, „Falkenau, vision de l’impossible – Samuel Fuller témoigne“, und den dort nachgelieferten Off-Kommentar Fullers werden die Bilder lesbar und memorationsfähig.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich den Arbeiten des kürzlich verstorbenen Harun Farocki, in denen Didi-Huberman das Verfahren einer kritischen Montage ausmacht. Durch die Kompilation von Bild, Ton und Schrift sowie Kombinationen unterschiedlicher Medien (Fotografie, Video, Film) gelinge es Farocki in seinen Essayfilmen neue Bedeutungen zu generieren: Farocki eigne sich Material an, „um es uns besser wiederzugeben, zu restituieren“ (S. 144). Diese essayistische Form der experimentellen De- und Remontage beschreibt allerdings nicht nur Farockis Vorgehen, sondern Didi-Huberman überträgt diese Form direkt auf seine eigene Schreibweise. Dies wird methodologisch zwar nicht explizit ausgewiesen, dennoch ist die „offene Form imaginativen Denkens“ (S. 112) im Text allgegenwärtig. Der Essay ist als Methode demnach eine Montage von Bildern, „auf Abgeschlossenheit verzichtend, im beständigen Rhythmus von Zersplitterungen und Amalgamierungen sprudelnd, sich den unerwartetsten Korrespondenzen und den riskantesten Überinterpretationen hingebend“ (S. 117). Die essayistische Form ist es sicherlich auch, die den Leser permanent herausfordert. Doch wendet Didi-Huberman seine methodische Forderung nach Einzelbeobachtungen und fragmentarischem Vorgehen, nach Remontagen und Rekontextualisierungen konsequent auf das eigene Schreiben an, verfestigt er die formulierte Vorgabe bis auf die Ebene des Layouts hinunter in seiner eigenen Methode. So gilt das, was er über Farocki schreibt, für ihn gleichermaßen: „Aus ebendiesem Grund ist Farocki ein Essaykünstler, der seine Essays immer wieder aufgreift und neu bearbeitet. Er hört nicht auf, immer wieder neu zu sehen, neu zu lesen und dann das, was er neu gesehen hat, mit dem, was er neu gelesen hat, neu zu montieren“ (S. 119).

Die historiografische, ästhetische und philosophische Auseinandersetzung mit den visuellen Dokumenten des Genozids ist also beileibe kein Selbstzweck, sondern unumgängliche Grundlage für eine zukunftsoffene Erinnerungsarbeit und beständig aktualisierte Reflexion des historischen Grauens. Aller epistemologischen Skepsis zum Trotze stellt Didi-Huberman sein Projekt in den Dienst eines ethischen Imperativs der Erinnerungspflicht – es geht darum, „trotz allem zu schauen“ (S. 230). Und diesen Blick unternimmt Didi-Huberman auf den Schultern der Geschichtstheorien Benjamins und Kracauers stehend.

Anmerkungen:
1 Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007; vgl. die Rezension von Ute Wrocklage, in: H-Soz-u-Kult, 27.05.2008, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-10504 (22.12.2014); ders., Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München 2011.
2 Gérard Wajcman zit. nach Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 89f.
3 Élisabeth Pagnoux zit. nach ebd. S. 87.
4 Gérard Wajcman zit. nach ebd. S. 82.
5 Anton Holzer, Rezension zu Georges Didi-Huberman‚ Bilder trotz allem, München 2007, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 106, 2007.
<http://www.fotogeschichte.info/index.php?id=208> (22.12.2014).
6 Ebd.
7 Walter Benjamin benutzt den Begriff des „Lumpensammlers“ als Metapher für das historiografische Vorgehen Siegfried Kracauers in dessen Buch „Die Angestellten“.
Vgl. Walter Benjamin, Politisierung der Intelligenz, Zu S. Kracauers Die Angestellten, in: Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, 5. erw. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 122 f.
8 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main 1977, S. 145.
9 Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 146.
10 Vgl. Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen. Frankfurt am Main 2009.