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Titel
Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949–1973)


Autor(en)
Langer, Lydia
Reihe
Kölner Historische Abhandlungen 51
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
IX, 445 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Girschik, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Studien über verschiedene Aspekte der westlichen Massenkonsumgesellschaft publiziert worden. Eine Gesamtdarstellung der Einführung und Verbreitung der Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel in der Bundesrepublik Deutschland fehlte jedoch bisher. Die umfangreiche Dissertation von Lydia Langer, die 2011 mit dem Erhardt-Imelmann-Preis der Universität Köln ausgezeichnet wurde, schließt diese Lücke. Ursprünglich trug die Dissertation den Titel „Vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt. Transatlantischer Wissenstransfer und die Einführung der Selbstbedienung im bundesdeutschen Einzelhandel 1949–1973“. Dieser Titel hätte dem Fokus der vorliegenden Forschungsarbeit besser entsprochen. Langer interessiert sich nämlich primär für den Transfer des Selbstbedienungsmodells aus dem US-amerikanischen in den westdeutschen Einzelhandel. Sie versteht und beschreibt die Veränderungen im westdeutschen Einzelhandel zwar als grundlegend und tiefgreifend, widersteht aber in wohltuend unaufgeregter Weise der Versuchung, von einer „Revolution“ zu sprechen – anders als der Titel suggeriert, unter dem die Studie 2013 im Böhlau Verlag erschienen ist.

Die Studie fokussiert auf den Zeitraum 1949 bis 1973, also auf die Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders, in der sich auch die Massenkonsumgesellschaft etablierte. Langer geht denn auch auf die (konsum-)politischen Motive ein, die diese Prozesse begleiteten: So besaß für Bundeswirtschaftsminister Ludwig Ehrhard die „Verwirklichung individueller Konsumfreiheit“ (S. 383) einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert. Und die USA förderten produktivitätssteigernde Maßnahmen im Einzelhandel als Teil der Wiederaufbauhilfe und nicht zuletzt auch, um das amerikanische Modell der Massenkonsum- und Wohlstandsgesellschaft in den westeuropäischen Ländern zu etablieren.

Langer hat in ihrer Dissertation umfangreiche Literatur aus Konsum-, Sozial-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte zusammengeführt und verarbeitet. Die verschiedenen Zugänge versucht sie über die forschungsleitende Kategorie des „Wissens“ zu verknüpfen, um so die unterschiedlichen Perspektiven des als Innovation verstandenen Wandlungsprozesses zusammenzufassen. Auf diese Weise will Langer „die Genese, Verbreitung, Transformation und Aneignung von Wissensbeständen“ (S. 11) untersuchen. So sollen „die Akteure und ihr Selbstverständnis, aber auch ihre Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen ins Zentrum des Interesses“ (S. 23f.) rücken.

Die Studie gliedert sich in sieben unterschiedlich lange Kapitel. Nach der Einleitung und einer ausführlichen Darstellung des Literatur- und Forschungsstandes wird in einem ersten Kapitel der Einzelhandel als zentrales Bindeglied zwischen Produktion und Konsumtion definiert und die grundlegenden Strukturen und Organisationsformen des deutschen Einzelhandels seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts werden dargestellt. Langer weist explizit darauf hin, dass schon in den 1920er-Jahren „ein Nachdenken über und die Umsetzung von Rationalisierung“ (S. 39) im Einzelhandel stattfand, die nach 1945 entscheidende Anknüpfungspunkte für die Einführung der Selbstbedienung darstellten. Ebenfalls in diesem Kapitel wird die Verkaufsform der Selbstbedienung ein erstes Mal charakterisiert, die wirtschaftlichen, organisatorischen und technischen Grundlagen dieses Verkaufsprinzips werden dargestellt und ein erster Blick auf die sozio-kulturellen Implikationen und Deutungsfelder rund um die Selbstbedienung geworfen, die im Laufe der Studie weiter vertieft werden. Dadurch entstehen im späteren Textverlauf einige Längen und Wiederholungen.

Das dritte Kapitel bildet laut Langer den Hauptteil und empirischen Kern der Studie und beschäftigt sich unter dem Titel „Modelltransfer als Wissenstransfer“ anhand der Selbstbedienung mit den Transfer- und Transformationsprozessen zwischen dem US-amerikanischen und dem westdeutschen Einzelhandel. Zuerst wird knapp und anschaulich auf dreißig Seiten die „Pioniersituation“ (S. 39) im US-amerikanischen Einzelhandel dargestellt, anschließend der Transfer des Modells des self-service von den USA in die Bundesrepublik beschrieben. Diese Seiten über die Entwicklungen in den USA bestechen insofern, als Langer mit originalen US-amerikanischen Quellen gearbeitet hat. Im zweiten Teil dieses zentralen Kapitels geht es um den Transfer des in den USA entwickelten Self-service-Modells in den westdeutschen Einzelhandel und die daraus resultierenden Veränderungen desselben. Langer nimmt dabei die internationalen, nationalen und europäischen Austauschbeziehungen im Einzelhandel und der verwandten Unternehmenszweige in den Fokus.

Langer beschreibt ausführlich, wie in den 1950er- und 1960er-Jahren Einzelhändler, Wirtschaftsvertreter, Fachleute aus der Verpackungsindustrie, Werber, Hersteller von Konsumgütern und Ladeneinrichtungen, Politiker und Wissenschaftler ein dichtes internationales Netzwerk aufbauten, in dem sie sich über Fragestellungen des Einzelhandels austauschten. Wichtig waren Studienreisen von westdeutschen Einzelhändlern in die USA wie auch die Besuche von US-amerikanischen Experten in Westdeutschland. Die USA förderten solche Reisen als Teil ihrer Wiederaufbauhilfe. Langer hat dafür erstmals Quellen des US High Commissioner for Germany ausgewertet. Weitere Foren des Austausches und Wissenstransfers waren neben Reiseberichten, Fachpublikationen, Messen, Ausstellungen, Kongressen und Seminaren auch audiovisuelle Medien wie Lehrfilme, die die US-Behörden in Deutschland verliehen. Ein wichtiger Akteur war dabei das 1957 gegründete Institut für Selbstbedienung in Köln. Langer zeigt, dass die westdeutschen Einzelhändler nicht einfach das US-amerikanische Modell des self-service kopierten, sondern es vielmehr in den heimischen Kontext integrierten, den lokalen Bedingungen anpassten und weiterentwickelten. Je mehr die Massenkonsumgesellschaft in der BRD in den späten 1950er- und 1960er-Jahren verbreitete Realität wurde, umso mehr verblasste die stereotypisierende Wahrnehmung der USA und die Orientierung des Einzelhandels am US-Verkaufswesen. Ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre wurde die innereuropäische Zusammenarbeit und der Austausch mit anderen europäischen Einzelhändlern wichtiger. Dies belegt unter anderem die eindrückliche Auflistung der Studienreisen von Vertretern von Einzelhändlern und Fachverbänden während des Untersuchungszeitraums.

Im vierten Kapitel beschreibt Langer die Verbreitung der Selbstbedienung und die Ausdifferenzierung von weiteren selbstbedienungsbasierten Verkaufsformen wie Supermärkten, Discountern und Verbrauchermärkten – dies immer wieder mit informiertem Blick auf die enge Verbindung zwischen der Rationalisierung des Einzelhandels und der umfassenden sozioökonomischen und politischen Neuorientierung in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Stärke von Langers Studie ist der umfassende Blick auf die Transformation des westdeutschen Einzelhandels durch die Einführung der Selbstbedienung als vielschichtigen Innovationsprozess, der nicht nur die Einzelhandelslandschaft veränderte, sondern auch weitreichende Folgen auf der Konsumenten- und Herstellerebene nach sich zog: So beschreibt sie auch die Veränderungen in der Gestaltung der Verkaufsräume, der Warenpräsentation, ja sie spricht sogar die sich stärker ausdifferenzierende Funktion des Verkaufspersonals an (Kapitel 5), die sich wandelnde Kommunikation zwischen Händlern und Konsumenten und ihre jeweiligen sozialen Rollen (Kapitel 6) sowie die sich verändernden Unternehmensstrukturen. Sie zeigt glaubhaft, „dass sich kein US-amerikanisches Modell von Selbstbedienung oder Supermarkt durchgesetzt hat, sondern dass die bundesdeutsche Einzelhandelslandschaft eine hybride Konstruktion aus Elementen US-amerikanischer Vorbilder, europäischer und nationaler bzw. regionaler Vorstellungen, Rahmenbedingungen und Handlungsstrategien darstellte“ (S. 310). Langers Fokus liegt auf den Arenen des fachlichen Austauschs, sie wirft keinen Blick hinter die dortige Rhetorik, (Selbst-)Beschreibungen und Ratschläge. Somit bleiben die konkreten Transfer-, Selektions- und Adaptionsvorgänge in den Unternehmen des Einzelhandels im Dunkeln. Insofern wird der Anspruch der Studie, „sich mit den Prozessen des Erwerbs, der Anpassung und der Bewertung von Wissen über die neuen Vertriebsformen sowie ihren wirtschaftlichen, soziokulturellen und politischen Grundlagen zu beschäftigen“ (S. 3f.), nicht eingelöst. Dies ist dem gewählten Quellenkorpus (hauptsächlich gedruckte Publikationen von Verbänden und Institutionen), aber auch der – von Langer auch angesprochenen – schwierigen Archivsituation vieler Einzelhandelsunternehmen geschuldet. Nichtsdestotrotz zeigt die Studie eindrücklich und kenntnisreich, wie voraussetzungsreich für uns so alltägliche Handlungen wie der Einkauf im Selbstbedienungs-Supermarkt sind.

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