A. Augspurg: Rechtspolitische Schriften

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Titel
Rechtspolitische Schriften. Kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Christiane Henke


Autor(en)
Augspurg, Anita
Reihe
Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung 16
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Lembke, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Universität Hamburg

„Dass die Texte Anita Augspurgs heute wieder gelesen werden, erscheint in jedem Falle wünschenswert. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch eine Ausgabe ihrer Schriften, zumindest in einer Auswahl.“ Dies schrieb Christiane Henke in ihrer Augspurg-Biographie im Jahr 2000.1 Dreizehn Jahre später legt sie selbst die bisher vermisste Werkausgabe vor. 76 aus 500 Schriften hat sie ausgewählt und kommentiert, um einen Einblick in das Denken und die rechtspolitischen Argumentationen Augspurgs zu geben. Dabei gelingt es ihr, neben den wesentlichen Feldern von Augspurgs Wirken auch die Vielfalt der von ihr genutzten Kommunikationsformen und Öffentlichkeiten abzubilden.

Anita Augspurg war eine der intellektuellsten und radikalsten Vertreterinnen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung. 1857 in Verden geboren, arbeitete sie zunächst als Schauspielerin und Fotografin und war frauenpolitisch tätig, bevor sie das Jurastudium in Zürich absolvierte und 1897 zur ersten deutschen Juristin mit Doktortitel wurde, der danach bei keiner ihrer Unterschriften mehr fehlte. Sie nahm lebhaften Anteil an und bestimmte vielerorts die Debatten um rechtspolitische Forderungen der Frauenbewegung, insbesondere im Kaiserreich. Dabei zeigte sie großes Engagement und hohes Geschick in der Kommunikation rechtspolitischer Ideen und Forderungen, sie gründete Vereine, hielt Versammlungen ab, gab Zeitschriften heraus und war eine begnadete Rednerin.2

Augspurgs rechtspolitisches Wirken steht im engen Zusammenhang mit den staatlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und lässt sich daher in drei Phasen einteilen, denen auch die Anordnung der Schriften in dieser Studienausgabe folgt. Das deutsche Kaiserreich bietet den Rahmen für Augspurgs aktivste Zeit; konsequent ist dieser Abschnitt nochmals unterteilt nach Texten zu Bildung und Erwerb, Grundlagen der Frauenbewegung, Eherecht und Bürgerliches Gesetzbuch, Sexualstrafrecht, Vereinsrecht und Wahlrecht. Augspurg kämpfte für gleichwertige Frauenbildung, Zugang zu den Universitäten und (akademischen) Berufen, für das Frauenwahlrecht und die volle rechtliche Gleichstellung der Frau, insbesondere im Ehe- und Familienrecht. Außerdem agitierte sie gegen die geschlechtliche Doppelmoral, wie sie sich im Umgang mit nichtehelichen Kindern, mit Prostitution und bei der Strafverfolgung von Sexualdelikten äußerte, und sie war eine überzeugte Pazifistin, was sie nicht nur auf Abstand zur revolutionsbegeisterten Sozialdemokratie hielt, sondern auch zum endgültigen Bruch mit gemäßigten Teilen der Frauenbewegung 1914/15 führte. Mit Kriegsende wollte Augspurg zu ihrem früheren rastlosen Engagement zurückkehren. Doch die blutige Niederschlagung der Münchner Räterepublik und die Ermordung von Kurt Eisner, Rosa Luxemburg und Gustav Landauer markierten eine lebensgeschichtliche Zäsur, die in der Studienausgabe durch ihre drei fassungslosen Nachrufe abgebildet ist. In der Weimarer Republik wurde es still um Augspurg – ihr stand im Wesentlichen nur noch ein Publikationsorgan („Die Frau im Staat“) zur Verfügung und die Frauenbewegung hatte sich tief greifend verändert. Die exemplarischen Texte für diese Zeit belegen, wie besorgt Augspurg über die Militarisierung der jungen Republik war und wie sie sich über die Missachtung der Reichsverfassung durch staatliche Organe empörte; die Forderung nach effektiver gerichtlicher Kontrolle von Gesetzgeber und Verwaltung am Maßstab der Verfassung, die auch Augspurg vertrat, beschäftigte schon die Staatsrechtslehrer ihrer Zeit, setzte sich allerdings erst nach 1945 durch. Zugleich zeigen die Texte ihre Enttäuschung darüber, dass die Gleichheitsversprechen der Weimarer Reichsverfassung kaum umgesetzt, aber von den Frauen meist auch gar nicht erst eingefordert wurden.

Augspurg als Person ist in der Literatur zur Frauenbewegung und zum Kaiserreich wohlbekannt und einige wenige ihrer Texte sind in einschlägigen Publikationen abgedruckt. Eine ernsthafte Augspurg-Lektüre war jedoch bisher mit unangemessenem Aufwand verbunden.3 Das einzige käuflich zu erwerbende „Werk“ war ihre Doppel-Biographie mit Lida Gustava Heymann, die beide Anfang der 1940er-Jahre im Schweizer Exil schrieben, als ihr Archiv in Deutschland längst beschlagnahmt und verschollen war.4 Augspurgs rechtspolitische Veröffentlichungen erfolgten außerhalb des Zusammenhangs der juristischen Fachliteratur, waren weit verstreut und fielen einem mehrfachen Vergessen als Schriften einer Frauenrechtlerin, außerhalb der Institutionen stehenden Politikerin und in der Emigration Verstorbenen anheim.

Christiane Henke hat Augspurgs rechtspolitische Schriften nicht nur gesammelt, sondern zugleich auch einfacher zugänglich gemacht. Ziel war es, „eine gut lesbare Textfassung zu erstellen“ (S. 376). Dafür sind die Texte neu gesetzt und in der Rechtschreibung „vorsichtig modernisiert“ (S. 377) worden. Nach den Texten folgt ein Kommentarteil, der jeweils Auskunft zur Entstehung des Textes gibt und dann Anspielungen erläutert, Fremdwörter übersetzt und knappe Informationen zu in Bezug genommenen Personen bereithält. Sehr knapp erläutert Christiane Henke ihre Textauswahl und -anordnung. Auch gibt es eine biographische Skizze Augspurgs. Ein Personenregister (mit fehlerhaften Seitenverweisen) und ein Sachregister runden das Buch ab. Wer weiterlesen will, wird über das gut sortierte Werkverzeichnis mit über 500 Titeln hoch erfreut sein.

Insbesondere für diejenigen, die sich mit der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich beschäftigen, ist die Sammlung eine wahre Fundgrube. Für die Mühen, weit verstreute Schriften zu sammeln, zu ordnen, zu kommentieren und in lesbare Form zu bringen, kann der Herausgeberin nicht genug gedankt werden. Hier ist eine wesentliche Grundlage für vertiefte Auseinandersetzungen mit Augspurg als Person und als Rechtspolitikerin, aber auch mit Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung insgesamt gegeben.

Die Studienausgabe will jedoch mehr, nämlich die Schriften Augspurgs auch für eine (rechts-)historisch eher uninformierte Rechtswissenschaft öffnen. Hindernisse für solche Öffnungen bestehen zum einen in den Texten selbst, die in der zeitgenössischen Sprache, speziellen Diskursen und Diskursformen eingebettet sind, zum anderen in der Gattung „Rechtspolitik“, die bis heute mangelhaft in die Rechtswissenschaft integriert ist, im Thema „Frauenrechte“, das als ideologisch gilt, und im Überschreiten von Fachgrenzen, denn Augspurg schreibt vom Eherecht übers Sexualstrafrecht bis hin zum Versammlungsrecht über alles, was für die Gleichstellung der Frau von Interesse ist.

Hinzu kommt, dass Augspurg in ihren Texten keine ungebrochene Identifikationsfigur bietet. Christiane Henke hat schon in ihrer Biographie gewarnt: „Anita Augspurg hat einige Texte geschrieben, die selbst unter Einbeziehung des historischen Kontextes heute nur schwer erträglich sind.“5 Umso bedauerlicher ist die Zurückhaltung, die Christiane Henke bei ihrer Kommentierung immer wieder übt. Die sozialdarwinistische Schrift „Reformgedanken zur sexuellen Moral“ (1911) erhält trotz ihrer Länge und Problematik eine der kürzesten Kommentierungen des Bandes. In ihrer Augspurg-Biographie befasst sich Christiane Henke über fast drei Seiten mit diesem Text und fügt noch profunde Kritik an Augspurgs Sexualitätsverständnis hinzu. Das revolutionäre Potential der Forderung nach „Eheerrungenschaft“ muss sich die Leserin selbst erschließen oder findet dies nur im Vorwort zur Studienausgabe von Stephan Meder (S. 11) angedeutet. Auch über den „Aufruf zum Eheboykott“ hätte sich wohl mehr sagen lassen, als dass er ein „enormes Presseecho“ fand (S. 323). Diese teils zu große Zurückhaltung Christiane Henkes in den Kommentaren ist zu bedauern. Davon abgesehen aber ermöglicht es die Kommentierung, Augspurgs Schriften mit Gewinn zu lesen, und eine parallele oder vorhergehende Lektüre der hervorragenden Biographien von Christiane Henke und Susanne Kinnebrock ist ohnehin zu empfehlen. Für einschlägige rechtshistorische Forschungen ist die Studienausgabe ganz unverzichtbar, und für eine interessierte Rechtswissenschaft und weitere Fachöffentlichkeiten bietet sie überraschende Einblicke, nachhaltige Erkenntnisse und nicht zuletzt eine reiche Quelle aktivierender Zitate.

Anmerkungen:
1 Christiane Henke, Anita Augspurg, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 9.
2 Ausführlich Susanne Kinnebrock, Anita Augspurg (1857–1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie, Herbolzheim 2005. Vgl. die Rezension von Kerstin R. Wolff in: H-Soz-u-Kult, 13.06.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-182> (09.04.2014).
3 Christiane Berneike, „Nichts ist unmöglich“ – Anita Augspurg – eine biographische Recherche, 1994 <http://www.frauenmediaturm.de/themen-portraets/feministische-pionierinnen/anita-augspurg/auswahlbibliografie/anita-augspurg-eine-biographische-recherche/> (31.03.2014).
4 Lida Gustava Heymann / Anita Augspurg, Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden, hrsg. von Margrit Twellmann, Meisenheim 1972.
5 Henke, Augspurg (wie Anm. 1), S. 8.

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