: Digitale Editionsformen – Teil 1: Das typografische Erbe. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Norderstedt 2013 : Books on Demand - BoD, ISBN 978-3-84826-320-2 356 S. € 49,90

: Digitale Editionsformen - Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Norderstedt 2013 : Books on Demand - BoD, ISBN 978-3-84825-252-7 292 S. € 44,90

: Digitale Editionsformen - Teil 3: Textbegriffe und Recodierung. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Norderstedt 2013 : Books on Demand - BoD, ISBN 978-3-84825-357-9 556 S. € 49,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Forschungsstelle Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Patrick Sahle ist auf dem Gebiet der „digital humanities“ kein Unbekannter. Er befasst sich seit Jahren intensiv mit Fragen der Editorik und ist Geschäftsführer des „Cologne Center for eHumanities (CCeH)“. Als einer der führenden Köpfe der digitalen Editorik ist nicht nur seine praktische Erfahrung in die vorliegende dreibändige Studie eingeflossen, sondern auch seine theoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Im ersten Band zeichnet Sahle Geschichte und Methoden des Editionswesens in den Philologien und in der Geschichtswissenschaft nach. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Germanist und Altphilologe Karl Lachmann (1793–1851) die prägende Figur der historisch-kritischen Edition. Die Frühphase der Editorik war gekennzeichnet vom Bemühen um „Wahrheit“ und „Authentizität“ der Texte, von der Anlage von Text-Stammbäumen, der Suche nach dem besten, frühesten Urtext als Editionsgrundlage und somit vom Streben nach einer finalen Edition, die dauerhaft Gültigkeit beanspruchen sollte.

Lachmanns Ansatz wurde von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen. Die Monumenta Germaniae Historica (MGH) und die Deutschen Reichstagsakten (RTA) setzten seit 1826 bzw. 1858 Standards für die Edition historischer Quellen. Während in der Geschichtswissenschaft die geforderte kritische Transparenz in weichere Regularien maßvoll kritischer Art überführt wurden, setzten die Philologien die Diskussion um editorische Fragen auch im 20. Jahrhundert fort.

Eine Edition unterliegt immer den Textauffassungen der jeweiligen Zeit, etwa im Hinblick auf Forschungsfragen, Leserkreis, editorisches Selbstverständnis (kritisch, unkritisch) sowie mono- oder interdisziplinären Anspruch. Editionen sind somit den Intentionen verhaftet, unter denen sie eingerichtet werden. Daneben sind sie von den technischen Möglichkeiten ihrer Zeit geprägt und dies bedeutet vom Medium des gedruckten Buchs (Bd. 1, S. 255–345). Sahle führt aus, dass eine gedruckte Edition den Charakter eines abgeschlossenen Korpus besitze, der faktisch jedoch nicht gegeben sei, wenn etwa neu aufgefundene Texte den Editionsstand verändern könnten. Beim Druck sei nur ein begrenzter typographischer Zeichensatz möglich und vielfach eine gewisse an das Medium Buch gekoppelte Ästhetik einer Editionsseite erwünscht, bei der etwa Apparate für Anmerkungen oder Textkritik eine bestimmte Größe nicht überschreiten dürften. Der Platz sei im Druck grundsätzlich dadurch begrenzt, dass nur eine beschränkte Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckel passte. Die durch das Medium des gedruckten Buchs gesetzten Grenzen haben also unmittelbaren Einfluss auf die zu edierenden Texte, wenn etwa aus Platz- und Kostengründen nicht alle überlieferten Textzeugen berücksichtigt oder die Kommentierung schmal gehalten werden. Diese Beschränkungen sieht Sahle bei einer Edition, die in digitaler Form präsentiert wird, aufgehoben.

Im zweiten Band stellt er zunächst die technische Entwicklung im 20. Jahrhundert vor: Nachdem bereits in den 1960er-Jahren erste Ansätze für Editionen in Form von hypertext gemacht wurden, bedeutete das HTML-basierte Internet den Durchbruch für die digitale Ausgabe. Mit der Extensible Markup Language (XML) und den hierauf basierenden Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) stehen heute Standards zur Verfügung, mit denen digitale Edition realisiert werden können, die gegenüber dem gedruckten Buch einen Mehrwert besitzen. Hierzu gehört, dass die Menge der zu edierenden Texte nicht mehr beschränkt ist und dass komplexere Texte ediert werden können, die im Druck nicht adäquat wiederzugeben wären (Bd. 2, S. 188). Ferner bietet das Internet die Möglichkeit späterer Veränderung an der Edition (z.B. Korrekturen, Integration neu aufgefundener zusätzlicher Textzeugen). Sahle räumt zwar ein, dass die digitale Form gegenüber der traditionellen komplexer ausfällt, nicht zuletzt, weil die Anwendung von XML und TEI mit einem erhöhten Einarbeitungsaufwand verbunden ist, er sieht digitale Editionen für die Zukunft aber dennoch als alternativlos an: „Wenn es darum geht, für die Forschung inhaltsreiche, anspruchsvolle und zeitgemäße Editionen bereitzustellen, dann führt an digitalen Formen kein Weg vorbei“ (Bd. 2, S. 123).

In der Auseinandersetzung mit der Frage, warum Editionen heutzutage zwar überwiegend in digitaler Form erarbeitet, aber weiterhin in Buchform publiziert werden, bezieht Sahle erfreulicherweise auch die Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs mit ein und lotet aus, in welchem Rahmen digitale Editionen erstellt, gewünscht oder abgewehrt wurden und werden. Vor allem große Wissenschaftsinstitutionen halten sich mit der Erstellung digitaler Editionen noch immer zurück, indem sie dem Machbaren viele Gegenargumente entgegensetzen: technische Hürden, inhaltliche Komplexität, mangelnde Erfahrung und beschränkte Möglichkeiten, digitale Editionen zu nutzen, befürchteter Qualitätsverlust, Sorge um nicht sichergestellte langfristige Zugriffsmöglichkeit und Datenpflege sowie wirtschaftliche und rechtliche Bedenken im Hinblick auf Verlage. Der zweite Band spiegelt somit auch die Situation der Geisteswissenschaften im Medienwandel zwischen Beharrungswillen und Innovationsdruck wieder (Bd. 2, S. 100–124).

Im dritten Teil spürt Sahle auf theoretischer Ebene dem Wesen eines zu edierenden Texts nach und definiert sechs Grundbegriffe (Text als sprachliche Äußerung, als Werk, als Fassung, als Dokument, als Idee bzw. Intention und als Zeichen), die in einer Edition idealerweise zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang setzt sich Sahle intensiv mit dem editorischen Kernthema, der Transkription von Texten, auseinander und zeigt auf, was eine Transkription leisten sollte und je nach medialer Form leisten kann (Zeichen, Wörter, normalisierte Zeichen und Wörter, Layout etc.). Die Wiedergabe eines Textes sollte objektiv sein, verbunden mit dem Anspruch, „dass die eine, einmalig erstellte Transkription den Text für viele – im Idealfall: alle – möglichen Fragestellungen bereitstellt“ (Bd, 3, S. 255). Sie ist jedoch immer ein Leseprozess, der den Vorstellungen des Editors folgt und somit bestimmten Bedingungen unterworfen ist. Sahle problematisiert die theoretischen Ansätze und zeigt die Schwierigkeiten in der Praxis auf: Objektivität ist schwer zu erreichen, allgemeingültige Transkriptionsregeln können auch in einer digitalen Edition nicht gänzlich erreicht werden.

Das von Sahle vorgelegte dreibändige Werk ist nicht nur reich an Seiten, sondern auch an Inhalt. Man findet darin so ziemlich alles, was die Geschichte des Editionswesens betrifft, welche Fragen und Wünsche die Forschung an Editionen stellte und stellt und welche technischen Möglichkeiten der Umsetzung es gab und gibt. Die Studie vermittelt mannigfaltige Denkanstöße und macht Editoren ihr Tun bewusster.

Sahles Kritik an traditionellen gedruckten Editionen ist nicht von der Hand zu weisen: Bücher unterliegen bestimmten Zwängen, die durch digitale Formen überwunden werden können. In seinem begeisterten Eintreten für digitale Editionen verstellt er sich jedoch den Blick darauf, dass digitale Editionen mitunter den gleichen Limitierungen wie gedruckte Bücher unterliegen.

Sahle legt sich etwas zu einseitig auf den Medienwandel vom gedruckten Buch zur digitalen Form als einziges Movens für die Realisierung editorischer Ideale in digitaler Form fest. Fraglich erscheint etwa, ob es wirklich das Ziel einer Edition sein sollte, möglichst alle Überlieferungszeugen eines Texts zu edieren, nur weil dies technisch im unbegrenzten Raum des WWW möglich ist. Auch digitale Editionen haben also Platzprobleme, wenn auch gegenüber Printmedien in umgekehrtem Sinne. Das Internet bietet zwar unbeschränkten Raum, aber nicht alles, was technisch machbar ist, scheint für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch sinnvoll. Hinzu kommt, dass das editorische Ideal einer breiten und tiefen Kommentierung ein weiteres Problem aufwirft, auf das Sahle nur am Rande eingeht (Bd. 1, S. 275): Komplexe Editionen binden Zeit (Arbeitsstunden der Editoren) und damit Geld (in der Regel der öffentlichen Hand), unabhängig davon, ob sie digital oder analog präsentiert werden.

Sahles Studie stellt derzeit nicht nur die umfassendste und aktuellste Auseinandersetzung mit dem Thema „digitale Editionsformen“ dar, sondern zeichnet sich auch durch große sprachliche Präzision und reflektorische Distanz aus. Man merkt dieser originellen Arbeit an keiner Stelle an, dass es sich um eine Qualifikationsschrift handelt (Dissertation, betreut von Manfred Thaller und Andreas Speer an der Universität zu Köln).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Weitere Informationen
Digitale Editionsformen – Teil 1: Das typografische Erbe
Sprache der Publikation
Digitale Editionsformen - Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik
Sprache der Publikation
Digitale Editionsformen - Teil 3: Textbegriffe und Recodierung
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension