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Titel
Volksaufklärerische Schulreform auf dem Lande in ihren Verflechtungen. Das Besucherverzeichnis der Reckahner Musterschule Friedrich Eberhard von Rochows als Schlüsselquelle für europaweite Netzwerke im Zeitalter der Aufklärung


Autor(en)
Goldbeck, Johanna
Reihe
Philanthropismus und populäre Aufklärung - Studien und Dokumente 7
Erschienen
Bremen 2014: Edition Lumière
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Eva Matthes, Lehrstuhl für Pädagogik, Universität Augsburg

Die vorliegende Arbeit, mit der Johanna Goldbeck im Wintersemester 2012/13 an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam promoviert wurde und die mit dem Julius-Klinkhardt-Preis für bildungshistorische Forschung ausgezeichnet wurde, stellt eine quellengesättigte Studie aus diesem Bereich dar, die am Beispiel des Besucherverzeichnisses der Reckahner Musterschule zeigt, wie Netzwerkforschung für eine bildungshistorische Studie fruchtbar gemacht werden kann. Der Begriff des Netzwerks wird in der zu besprechenden Arbeit auf zwei Ebenen eingesetzt: zum einen in einem eher metaphorischen Sinne zur strukturierenden Auswertung des Besucherbuches unter der Perspektive der zu Tage tretenden institutionellen, personellen und regionalen Verflechtungen der Reckahner Musterschule; zum anderen im sozialwissenschaftlichen Sinne, indem mit Hilfe einer graphisch aufbereiteten Netzwerkanalyse qualitative Erkenntnisprozesse vorbereitet und visuell untermauert werden.

Damit sich der Leser/die Leserin ein genaues Bild machen kann, soll der Aufbau der Arbeit reflektierend skizziert werden: In ihrem Einleitungskapitel gibt Johanna Goldbeck einen kenntnisreichen Aufriss ihres Themas und weist auf das zeitgenössische Wissen um die Bedeutsamkeit von „Connexionen“ (Hecker 1798, zit. S. 19), also persönlichen Beziehungsgeflechten und sozialen Netzwerken hin, um das aufklärerische Gedankengut zu verbreiten. Umfassend wird von ihr der Forschungsstand zur Rochow-Rezeption und Rochow-Forschung der letzten 200 Jahre wiedergegeben und auf der Basis der akribischen Darstellung des Forschungsstandes zum Besucherverzeichnis der Rochowschen Schule die Legitimation ihres eigenen Forschungsvorhabens erläutert. Anschließend schildert sie methodologisch versiert den Gang ihrer Untersuchung, verweist auf Quellenlücken und umfassend zu leistende Kontextualisierungen, die wiederum einen – in seinem selektiven Charakter zu begründenden – exemplarischen Umgang mit dem Besucherverzeichnis nötig machen.

In ihrem zweiten Kapitel beschäftigt sich Goldbeck mit dem Entstehungskontext der Reckahner Musterschule im politischen, ökonomischen, mentalitätsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Umfeld und beschreibt detailreich und anschaulich den aktuellen Wissensstand über das niedere Schulwesen auf dem Land im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ihre Darstellung führt konsequent hin zur plastischen Darstellung der Situation auf den Reckahner Gütern sowie der Genese und schließlichen Ausgestaltung der Reckahner Musterschule. Deren Würdigung durch Johanna Goldbeck fällt uneingeschränkt positiv aus: „Die Rochowsche Lehrart war – aus der heutigen Sicht betrachtet und mit modernen Begriffen gesprochen [sind diese hier angebracht und wirklich historisch passend?; E.M.] – kindzentriert, lernerorientiert, auf die Lern- und Lebenswelt der Kinder ausgerichtet und individuell auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes Kindes abgestimmt“ (S. 68). Die nächsten Unterkapitel sind mit klug ausgewählten Zitaten der zeitgenössischen Berichterstattung zur Reckahner Musterschule und zeitgenössischen Reisebeschreibungen nach Reckahn gewidmet.

In ihrem dritten Kapitel stellt Goldbeck ihre entscheidende Quelle – das Reckahner Besucherverzeichnis – als einen Teil des Reckahner Listenbuches ausführlich sowie reflektiert quellenkritisch vor und begründet die Annahme, „dass es sich zumindest im ersten Teil des Besucherverzeichnisses (von 1773 bis 1809) um eine Abschrift handelt“ (S. 126). Der zweite Teil des Verzeichnisses von Herbst 1812 bis Ostern 1855 wird von ihr erstmals in eine Analyse mit einbezogen. Die erste große Erschließungsleistung von Johanna Goldbeck liegt in der vollständigen Erfassung der insgesamt 1.605 Besuchseinträge, die bis zu 1.200 verschiedenen Besuchern zugeordnet werden können, in einer Datenbank mit prosopographischen und inhaltlichen Schlagwörtern. Auf dieser Basis konnte die inhaltliche Auswertung der Daten des Besucherverzeichnisses in quantitativer und qualitativer Perspektive erfolgen. In einem nächsten Schritt beschreibt sie die bildungshistorische Netzwerkanalyse als Methode für ihre Studie: zum einen unterscheidet sie bei ihrer Analyse des Besucherverzeichnisses strukturell zwischen institutionellen, personalen und regionalen Teilnetzwerken des Gesamtnetzwerkes; zum zweiten erprobt sie die „Annahme, dass durch Visualisierungen in Netzwerkgraphen neue Zugänge zu großen historischen Datenmengen auf funktionaler und relationaler Ebene erschlossen werden können“ (S. 149), an zwei Gruppennetzwerken des institutionellen Teilnetzwerkes, da jene „nach Größe, Struktur und Forschungslage am geeignetsten erschienen“ (S. 151).

Das vierte Kapitel ist der Durchführung der Netzwerkanalyse gewidmet. Nach grundsätzlichen Ausführungen zur Struktur des Besuchsnetzwerkes der Reckahner Musterschule beginnt Johanna Goldbeck ihre detaillierten Analysen mit den institutionellen Verflechtungen. Hier geht es zum einen um Verflechtungen mit seminaristischen Institutionen, zum zweiten mit den Garnisonschulen und zum dritten mit der Allgemeinen Hamburger Armenanstalt. Die ersten beiden veranschaulicht sie durch Netzwerkgraphen (S. 166; S. 214). Hierzu ist kritisch oder vielmehr bedauernd anzumerken, dass die Graphen nicht farbig abgebildet sind; so sind gerade bei der Abbildung der seminaristischen Verflechtungen die dunklen Farbtöne nur sehr schwer zu unterscheiden und der gewünschte Effekt zur besseren Verständlichkeit der Verbindungen durch größere Anschaulichkeit wird geschmälert. Hier hätte man bei Unmöglichkeit eines Farbdrucks gegebenenfalls eine etwas andere, anschaulichere Darstellungsform wählen sollen. Was der Graph (S. 166) aber dennoch zeigt, ist die Dichte und Komplexität der seminaristischen Verflechtungen ausgehend von Reckahn als Knotenpunkt. Weit über die Möglichkeiten der graphischen Darstellung hinaus gelingt es Johanna Goldbeck durch ihr eindrucksvolles historisches und bildungsgeschichtliches Kontextwissen die Verflechtungen plastisch werden zu lassen und ihre Bedeutsamkeit und Funktion nachvollziehbar zu beschreiben. Manches erfolgt wie nebenbei, ist aber doch für die Arbeit zentral: etwa die konzise Darstellung der Situation der Lehrerseminare im 18. Jahrhundert. Neben den institutionellen Verflechtungen (die natürlich immer auch eine personale Grundlage haben) nimmt sie die genuin personalen in den Blick und konzentriert sich hier aufgrund der Häufigkeit bzw. der Bedeutsamkeit der Besuche bzw. der bisherigen Vernachlässigung in der Forschung – immer unter der Perspektive der Multiplikatorentätigkeit! – auf die Geistlichen, die adligen Gutsherren und die Frauen. Schließlich wendet sie sich noch den regionalen Verflechtungen des „Aufklärungsknotens Reckahn“ zu (S. 294). Als Exemplum wählt Johanna Goldbeck die Verflechtungen mit dem Fürstentum Anhalt-Dessau, da dieses „als Musterbeispiel einer regionalen Umsetzung philanthropischer Erziehungsideen gesehen werden“ könne (S. 296).

Das letzte Kapitel der Arbeit stellt eine sehr überzeugende, dichte, die Forschungsergebnisse offensiv präsentierende Abschlussperspektive dar mit konkreten Hinweisen auf weitere Forschungsdesiderate und die Bedeutsamkeit ihrer bildungshistorischen Studie für aktuelle Fragestellungen. Dem Schlusskapitel folgen das eindrückliche, vom immensen Fleiß Johanna Goldbecks zeugende, 50 Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis sowie hilfreiche Register der zeitgenössischen Personen, Orte und Regionen.

Abschließend ist darauf zu verweisen, dass sich Johanna Goldbeck in ihrer Arbeit durchgängig klar positioniert. Sie macht immer deutlich, worin sie den spezifischen Erkenntnisgewinn ihrer Arbeit sieht: in dem Nachweis nämlich, dass die Reckahner Musterschule ein immenses „dezentrales Wirkkraftmodell“ (S. 317) entfaltet habe, dass „der Schulwandel ‚von unten‘ weit weniger lokal begrenzt“ gewesen sei „als bisher angenommen“ (S. 317), dass die durch Multiplikatoren ausgelösten „Rezeptions- und Adaptionsprozesse der Rochowschen Lehrart“ (S. 311) immens gewesen seien. Sie scheut sich in diesem Kontext auch nicht, dem Historiker Wolfgang Neugebauer, mit dessen Publikationen sie sich intensiv auseinandergesetzt hat und deren Bedeutsamkeit für ihre Arbeit sie explizit unterstreicht, bei einer Interpretation mit ihren Forschungsergebnissen entgegenzutreten: „Anders als von Wolfgang Neugebauer beurteilt, können die vielen dezentralen ‚Schulreformbestrebungen‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert durch die exemplarisch für die Reckahner Musterschule aufgedeckten, multiplikatorischen Wirkungen auf die Schulrealität als der Anfang einer sich schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachhaltig verändernden Schullandschaft gewertet werden“ (S. 317). So soll es sein, Nachahmung wird empfohlen: Eine in Form einer Dissertation erbrachte Forschungsleistung verortet sich offensiv im souverän überblickten aktuellen Forschungsstand und stellt selbstbewusst den Mehrwert ihrer bildungsgeschichtlichen Perspektive dar!

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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