S. Lienert: Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder

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Titel
„Wir wollen helfen, da wo Not ist“. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder 1933–1947


Autor(en)
Lienert, Salome
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 47,50
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Philipp Eigenmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) kümmerte sich zwischen 1933 und 1947 um 10.000 vorwiegend jüdische Flüchtlingskinder. Zunächst organisierte das Hilfswerk in den 1930er-Jahren Erholungsurlaube für notleidende Kinder aus den umliegenden Staaten. Je stärker sich der Kriegsbeginn in Europa abzeichnete, umso deutlicher kamen Flüchtlingskinder innerhalb der Schweiz ins Blickfeld der Hilfstätigkeiten des SHEK. Die Organisation sorgte für deren Unterbringung in Heimen oder Pflegefamilien, klärte Fragen sowohl zur religiösen Betreuung wie auch zur schulischen und beruflichen Ausbildung und bereitete, wenn möglich, die Weiter- oder Rückreise der Kinder vor.

Die vorliegende Dissertation von Salome Lienert bietet eine sorgfältige und detaillierte Rekonstruktion des Schweizer Hilfswerks für Emigrantenkinder auf einer umfangreichen und vielseitigen Quellenbasis sowie auf der Grundlage einzelner Interviews. Die Autorin nennt als Erzähllinien der Studie erstens die Entwicklung des Hilfswerks, zweitens dessen Rolle innerhalb der schweizerischen Flüchtlingshilfe und drittens dessen Tätigkeiten zur Betreuung der Flüchtlingskinder in der Schweiz (vgl. S. 17). Das SHEK wird dabei als ein dezentral organisiertes Hilfswerk mit einer zunehmend an Bedeutung gewinnenden Zentralstelle beschrieben. Das hohe Engagement von Einzelpersonen – meist Frauen – wie auch das Verhandlungsgeschick gegenüber den Behörden oder anderen Hilfsorganisationen trugen dazu bei, dass es dem Hilfswerk wiederholt gelang, Schlupflöcher in der im Grunde sehr restriktiven Flüchtlingsregelung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auszumachen und so für die Flüchtlingskinder zu sorgen.

Lienerts Studie ist klar strukturiert. Zunächst werden die Organisation und einzelne Protagonistinnen im Hilfswerk vorgestellt und im Feld der damaligen unterschiedlichen Hilfsorganisationen für Flüchtlinge verortet. Insbesondere den Abschnitten zu den einzelnen kantonalen Sektionen wie auch den biografischen Skizzen zur Präsidentin, zur Generalsekretärin und zu vier weiteren Mitgliedern der Zentralstelle räumt die Autorin viel Platz ein. In diesen Passagen lassen jedoch die kleinräumig gehaltenen Erläuterungen die übergeordnete Argumentation etwas aus dem Blick geraten. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit den Tätigkeiten des Hilfswerks, insbesondere mit der Unterbringung und der Betreuung der Flüchtlingskinder – und erst hier nimmt die Erzählung an Fahrt auf. Zunächst befasst sich die Autorin mit den vor dem Kriegsausbruch erfolgten Erholungsurlauben, die vor allem für jüdische Kinder in Not in Frankreich organisiert wurden. In diesem Engagement gründete auch die Entstehung des Hilfswerks. Zur Hilfeleistung angeregt von einer französischen Hilfsorganisation und zunächst als deren Schweizer Sektion tätig, machte sich die Organisation 1934 selbständig. Die Tätigkeiten des SHEK verschoben sich in der Folge. Im Nachgang der Pogrome im November 1938 erreichte das Hilfswerk, dass die Schweizer Behörden entgegen der damaligen Flüchtlingspolitik eine Sonderbewilligung für die Einreise von 300 jüdischen Kindern aus Frankfurt ausstellten. Auch die während den Kriegsjahren illegal in die Schweiz geflüchteten Kinder bedurften der Unterstützung.

Lienert geht in ihrem Werk auf unterschiedliche Aspekte des Hilfswerks ein und zeichnet dadurch ein umfassendes und kohärentes – in Teilen aber auch redundantes – Bild der Organisation. Die Tätigkeiten des Hilfswerks lagen im äußerst interessanten Schnittfeld dreier Themenbereiche: Erstens befasst sich die Studie Lienerts mit den Auseinandersetzungen innerhalb der Schweizer Zivilbevölkerung über eine neutrale ‚Nichteinmischung‘, über die Pflicht zur humanitären Hilfe oder gar zur Unterstützung der deutschen Großmacht während des Krieges. Die Autorin nimmt dabei die Einordnung des SHEK in die Reihe weiterer Organisationen der Flüchtlingshilfe wohl in Anbindung an die bestehende Forschungsliteratur vor, räumt dabei aber den sozialistischen Hilfswerken verhältnismäßig wenig Platz ein. In der Folge postuliert Lienert in Übereinstimmung mit der Eigendeklaration des Hilfswerks dessen politische und religiöse Neutralität. Diese Deklaration wurde jedoch von den vorwiegend bürgerlichen Protagonistinnen geschickt genutzt, um sich von offensichtlich linken wie auch von jüdischen Organisationen abzugrenzen. Neutralität sei für das Hilfswerk „Prinzip im Umgang mit den Kindern“ wie auch „Instrument um sich nach außen zu präsentieren“ gewesen (S. 86). Lienert räumt zwar ein, die Aktionen und Tätigkeiten des Hilfswerks seien sehr wohl politisch einzustufen. Eine offensive Einordnung des politischen Gehalts des Hilfswerks erfolgt im Kapitel zur „Neutralität und Politik“ (Kapitel 2), wo die Autorin nachvollziehbar argumentiert, wie Frauen auch ohne politische Rechte durchaus politische Funktionen wahrnehmen konnten. In den weiteren Ausführungen bleibt der politische Aspekt des Hilfswerks leider aber verhältnismäßig wenig berücksichtigt.

Darüber hinaus werden aber auch zwei weitere Themenfelder besprochen, welche jenseits der Thematisierung des Krieges ebenfalls historiografischen Wert haben und über den Einzelfall der SHEK hinaus Bedeutung entfalten. Das zweite übergeordnete Themenfeld, das die Studie aufgreift, ist das Verhältnis von Migration und Bildung, das am Beispiel der Betreuung, Beschulung und Berufsbildung von Flüchtlingskindern besprochen wird. Die Autorin beschreibt treffend die Schwierigkeiten, welche sich bei der Beschulung von Migrantenkindern in öffentlichen Einrichtungen ergaben, weil diese die lokale Landessprache nur unzureichend beherrschten und kriegsbedingt Bildungslücken aufwiesen. Erschwerend für die Aufnahme der Flüchtlingskinder in das öffentliche Bildungswesen wie auch in die Berufsbildung war zudem die Annahme des Hilfswerks, dass die Kinder nur temporär in der Schweiz waren. Dennoch strebte das SHEK eine möglichst rasche Aufnahme der Flüchtlingskinder in öffentliche Schulen und in die Ausbildungsbetriebe vor Ort an. Die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten – wenn französischsprechende Kinder in einer deutschsprachigen Gemeinde beschult werden sollten oder wenn lokale Schulen aufgrund des damals vorhandenen ‚Überfremdungs‘-Diskurses nur einzelne jüdische Kinder aufnehmen wollten – zeigen auffällige Parallelen zu den Problemstellungen, welche sich umso bedeutender 25 Jahre später bei der Frage nach der adäquaten Beschulung der Kinder italienischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten stellten.1

Als dritten übergeordneten Themenbereich verhandelt die Verfasserin mit der Unterbringung der Flüchtlingskinder auch Aspekte der Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern in Pflegefamilien und Heimen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Aktion der ‚Lagerbefreiung‘ des Hilfswerks von Bedeutung, in welcher Kinder aus den Auffanglagern für Flüchtlinge geholt und somit von den Eltern gegen deren Willen getrennt wurden. Lienert nennt die Aktion „eine der problematischsten Entscheidungen in der Geschichte des SHEK“ (S. 137) und zieht Parallelen zur ebenso problematischen Aktion ‚Kinder der Landstrasse‘, in der die Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 Kinder von Fahrenden den Eltern entrissen und in Heimen oder als Verdingkinder bei Bauern untergebracht hatte. Während Lienert durchaus problematische Aspekte der Aktion ‚Lagerbefreiung‘ aufzeigt und diskutiert, bleibt dies bei der Beantwortung der Frage, wie das Hilfswerk die Flüchtlingskinder in Pflegefamilien oder eigenen wie auch bereits bestehenden Heimen unterbrachte, jedoch aus. Hinweise auf die unlängst veröffentlichten Studien zur Fremdplatzierung von Kindern in der Schweiz2 wären zur Einordnung dieser Tätigkeit des Hilfswerks durchaus hilfreich gewesen. Ähnlich isoliert wirkt auch der Abschnitt über die École d’Humanité von Paul Geheeb, in welcher das SHEK wiederholt Flüchtlingskinder platzierte. Die Autorin bewertet dies weitgehend positiv, obwohl sie sich für die Kontextualisierung auf eine einzelne biografische Studie zu Paul Geheeb beschränkt. Die in den vergangen Jahren intensiv geführte Auseinandersetzung über Missbrauchsfälle in Landerziehungsheimen bzw. die „dunklen Seiten der Reformpädagogik“3 bleiben irrtierenderweise unerwähnt. Hier hätte sich durchaus die Gelegenheit geboten, auf die noch weitgehend unbeantwortete Frage, inwieweit die École d’Humanité ins verhängnisvolle Netz reformpädagogischer Landerziehungsheime wirklich eingebunden war, erste Antworten zu geben.

In diesem Sinne bleibt die Frage offen, ob die detailreiche Studie Lienerts nicht ein zu positives Licht auf das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder wirft. Der Autorin gelingt es zwar in allen Kapiteln, problematische wie eindrückliche Aspekte des Hilfswerks aufzuzeigen, differenziert zu beleuchten und durchaus über den Einzelfall hinweg relevante Fragen aufzugreifen. Sie verpasst aber gleichzeitig, diese Konfliktfelder einerseits anhand der bestehenden Forschungsliteratur weiterführend zu kontextualisieren und andererseits konsequent ins Verhältnis zur bürgerlich-humanitären Politik der engagierten Mitarbeiterinnen des Hilfswerks zu setzen. Der Leserin und dem Leser fehlen in dieser Hinsicht bisweilen die Anknüpfungspunkte, wie der Fall des Schweizer Hilfswerks für Emigrantenkinder einzuordnen ist. Als Einzelfallstudie bietet Lienert jedoch durchaus einen eindrücklichen Einblick in den Leistungsausweis des Kinderhilfswerks.

Anmerkungen:
1 Vgl. Paolo Barcella, Migranti in classe. Gli italiani in Svizzera tra scuola e formazione professionale, Verona 2014.
2 Vgl. bspw. Marco Leuenberger u.a., „Die Behörde beschliesst“ – zum Wohl des Kindes? Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912–1978, Baden 2011.
3 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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