P. Scholz u.a. (Hrsg.): Fragmente römischer Memoiren

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Titel
Fragmente römischer Memoiren.


Herausgeber
Scholz, Peter; Walter, Uwe
Reihe
Studien zur Alten Geschichte 18
Erschienen
Heidelberg 2013: Verlag Antike
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Diegel, Fachbereich Alte Geschichte, Universität Basel

Dass römische autobiographische Texte wenig präsent sind in unserem Horizont und benachbarte Gattungen wie Geschichtsschreibung und Biographie sehr viel mehr Interesse wecken, hängt sicher mit der Überlieferungslage zusammen. Zwar sind aus Erwähnungen von späteren Autoren einige Schriften De vita sua und solche mit ähnlichem Fokus bekannt, doch ist kein Werk vollständig erhalten. Bei der Untersuchung der Fragmente stellen sich mehrere Schwierigkeiten: Die Auswahl der Textstelle, auf die sich ein Zweitautor bezieht, ist von dessen spezifischem Interesse an einem historischen Ereignis oder an einer grammatikalischen Regel bestimmt. Deshalb ist die Aussagekraft eines einzelnen Fragments, was Form, Struktur und Inhalt der ursprünglichen autobiographischen Schrift betrifft, meist beschränkt. Dieser Befund hat dazu geführt, dass der römischen Gesellschaft Individualität als Wert abgesprochen wurde, welche man erst viel später, in der frühen Neuzeit, entstehen sah.1 Welche Position man auch immer in dieser Diskussion beziehen möge – die römischen Memoiren haben viel zu bieten: Sie werfen literarische Fragen auf und stellen historische Zeugnisse dar, die sowohl über das Vergangene aus der Sicht eines Einzelnen berichten und somit eine subjektive Geschichtserfahrung und -verarbeitung widerspiegeln als auch einen engen Bezug zum Kontext und zu der Zeit aufweisen, aus der heraus sie entstanden sind.

Die Sammlung von Fragmenten republikanischer Memoiren von Peter Scholz und Uwe Walter ist als Ergänzung zum zweiten Band „Die frühen Römischen Historiker“ (FRH) gedacht.2 Mit den Ausgaben von Peter und Chassignet liegen bereits gesonderte Editionen der Fragmente autobiographischer Texte vor.3 Die vorliegende Ausgabe ist vor allem auf die praktische Nutzung hin ausgerichtet und vereint Text, Übersetzung und einen prägnanten Kommentar zu jeder Stelle. Sie ist insbesondere für diejenigen Althistoriker und Philologen von großem Interesse, die Formen senatorischer Selbstdarstellung und die politische Kommunikation in der späten Republik untersuchen. In den letzten Jahren ist eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die sich dem Thema der römischen Memoiren und Autobiographien widmen und als thematischer Überblick dienen können.4 Mit ihrer Fragmentsammlung legen Scholz und Walter unter Mitarbeit von Christian Winkle ein solides Grundlagenwerk vor, das den Zugang zu den betreffenden Texten und den Einstieg in eine vertiefte Beschäftigung mit ihnen erleichtert. Der Band vereint in chronologischer Reihenfolge Fragmente von C. Sempronius Gracchus, Q. Caecilius Metellus Numidicus, M. Aemilius Scaurus, P. Rutilius Rufus, Q. Lutatius Catulus, L. Cornelius Sulla, M. Tullius Cicero und M. Terentius Varro. Die Auswahl der Autoren und Textstellen weicht teilweise von jener der Ausgabe Chassignets ab: Es kommen bei Scholz und Walter Gracchus, Caecilius Metellus, Cicero und Varro dazu. Die Textstellen selbst werden eher kurz gefasst, konzentriert auf die eigentliche Aussage zu den autobiographischen Texten, wodurch der Kontext nicht immer gleich ersichtlich ist. Eine Erläuterung, auch der Abweichungen von den anderen Editionen, folgt jedoch im Kommentar. Die Zählung richtet sich für die bei Chassignet vorhandenen Fragmente nach der dortigen Nummerierung. Der Band weist zudem eine Konkordanz mit Peters „Historicorum Romanorum Fragmenta“ und Jacobys „Fragmente der Griechischen Historiker“ sowie ein Namens- und Sachregister und ein Stellenverzeichnis auf. Sehr nützlich ist das Literaturverzeichnis mit den neuesten Forschungsarbeiten.

Wichtige Einsichten in die Gattungsproblematik, die Motive der Autoren und Funktionen von autobiographischen Texten liefert die Einleitung (S. 20–37). Aufgrund der Überlieferungslage fällt eine genremäßige Eingrenzung auf der Grundlage der Textbruchstücke und Nennungen schwer. Die Antike kannte keinen Gattungsbegriff für diese Art von Texten, in denen ein Autor über Ausschnitte aus seinem Leben oder sein ganzes Leben berichtet. Die Werke tragen meist Titel wie De vita sua, Res gestae oder im Griechischen Hypomnemata. Lewis geht dennoch von einem „standard content and shape“ der republikanischen autobiographischen Texte aus.5 Dazu gehören für Lewis Elemente wie die Beschreibung der Abstammung, der Geburt und Kindheit, der militärischen Ausbildung und den Stationen des cursus honorum. Dagegen betonen Scholz und Walter die Offenheit der Gattung der Memoiren (S. 34–37): Die sich ausdifferenzierende literarisch-politische Landschaft Roms habe ein „Experimentierfeld“ (S. 36) geboten, das die Autoren autobiographischer Werke dazu veranlasste, verschiedene Formen der Darstellung auszuprobieren. Sulla verfasste ein monumentales Prosawerk De vita sua in 22 Büchern; Cicero versuchte sich an verschiedenen Formaten, darunter auch am Epos, die jedoch nur mäßig gut aufgenommen wurden.

Alle in der Sammlung zusammengefassten Autoren – mit Ausnahme von Varro – hatten das Konsulat erreicht, das in ihrem Werk eine wichtige Rolle spielte, und waren herausragende Männer ihrer Zeit, was sich auch in ihren Lebensläufen spiegelt. Sie waren keine Vertreter der ersten Familien der Nobilität, sondern homines novi oder gelangten als erste Sprösslinge ihrer Familie seit langem wieder zum obersten Amt der Republik. Gerade sie hatten scheinbar das Bedürfnis, ihre Autorität in Gesellschaft und Politik mittels einer Schrift über sich selbst zu festigen. Die Produktion von Memoiren erreichte am Ende der Republik einen Höhepunkt, soweit die Überlieferungslage einen Schluss darauf zulässt. Neben der Verewigung des eigenen Ruhmes durch Triumphe und Monumente, so Scholz und Walter, hatte die Literatur einen beachtlichen Stellenwert „im Kampf um die memoria“ (S. 35). Blickt man auf die weitere Entwicklung, kreierte Caesar mit seinen commentarii eine neue Form. Die Tradition der Autobiographie lebte auch in der Kaiserzeit weiter, indem sie von den Herrschern fortgeführt, aber in ihren Konturen verändert wurde und in einem anderen Kontext aufging (S. 37). Augustus hatte zwei Memoirenwerke vorzuweisen, De vita sua in 13 Büchern6 und die Res Gestae, die in ihrer Doppelnatur als Text und Monument die Selbstdarstellung des Princeps noch in eine andere Dimension überführten. Auffällig ist jedenfalls, dass keines der republikanischen Memoirenwerke vollständig überliefert wurde. Doch bezeugt die häufige Wiederaufnahme des Formats De vita sua die Relevanz, die dieser Art von öffentlicher Selbstwerbung zukam.

Die Einleitung thematisiert weiterhin die inhaltliche und überlieferungsgeschichtliche Nähe der aufgeführten Fragmente autobiographischen Schreibens zur Geschichtsschreibung und zur Briefliteratur. Die Memoirenschriftstellerei habe sich als ein Strang der traditionellen Geschichtsschreibung fortentwickelt, indem die turbulenten Phasen seit den Gracchen und besonders der innenpolitische Kampf eine Darstellung der Ereignisse aus der eigenen Sicht verlangten, die ihrerseits eine apologetische Funktion erfüllen konnte (S. 31f.). Während Angehörige der obersten Aristokratie in der späten Republik kaum mehr Geschichtswerke abfassten, waren Memoiren eine Möglichkeit, „zu einem erweiterten, kaum klar bestimmbaren Adressatenkreis über die unmittelbare Vergangenheit auch weiterhin autoritativ zu sprechen“, ohne den hohen Ansprüchen und Auflagen für ein historiographisches Monumentalwerk Genüge tun zu müssen (S. 32).

Eine zweite Entwicklungslinie sehen Scholz und Walter im Verfassen längerer Briefe, in denen politische Akteure ihr Handeln erklären und verteidigen (S. 32–34). In der vorliegenden Sammlung nimmt etwa die Schrift des C. Gracchus die Form eines Briefes an, obwohl sie von vornherein an ein breiteres Publikum gerichtet war (S. 38f.). Q. Caecilius Metellus Numidicus verfasste einen Brief aus dem Exil, adressiert an Cn. und L. Domitius Ahenobarbus, in dem er zu seiner Situation Stellung bezog. Schließlich beinhaltet die Edition auch ein Fragment, das einen Brief Ciceros an Pompeius belegt, in dem er seine Amtsführung und die politische Lage im Jahre 63 v.Chr. darlegt. Alle diese Briefe wurden scheinbar mit dem Einverständnis ihrer Autoren über den Adressatenkreis hinaus weiterverbreitet. Der Brief brachte außerdem den Vorteil eines relativ anpassungsfähigen Mediums, das Variationen in Inhalt und Form erlaubte. Briefe, die vermutlich nicht an die Öffentlichkeit gelangten, nehmen Scholz und Walter jedoch nicht in ihre Sammlung auf, so die zwei Episteln des Scipio Africanus und des Scipio Nasica Corculum über ihre Feldzüge.

Die Auswahl und Abgrenzung autobiographischer Texte erweist sich in der Tat als schwierig. So kann man einwenden, dass natürlich auch andere Gattungen in erheblichem Maß „autobiographisches“ Material mit sich führen: Reden, philosophische Schriften, Briefe oder Dichtung.7 Die Heterogenität von „Selbstzeugnissen“, um einen in der Geschichtswissenschaft oft verwendeten und viel diskutierten Begriff zu benutzen, wurde seit geraumer Zeit von Frühneuzeithistorikern erkannt und methodisch bedacht.8 Die Argumentation, dass die Entstehung von autobiographischen Dokumenten auf Individualisierungstendenzen hinweise, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Texte von Personen über sich selbst werden stattdessen als ‚Soziozeugnis‘ betrachtet, die Auskunft darüber geben, wie sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in sich verändernden Räumen gestaltet. Die Autoren stehen in ihrem Schreibprozess in einem Spannungsfeld, das von Traditionen der Schreibpraxis, gesellschaftlichen Normen, Konventionen zum Schreiben über sich und Gattungsvorgaben beherrscht wird. Gerade in Krisenzeiten und Situationen des Umbruchs entfalten sie darin Strategien, über Brüche hinweg eine Kontinuität des eigenen Lebens zu konstruieren und verschiedenen Erwartungen, die von außen an sie heran treten, zu entsprechen.

In einem sehr auf die Gemeinschaft bedachten Gemeinwesen wie dem römischen, in dem die soziale Hierarchisierung mit der politischen Machtverteilung Hand in Hand ging, gab es ein Bedürfnis, Individualität auszudrücken und dafür verschiedene Medien zu nutzen. Dieses Bedürfnis ist zwar vor allem auf dem Hintergrund der kompetitiven Karrierewege zu deuten, insofern also zutiefst sozial verankert, doch ließ die vielgestaltige römische Literaturwelt Raum bei der Wahl des geeigneten Rahmens für die Selbstdarstellung und der genauen Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung der Inhalte. Die Texte sind als Verhandlungsorte zwischen herrschenden Normen und der Affirmation eigener Ansprüche und Wertvorstellungen zu lesen.

Mit diesem Band schließen Scholz und Walter eine Lücke im Bereich der deutschsprachigen Editionen und schaffen für Forschungen von jenem theoretischen Ausgangspunkt aus eine exzellente Grundlage – wenn auch die beklagenswerte Überlieferungslage immer eine Grenze setzen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Roy Baumeister, Identity. Cultural Change and the Struggle for Self, New York 1986.
2 Hans Beck / Uwe Walter (Hrsg.), Die frühen römischen Historiker (Texte zur Forschung 76 / 77), Bd. 1: Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius; Bd. 2: Von Coelius Antipater bis Pomponius Atticus, 2. Aufl., Darmstadt 2005 / 2004.
3 Hermann Peter (Hrsg.), Historicorum Romanorum Fragmenta, Leipzig 1883 (ed. minor); Martine Chassignet (Hrsg.), L’Annalistique Romaine, Bd. 3: L’annalistique récente. L’autobiographie politique (fragments), Paris 2004.
4 Eine Auswahl: R. G. Lewis, Imperial Autobiography. Augustus to Hadrian, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 34.1, Berlin 1993, S. 629–706; Andrew M. Riggsby, Memoir and Autobiography in Republican Rome, in: John Marincola (Hrsg.), A Companion to Greek and Roman Historiography, Bd. 1, Oxford 2007, S. 266–274; Gabriele Marasco (Hrsg.), Political Autobiographies and Memoirs in Antiquity. A Brill Companion, Leiden 2011.
5 Lewis, Imperial Autobiography, S. 659.
6 Suet. Aug. 85.
7 Eine weiter gefasste Definition verwendet etwa Kurczyk bei ihrer Studie zum autobiographischen Schreiben bei Cicero: Stephanie Kurczyk, Cicero und die Inszenierung der eigenen Vergangenheit, Köln 2006.
8 Vgl. Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser (Hrsg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Wien 2012; Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich (Hrsg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographie und Selbstzeugnisforschung (Querelles 10), Göttingen 2005; Kaspar von Greyerz / Hans Medick / Patrick Veit (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850), Köln 2001.

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