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Titel
Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933-1945


Autor(en)
Harten, Hans-Christian
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
707 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Kuppel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Als „eindeutiges Verdikt historischer Belanglosigkeit“1 kennzeichnete Jürgen Matthäus 2003 die Ignoranz der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Komplex der „Weltanschaulichen Schulung“ von SS und Polizei in der Zeit des Nationalsozialismus. Matthäus verdeutlichte, dass jenes Urteil keinesfalls auf einer Basis breiter Forschungsarbeiten beruhte, sondern auf dem voreiligen Schluss, in der SS habe, wie Hans Buchheim schrieb, „keine strenge ideologische Schulung“2 stattgefunden. Hans-Christian Harten legt mit seinem Werk nun jedoch die erste umfassende Monographie zur Frage der Vermittlung jener Ideenwelt an Hunderttausende von Angehörigen der Allgemein-SS, der Waffen-SS und der Totenkopfverbände in den Konzentrationslagern vor.

Harten hebt in seiner selbst im „Schnittfeld zwischen Geschichts- und Erziehungswissenschaft“ (S. 9) verorteten Studie heraus, dass die „Weltanschauliche Schulung“ neben der militärischen und wehrsportlichen Ausbildung eine der erzieherischen Kernaufgaben war und eine „Klammer“ gebildet habe, die während des Zweiten Weltkrieges „die verschiedenen, auseinanderdriftenden Teile in einer immer unübersichtlicher und heterogener werdenden Gesamt-SS zusammenhielt“ (S.9). Im Zentrum seiner in erster Linie institutionsgeschichtlich und kollektivbiographisch angelegten Studie steht die Analyse der Lebenswege von über dreitausend Schulungsleitern und Mitarbeitern der Schulungsverwaltung, die sich zwischen 1933 und 1945 als „Himmlers Lehrer“ engagierten. Dieser Typus war „kein Psychopath und auch kein fanatischer, aber ein überzeugter Nationalsozialist“ (S. 17). Über die Hälfte der in der Studie untersuchten Personen waren bereits vor der „Machtergreifung“ 1933 in der nationalsozialistischen Bewegung aktiv.

Die Monographie gliedert sich in fünf Kapitel. In der Einleitung und dem ersten Teil beschreibt Harten die organisationsgeschichtliche und personelle Entwicklung des SS-Schulungssystems, das nach 1933 von Agrarexperten im Umfeld Richard Walter Darrés, dem Reichsbauernführer und Gründer des SS-Schulungsamtes, dominiert wurde. Eine Professionalisierung erfuhr es mit dem Ausscheiden jener landwirtschaftlichen Eliten aus dem Schulungsamt, als während des Krieges der „Anteil der Mitarbeiter mit einem Lehramtsexamen, insbesondere der Geisteswissenschaftler und Beamten“ (S. 162), zunahm.

Im zweiten und dritten Kapitel analysiert Harten die Schulung der deutschen, „germanischen“ und „fremdvölkischen“ Angehörigen der Waffen-SS sowie der Totenkopfverbände. In diesem Zusammenhang beleuchtet er die mannigfachen Bildungseinrichtungen der SS und legt damit die erste Studie vor, die einen Überblick über das beinahe unüberschaubare Netz an SS-Junker-, Unterführer- und Berufsschulen sowie an Truppenübungsplätzen, Schulungshäusern und Ausbildungslagern bietet. Die Schulungsmedien untersucht Harten im vierten Kapitel, indem er nicht nur das zentrale Publikationsorgan, das „SS-Leitheft“, sondern in einer ersten umfassenden Analyse auch das weitere Schrifttum der SS und dessen Autorenschaft auswertet. Anhand empirisch-statistischer Analysen zeigt sich die quantitative Präsenz verschiedener weltanschaulicher Inhalte, wobei überraschen mag, dass die Themen „Rassenkunde“ und „Judentum“ in expliziter Form eher marginal auftauchen. Antisemitismus wurde Harten zufolge jedoch „allgemein vorausgesetzt“ (S. 439) und findet sich daher ebenso wie rassenanthropologische und vererbungskundliche Theoreme in subtiler Form auch in den Schulungstexten wieder.

Im letzten Teil des Buches erörtert Harten die zentralen Ergebnisse seiner sozialisationsgeschichtlichen Analyse. Hier kann gerade jener Leser gezielt auf die extrahierten Erkenntnisse über die Akteure des Schulungswesens zurückgreifen, dem eine Lektüre der unzähligen in narrativer Form dargestellten Lebensläufe zu umfangreich erscheinen mag. Interessant ist insbesondere die generationelle Komponente, gehörte doch knapp die Hälfte der Gesamtgruppe der „Kriegsjugendgeneration“ an, also der zwischen 1901 und 1910 Geborenen, welche die Zeit des Ersten Weltkriegs zwar miterlebten, aber aufgrund ihres jungen Alters nicht selbst daran teilnehmen konnten. Außerdem quantifiziert Harten die Berufsgruppen und weist nach, dass zwei Drittel der Personen über akademische Bildung, jeder Vierte sogar über einen Doktortitel verfügte.

Gerade vor dem Hintergrund einer über lange Zeit hinweg sehr quellenarm geführten Forschungsdebatte über die Relevanz der „Weltanschaulichen Schulung“ innerhalb der SS ist die Frage nach der Effizienz, der konsequenten Durchführung und der Professionalität des Schulungsalltages die wichtigste Komponente jenes Themenkomplexes, welcher vor allem die historische Täterforschung bei der Beurteilung von Mentalitäten nicht außer Acht lassen sollte. Denn nur eine Schulung, die nicht nur konzipiert, sondern auch umgesetzt wurde und gewissen pädagogischen Grundlagen folgte, bot überhaupt die Voraussetzung, über den Weg inhaltlich-weltanschaulicher Vermittlung Einfluss auf die SS-Angehörigen auszuüben, wobei die Frage der Rezeption durch Hunderttausende ohnehin schwierig bleibt. Dass sich diese Frage eindimensionaler und voreiliger Antworten entzieht, zeigt Harten, indem er die administrativen Vorgaben mit den in den Quellen vorliegenden Informationen zur tatsächlichen Implementierung vergleicht. Die Intensität und erfolgversprechende Vermittlungsmethodik weltanschaulicher Inhalte hing demnach von der pädagogischen Befähigung und dem inhaltlichen Wissen sowie dem Einsatz und Engagement des jeweiligen Einheitsführers und dem ihm zur Seite gestellten Schulungsleiter ab. Inhalte und Schulungspraxis variierten daher von Einheit zu Einheit. Konnten auf Grund des Kriegsalltages und Einsatzes ohnehin nicht alle Anordnungen des Schulungsamtes an der Front Beachtung finden, so boten Harten zufolge andererseits doch bis 1945 immer wieder Phasen der Ruhe oder Neuaufstellung die Möglichkeit für Schulungsmaßnahmen.

Den engen Zusammenhang zwischen theoretischem Unterricht und Verfolgungspraxis verdeutlicht Harten anhand der in Polen und der Sowjetunion stationierten SS-Totenkopf-Kavallerie unter ihrem Kommandeur Hermann Fegelein. In den Alltag von Judendeportationen und Massenerschießungen waren reguläre Schulungsmaßnahmen mit historischen oder auch antisemitischen Inhalten oder Vorführungen von Filmen wie „Jud Süß“ integriert. Hartens Darstellung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er die Aktivitäten des Schulungspersonals sowie Inhalte und Praktiken vor dem Hintergrund des Massenmordes aufzeigt, ohne jedoch auf monokausale Erklärungsversuche zurückzugreifen, anhand derer Täterhandeln auf den weltanschaulichem Input zurückgeführt wird.

Dass sich „‚moderne‘, reformpädagogisch aufgeklärte Unterrichtsprinzipien durchaus mit nationalsozialistischem Eiferertum vertrugen“ (S. 204) zeigt Harten auch anhand der Tätigkeit professioneller Lehrer in den Einheiten der Waffen-SS, die eine „kreative Unterrichtsgestaltung“ (S. 205) anstrebten. Den preußischen Drill lehnten jene Pädagogen daher ab, sollten die Männer durch mitreißende Vorträge zur innersten nationalsozialistischen Überzeugung gelangen und nicht etwa nur auswendig gelerntes Wissen reproduzieren. Ausspracherunden und Diskussionen sollten bei den SS-Männern den Eindruck erwecken, die Inhalte seien selbst angeeignet und die Ergebnisse eigenständig erarbeitet – dies natürlich in den engen Grenzen des Sagbaren. Daher würde es Harten zufolge in die „Irre führen, wenn man ‚Schulung‘ und ‚Indoktrination‘ gleichsetzte“ (S. 576). Damit erteilt Harten unterkomplexen Vorstellungen von „Gehirnwäsche“ eine Absage, wobei man sich als Leser eine Definition und Erörterung des Begriffs der „Indoktrination“ gewünscht hätte.

In diesem Zusammenhang sollte auch nicht vergessen werden, dass die „Weltanschauliche Schulung“ in Form des Vortragswesens nur einen Teil eines Gesamtkonzepts an Erziehungsmaßnahmen innerhalb der SS darstellte. Ob die auf Emotionen und die Erzeugung von Gruppenidentität abzielenden „Weihestunden“, Sonnenwendfeiern oder sogenannten Kameradschaftsabende und die Truppenbetreuung an der Front durch etwaige KdF-Veranstaltungen für die psychologische Unterstützung und mentale Prägung nicht mindestens ebenso wichtig waren, müssen zukünftige Forschungsarbeiten noch zeigen. Unzweifelhaft wird aber von nun an jeder, der sich mit der Weltanschauung innerhalb der „Schutzstaffel“ oder den politischen Prädispositionen von Tätern befasst, Hartens grundlegendes Werk zur Hand nehmen.

Anmerkungen:
1 Jürgen Matthäus u.a. (Hrsg.), Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt am Main 2003, S. 7.
2 Hans Buchheim, Befehl und Gehorsam, in: ebd. u.a. (Hrsg.), Anatomie des SS-States, 6. Auflage, München 1994 (1. Aufl. 1967), S. 215–320, hier S. 231.

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