U. Brunnbauer u.a. (Hrsg.): The Ambiguous Nation

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Titel
The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20th Century


Herausgeber
Brunnbauer, Ulf; Grandits, Hannes
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 151
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dennis Dierks, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wer sich in der größten Buchhandlung der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica, der „Gradska knjižara“, mit Literatur zur lokalen Kultur eindecken möchte, findet einschlägige Werke in zwei unterschiedlichen Bereichen aufgestellt: einem montenegrinischen und einem serbischen. Während die Bücher im montenegrinischen Teil die Kultur und Geschichte Montenegros als die einer eigenständigen Nation behandeln, reproduzieren die (weitaus zahlreicheren) Bücher in der serbischen Abteilung die großen Erzählungen der serbischen Nationalgeschichte, die Montenegro als selbstverständlichen Teil der „serbischen Länder“ behandeln. Der Gegensatz zwischen dem montenegrinischen und serbischen Nationalismus, der die politischen Akteure des Landes und Teile seiner Bevölkerung polarisiert, findet auch hier seinen Niederschlag. Die Frage der nationalen Selbstverortung ist im gegenwärtigen Montenegro ebenso offen, wie sie kontrovers diskutiert wird. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Buchhandlung einen bemerkenswert pragmatischen Umgang mit dieser Kontroverse im Alltag: Der Stoff, aus dem die nationalen Mythen gesponnen sind, wird zum Handelsgut. Für die Betreiber der Buchhandlung sind ganz offenkundig Verkaufszahlen wichtiger als der Inhalt der veräußerten Bücher; angeboten wird, was nachgefragt wird, ideologische Orientierung wird allenfalls zum Kriterium thematischer Sortierung.

In einem Land, in dem die Ebene der Hochkultur strikt in national-montenegrinische und serbische Institutionen aufgeteilt ist, mag solch ein alltagskultureller Pragmatismus für die nationsbildenden intellektuellen Eliten schwer erträglich sein. Nun ist aber gerade ein derartiges Spannungsverhältnis zwischen „den Erwartungen dominanter Gruppen“ einerseits und „sozialen Praktiken“ andererseits für Nationsbildungsprozesse typisch, wie die Herausgeber des Sammelbandes „The Ambiguous Nation“, Ulf Brunnbauer und Hannes Grandits, betonen. Ein adäquates Verständnis von Nationsbildung sei deshalb nur möglich, wenn Prozesse „from ‚above‘ and from ‚below‘“ (S. 22) in ihrer Verschränkung untersucht würden. Der Sammelband, der aus einem von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt hervorgegangen ist, testet einen solchen Zugang anhand von Fallstudien zu Nationsbildungsprozessen in Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Moldova und Montenegro aus.

Die Herausgeber verfolgen dabei zwei zentrale Ziele: Zum einen streben sie eine Entexotisierung der Wahrnehmung an, denn die Analyse von Nationalismus und der gewalttätigen Eskalation von ethnonational deutbaren Konflikten geht nicht selten mit der expliziten oder impliziten Unterstellung einer Rückständigkeit Südosteuropas einher. Brunnbauer und Grandits argumentieren, dass dortige Nationsbildungsprozesse den Versuch darstellten, ein Modell politischer und sozialer Verfasstheit zu reproduzieren, das von den lokalen Eliten in Südosteuropa als der europäische Normalfall betrachtet werde. So dürfe etwa der monumentale Kitsch eines Städtebauprogramms wie „Skopje 2014“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier angestrebt wird, eine nationale Kapitale nach europäischem Vorbild (oder was man eben dafür hält) zu errichten. In diese Richtung weisen auch die Fallstudien von Rozita Dimova und Lidija Vujačić zur Festival- und Festtagskultur im heutigen Mazedonien und Montenegro, die überzeugend darlegen, wie der Versuch unternommen wird, sich national in zentrale europäische Narrative wie „Antike“, „Christentum“ oder auch „mediterrane Kultur“ einzuschreiben.

Zum anderen, und damit ist das zweite zentrale Erkenntnisinteresse des Sammelbandes angesprochen, ermögliche die Tatsache, dass die hier untersuchten Nationsbildungsprozesse vergleichsweise spät einsetzten und bis in die Gegenwart umstritten bleiben, der Nationalismusforschung ganz allgemein neue Einsichten: Stärker als für frühere Epochen, für die entsprechende Quellen oft fehlten, könne, so Brunnbauer und Grandits, eine Beobachtung dieser sich gegenwärtig vollziehenden Nationsbildungsprozesse „in Echtzeit“ zeigen, wie die Bevölkerung mit an sie gerichteten Identitätsangeboten umgeht. Hier könnten Ambiguitäten sichtbar gemacht und „kritische, abweichende und subversive Stimmen“ (S. 12) zu Gehör gebracht werden.

Ambiguität schlagen die beiden Herausgeber dann auch als zentrale Analysekategorie für Nationsbildungsprozesse vor. Ein so fokussierter Forschungsansatz könne losgelöst von teleologischen Perspektiven alternative Entwicklungspfade aufzeigen und ganz allgemein die Offenheit von Nationsbildungsprozessen verdeutlichen. Legt ein solches Forschungsdesign zunächst einmal einen stärker sozial- bzw. kulturanthropologisch orientierten Zugang nahe, so plädieren Brunnbauer und Grandits zugleich für eine konsequente Historisierung. Anders als auf die Gegenwart konzentrierte sozialwissenschaftliche Ansätze könnten die spezifisch geschichtswissenschaftlichen Instrumentarien des diachronen und synchronen Vergleichs Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen sozialistischer und postsozialistischer Zeit aufzeigen. Nur eine derartige zeitliche Perspektivierung könne schlüssig erklären, warum sich die Nation im östlichen Europa in den 1990er-Jahren derart folgenschwer „ereignete“ und andere „gruppistische Diskurse“ (Brubaker) zumindest zeitweise erfolgreich marginalisierte. Dies, so Brunnbauer und Grandits, liege in der kommunistischen Nationsbildungspolitik begründet, die im Fall der in den Mittelpunkt des Sammelbandes gerückten bosnischen Muslim/innen, Mazedonier/innen, Moldauer/innen und Montenegriner/innen überhaupt erst zur Anerkennung als Nation geführt habe. Dieses durch die politischen Eliten induzierte nation-building sei schließlich der Grund dafür, dass die Nation zu einem intimen Bestandteil des Alltags geworden sei, womit die beiden Herausgeber eine zentrale Begrifflichkeit aus Michael Herzfelds Studie „Cultural Intimacy“ aufgreifen.

Diejenigen Fallstudien, die konsequent den von Brunnbauer und Grandits entwickelten Forschungsansatz zur Anwendung bringen – das sind durchaus nicht alle –, illustrieren dann eindrücklich, dass die von den Herausgebern vorgeschlagene Analysekategorie der der Ambiguität tatsächlich neue Einsichten in Nationsbildungsprozesse bringt. Das gilt zum Beispiel für die Untersuchung Vladimir Dulovićs zu Kontroversen um die Neuerrichtung des Mausoleums für Fürst-Bischof und Dichter(fürst) Petar Petrović Njegoš (1813–1851), eine sowohl für serbische, als auch montenegrinische und jugoslawische Identitätsdiskurse zentrale Figur. War die Aneignung dieses Erinnerungsortes in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst von einem mehr oder minder konfliktfreien Nebeneinander der wenig scharf umrissenen Konzepten „serbisch“ und „montenegrisch“ gezeichnet, so führten die ab 1952 verfolgten Neubaupläne zu heftigen Kontroversen innerhalb Montenegros und darüber hinaus. Als Grund für den Neubau wurde angeführt, dass das damals bestehende Mausoleum aus der Zwischenkriegszeit, das ein im Ersten Weltkrieg beschädigtes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert ersetzte, ein Symbol für den großserbischen Nationalismus jener Epoche und für die widerrechtliche Beseitigung der montenegrinischen Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg sei. Dulović sieht die Neubauinitiative dann auch als Indikator dafür, dass das unbestimmte Nebeneinander von serbischen und montenegrinischen Identitätsbezügen von Teilen der politischen Elite nicht mehr erwünscht gewesen sei. Gebraucht wurde nun ein eindeutig lesbares Symbol für die distinkte montenegrinische Nationalgeschichte. Von der Kontroverse sei dann tatsächlich eine soziale Mobilisierung ausgegangen, die zur Ausformung eines sich von Serbien abgrenzenden national-montenegrinischen Identitätsdiskurses beigetragen habe. Gleichzeitig sei eine dieses Konzept ablehnende und seine Legitimität hinterfragende Gruppe der montegrinischen Serben entstanden.

Dass der Versuch, ambige Verhältnisse durch Eindeutigkeit zu ersetzen, zur konfliktiven Dynamisierung von Differenz führt, bestätigen auch die Studien von Husnija Kamberović, Admir Mulaosmanović, Dženita Sarač Rujanac und Iva Lučić zum bosnisch-muslimischen nation-building. Lučić bietet dabei eine alternative Deutung zur vor allem in der westlichen Historiographie vorherrschenden Ansicht, bei der schrittweisen Aufwertung der bosnischen Muslime als Nation habe es sich letztlich um die Anerkennung der sozialen Realität eines ethnonational fundierten Sonderbewusstseins gehandelt. Vielmehr legen die Ausführungen Lučićs nahe, dass es sich auch hier letztlich um einen Top-Down-Prozess handelte. Durchgesetzt werden musste das neue Konzept ausgerechnet gegen die nationale Selbstbezeichnung „Jugoslawe“, die sich in der muslimischen Bevölkerung zum Schrecken der ethnischen Ingenieure in der Republikführung nach wie vor großer Beliebtheit erfreute, wie eine im Vorfeld der Volkszählung 1971 durchgeführte Testbefragung zeigte.

Die rhetorische Bekämpfung eines national verstandenen „Jugoslawentums“ und den gleichzeitigen Versuch sich von den Zentren Belgrad und Zagreb zu emanzipieren, zeichnet auch der Beitrag Husnija Kamberovićs für die politischen Eliten Bosnien-Herzegowinas in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren nach. Wie Mulaosmanović und Sarač Rujanac zeigt er zudem auf, auf welche zum Teil scharfe Ablehnung die Aufwertung der bosnischen Muslime zur Nation außerhalb und teilweise auch innerhalb Bosnien-Herzegowinas stieß. Während anderswo die Artikulation einer als national interpretierten und repräsentierten Kultur als legitim anerkannt wurde, führte dies im Falle Bosnien-Herzegowinas im Allgemeinen und der bosnischen Muslime im Besonderen regelmäßig zur Skandalisierung. Rujanac zeichnet dabei in ihrem Beitrag nach, wie insbesondere Medien in Serbien das geläufige Bild Bosniens als „dark province“ (tamni vilajet) aufgriffen und die dortige Parteiführung – ungeachtet der nationalen Zugehörigkeit ihrer Mitglieder – der Unterstützung eines militanten Panislamismus bezichtigten. Den Schauprozess gegen regimedistanzierte muslimische Intellektuelle wie den späteren bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović 1983 deutet sie als Reaktion auf eine derartige Berichterstattung; sie sieht hierin den Versuch der politischen Führung in Sarajevo, ihre Handlungsfähigkeit im Kampf gegen die vermeintliche Gefahr eines umstürzlerischen islamischen „Klerikalnationalimus“ unter Beweis zu stellen.

Wie auch Mulaosmanovićs Studie liest sich dieser Beitrag nicht zuletzt als eine Vorgeschichte des Krieges der 1990er-Jahre. Darin liegt durchaus eine Stärke: Ohne dies explizit so zu benennen, liefert Rujanacs Untersuchung Hinweise darauf, wie sich im spätsozialistischen Jugoslawien ein antimuslimischer Diskurs formierte, der Versatzstücke des Titoismus mit solchen älterer orientalistischer Diskurse und der paranoiden Furcht vor einer islamischen Revolution nach iranischem Vorbild vermengte. Mulaosmanović gelingt es seinerseits nachzuzeichnen, wie durch opake Verflechtungen zwischen einem Großkombinat in der westbosnischen Provinz, dem jugoslawischen Militär und politischen Kreisen in Belgrad Loyalitätsbeziehungen entstanden, die sich gegen das politische Zentrum Sarajevo mobilisieren ließen. Zugleich weist seine Erzählung von einer gezielten großserbischen Demontage der bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit eine Teleologie auf, die sich nur schwer mit der von Brunnbauer und Grandits postulierten Darlegung von Offenheit historischer Entwicklungen vereinbaren lässt. So eröffnete der Austausch der gesamten politischen Führung Bosnien-Herzegowinas im Zuge des von Mulosmanović untersuchten Skandals um das Kombinat „Agrokomerc“ Ende der 1980er-Jahre eben auch neue politische und kreative Freiräume, die die Diskussion von Gesellschaftsentwürfen ermöglichten, die sich von den aggressiven Denklogiken des Nationalismus ebenso scharf wie engagiert abgrenzten und dabei keineswegs gesellschaftliche Randerscheinungen waren.1

Hier wie an anderer Stelle zeigt sich, dass die Untersuchung von Nationsbildungsprozessen in „Echtzeit“ neben unstrittigen Erkenntnispotentialen auch Schwierigkeiten mit sich bringt, die sich bei einer biographischen Involviertheit in die hier untersuchten Prozesse noch steigert. Wie gewinnbringend hingegen eine Reflexion des eigenen Standortes sein kann, zeigt Čarna Brković in der vielleicht originellsten Studie dieses Sammelbandes. Sie wählt die Diskussion der Weltlage beim obligatorischen Morgenkaffee und den sich dabei entwickelnden Streit zwischen ihrer Tante und einer Freundin als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Frage, welche Rolle Nichtregierungsorganisationen und ihre Wahrnehmung bei der Aushandlung nationaler Identitäten im gegenwärtigen Montenegro spielen. Es ist das Verdienst dieses Sammelbandes, derartige Studien vereint zu haben, die für die Nationalismusforschung weit über Südosteuropa hinaus wegweisend sind.

Anmerkung:
1 Vgl. Neven Andjelic, Bosnia-Herzegovina. The End of a Legacy. London 2003. Mulaosmanović widerspricht diesem Deutungsansatz an anderer Stelle explizit, vgl. Admir Mulaosmanović, Bihaćka Krajina 1971–1991. Utjecaj politike i političkih elita na privredni razvoj. Sarajevo 2010, S. 101–102.

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