V. Leppin: Antichrist und Jüngster Tag

Titel
Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548 -1618


Autor(en)
Leppin, Volker
Reihe
Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69
Erschienen
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Pohlig, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Am Ende des utopischen Zeitalters, dessen Geschichtsphilosophien nach einer These Karl Löwiths auf einer Säkularisierung geschichtstheologischer Konzeptionen beruhten, kehren die Ängste des vorutopischen Zeitalters noch einmal auf die Bühne zurück; das Spektakel apokalyptischer Furcht kann aber dieses zweite Mal nur als innerweltliche Farce namens "Y2K" erscheinen, die der existenziellen Bedrohung weitgehend entkleidet ist. Daß die Welt als ganze innerhalb der nächsten Generation aufhören wird zu existieren, und zwar nicht durch Atombomben oder Polschmelze, sondern durch das Eingreifen Gottes, ist eine Vorstellung, die wir bestenfalls noch bei terroristischen Sektierern vermuten.

Volker Leppins kirchengeschichtliche Habilitationsschrift lenkt den Blick nun auf die lutherischen Endzeiterwartungen des konfessionellen Zeitalters und illustriert ein weiteres Mal die Problematik einer allzu simplen Verknüpfung von Reformation, Modernität und Neuzeit. Die Annahme der strukturellen und zeitlichen Parallelität der gesellschaftlichen und politischen Homogenisierungsbemühungen der drei Großkonfessionen Luthertum, Calvinismus und Katholizismus und die damit verbundene Annahme sowohl beabsichtigter wie unbeabsichtigter Modernisierungstendenzen, wie sie in der Konfessionalisierungsdebatte diskutiert werden, wird von Leppin nicht in Frage gestellt. Sehr wohl geht es ihm aber darum, wie von theologischen Kirchenhistorikern wie Thomas Kaufmann und Harry Oelke wiederholt angemahnt, bei der Untersuchung der strukturellen Ähnlichkeit der sozialen, politischen und kulturellen Konfessionalisierungsbestrebungen die konfessionellen Propria nicht aus den Augen zu verlieren.

Solch ein lutherisches Proprium stellt die apokalyptische Naherwartung dar. In keiner anderen Konfession und zu keiner anderen Zeit scheint die Überzeugung des nahenden Weltendes so intensiv und weitverbreitet gewesen zu sein wie gerade im Luthertum des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den insgesamt viel besser erforschten endzeitlichen Bewegungen im Täufertum und in der englischen Revolution zeichnet sich die lutherische Apokalyptik aber durch ihre Ablehnung des Chiliasmus, also die Vorstellung einer innerweltlichen tausendjährigen Herrschaft Christi vor dem absoluten Weltende, zu deren Heraufführung menschliches Handeln mehr oder weniger beitragen kann, aus. Damit ist eine Reduktion des Phänomens auf die Ideologie einer sozialrevolutionären Minderheit (die das deutsche Luthertum bekanntlich nicht war) von vornherein ausgeschlossen. Wie erklärt sich aber die lutherische Apokalyptik? Ist sie ein Symptom allgemeiner Unsicherheit der Lebensverhältnisse Alteuropas und konstitutives Element eines "Zeitalters der Angst" (Jean Delumeau), wie die pittoresken Verallgemeinerungen der französischen Mentalitätsgeschichte nahelegen? Diese Deutung vernachlässigt die konfessionelle Besonderheit und Intensität gerade lutherischer Apokalyptik genauso wie die jüngere Deutung Hartmut Lehmanns, die in der lutherischen Endzeiterwartung eine Strategie der kollektivpsychischen Bewältigung sozialhistorisch exakt lokalisierbarer Krisenphänome des späten 16. Jahrhunderts ("Kleine Eiszeit", wirtschaftliche Depression etc.) sieht 1. Die besondere Intensität lutherischer Endzeiterwartung wird zwar auch in der bisher einzigen umfassenderen Arbeit zum Thema, der großen Untersuchung von Robin Bruce Barnes 2, konstatiert; aber Barnes kann, wie Leppin zu Recht kritisiert, über die Tradierung von Luthers eigener apokalyptischer Weltsicht hinaus kaum Gründe für die Blüte der Endzeiterwartungen gerade im Luthertum angeben. Die Auseinandersetzung mit Lehmanns und Barnes' Positionen erfolgt bei Leppin leider vor allem en passant und erst gegen Ende des Buches etwas ausführlicher. Dabei wäre gerade Barnes vorzuwerfen gewesen, daß er anhand eines sehr disparaten Quellenbestandes sehr weitreichende Aussagen über eine gemeinlutherische "apokalyptische Mentalität" macht, ohne Gegenstimmen angemessen zu berücksichtigen sowie innerlutherische Diffenzierungen vorzunehmen.

Demgegenüber beschränkt sich Leppin bei seiner Untersuchung auf die explizit apokalyptische Flugschriftenpublizistik, also Texte, die "die begründete und eindeutig formulierte Erwartung des Endes der ganzen Welt als eines bald hereinbrechenden Ereignisses in Raum und Zeit" (16) formulieren. In den Münchener und Wolfenbütteler Beständen hat Leppin aus dem Zeitraum zwischen 1548 und 1618 ca. 120 Flugschriften gefunden, die sich (nur oder in der Hauptsache) mit dem Jüngsten Tag beschäftigen. Daß Leppin seine Untersuchung mit dem Kriegsbeginn 1618 enden läßt, ist deshalb schade, weil er damit einer Diskussion der Gründe für das Ende der lutherischen Apokalyptik im 17. Jahrhundert aus dem Weg geht.

Neben Texte, die ohne äußeren Anlaß den Jüngsten Tag behandeln, gehören zum Quellencorpus vor allem astrologische Flugschriften, die Kometen oder Wunderzeichen deuten, sowie meteorologische Praktiken, also Wetter-, aber auch astrologische Vorhersagen. Die unterschiedlichen Gattungen und Themen haben gemeinsam, daß sie aktuelles "Orientierungswissen" (29) anbieten, das in einem Modell mehrstufiger Kommunikation von einem lesefähigen Elitenpublikum in mehr oder minder adäquater Weise rezipiert und durch mündliche Weitergabe multipliziert wurde. In diesem Kommunikationsmodell zeigt sich Leppins vorbildliche methodische Vorsicht genauso wie in seiner Kritik am "Agitprop-Vokabular" (35) der älteren Flugschriftenforschung und seiner Skepsis gegenüber dem Begriff der Mentalitätsgeschichte für seine Untersuchung, die er lieber der Erforschung der publizistischen "Kommunikatoren" (44) im Sinne von "Meinungsmachern" zurechnen möchte - ein unschöner Begriff, aber gerade im Bereich der Geschichte von "Bewußtseinsakten als Kollektivphänomen" (44) scheint eine Terminologie mit klar definierter Reichweite sehr von Vorteil.

Leppins Untersuchung wendet sich vor allem der Frage zu, welche Argumente für die kaum je im Detail ausgemalte Erwartung des Weltendes gefunden wurden. Diese Argumente gliedern sich im wesentlichen in zwei Gruppen: Solche, die aus vorgängigen geschichtstheologischen oder prophetischen Schemata auf das Altern der Welt und ihr baldiges Ende schließen, und solche, die wegen unterschiedlicher Zeichen der Gegenwart eine besondere apokalyptische Qualität zusprechen. Zur ersten Gruppe gehören zum Beispiel die Theorie der vier Weltreiche sowie die dem Propheten Elia zugeschriebene Verheißung von den 6000 Jahren, die die Erde alt werden solle, die aber um der Gläubigen willen verkürzt werden könnten. Prominenter ist in der Flugschriftenpublizistik aber der Rekurs auf Zeichen für das Ende wie Astralphänomene, irdische Katastrophen, soziale Probleme sowie die Offenbarung des Papstes als Antichrist. Diese Zeichen waren aber, so Leppin, nicht beliebig zu interpretieren, insofern auch nicht Symptom einer diffusen Krisenangst, sondern nur durch in der Bibel vorgefundene Deutungsschemata überhaupt als "Verweissystem auf das Ende hin" (82) lesbar. Der biblische Referenztext in den Flugschriften war dabei nicht, wie man erwarten könnte (und wie es im Kontext z.B. des eschatologischen Denkens im englischen 17. Jahrhundert auch zutrifft), die Offenbarung des Johannes, sondern die sogenannte "synoptische Apokalypse", also Jesu Rede über die Endzeit (z.B. Lk 21), die gegenüber der Offenbarung den Vorteil relativer Eindeutigkeit besaß.

Die beiden Argumentgruppen - geschichtstheologische Schemata und Zeichenidentifikation - kann Leppin cum grano salis zwei Gruppen innerhalb des deutschen Luthertums zuordnen: der "humanistisch-philosophischen" und der "radikal-bibliozentrischen" Gruppe. Diese Typologie ist weitgehend identisch mit der Einteilung der um Luthers Erbe streitenden Theologenlager der zweiten Jahrhunderthälfte, die man - verkürzt - als "Philippisten" in der Nachfolge Melanchthons und "Gnesiolutheraner" um Amsdorff und Flacius bezeichnet, beschreibt aber eher allgemeine Weltdeutungstendenzen als exakte theologische Ausrichtungen. Die humanistisch-philosophischen Milieus begründeten das nahe Weltende mit der Erfüllung tradierter Schemata historischer Weltauslegung und sahen Luthers Reformation kaum als Beginn einer qualitativ neuen, weil definitiv letzten Zeit. Sie besaßen hohe Affinitäten zur Astronomie als "theologia naturalis" und versuchten, die Zeichen der Sterne stärker in vorgängige Deutungsmuster zu integrieren. Dagegen kritisierten die radikalbiblio-zentrischen Autoren die astronomisch-astrologische Konkurrenz um "Weltdeutungskompetenz" (181); sie richteten ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Zeichenhaftigkeit der Gestirne für eine als deterministisch kritisierte Prophezeiung des Weltlaufs überhaupt (wie dies Gen 1,14 vorgibt), sondern auf Zeichen des apokalyptischen Umbruchs "an" den Gestirnen (Lk 21,25), also auf Wunderzeichen und Kometen. Die Reformation erscheint in radikal-bibliozentrischer Sicht als weltgeschichtlicher Umbruch größten Ausmaßes. Stärker als die eher humanistisch-philosophisch argumentierenden Autoren betonen die radikal-bibliozentrischen Autoren die Wichtigkeit der Wiederherstellung der reinen Lehre als Beginn der Endzeit. Damit tritt die Identifikation des Papstes als Antichrist in den Mittelpunkt (zumindest gnesio-)lutherischen Selbstverständnisses.

Luthers Auffassung der Institution des Papsttums als antichristlich, und zwar in beiden durch die mittelalterliche Tradition bereitgestellten Bedeutungen, nämlich als "Widerchrist", der im Laufe der Geschichte spiegelbildlicher Widersacher Christi ist, und als apokalyptischer Kontrahent und "Endchrist", unterscheidet sich von anderen, ähnlichen Positionen in zwei wesentlichen Punkten: Erstens richtet sie sich an bestimmten theologischen Kriterien aus und ist mithin weder bei Luther noch bei seinen Nachfolgern in erster Linie polemisch gemeint 3; zweitens stellt Luther nicht die Existenz des Antichristen, sondern seine Offenbarung in den Vordergrund. Damit gewinnt er eine spezifische reformatorische Zeitbestimmung, die nach Leppin zum Angelpunkt lutherischer Identität wird: "Und hie sehen wir, das nach dieser zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der Welt ende und aufferstehung der Todten." 4 Die Gegenwart erscheint damit als "Intermezzo zwischen der Offenbarung des Antichrist und dem Ende der Welt" (235).

Damit identifiziert Leppin, ohne andere Argumentationsstränge zu leugnen, die historische Selbstverankerung als konfessionsspezifisches Element lutherischer Apokalyptik. Diese florierte gerade deshalb im Luthertum, weil die Verteidigung der restituierten reinen Lehre gegen den apokalyptischen Endchrist als zentrales Element lutherischer Identität gelten kann. So erklärt es sich denn auch, daß gerade die konfessionalisierenden Eliten des deutschen Luthertums (zwei Drittel der Flugschriftenautoren sind Theologen, davon die Hälfte Professoren oder Superintendenten) apokalyptische Naherwartungen hegten: "Die Apokalpytik stand so für ihre Vertreter nicht im Widerspruch zum Konfessionalisierungsprozeß, sondern wurde geradezu zu dessen Movens." (284) Im deutschen Luthertum, so eine weitreichende und zu diskutierende These Leppins, konnte das apokalyptische Denken ein legitimatorisches Vakuum der Kirchenzucht ausfüllen und so geradezu zur theologischen Grundlage lutherischer Sozialdisziplinierung werden- ohne daß es auf diese gesellschaftliche Funktion zu reduzieren wäre.

Gegen allzu weitreichende Folgerungen aus dem Befund der Zentralposition des apokalyptischen Denkens für die lutherische Identität liefert Leppin aber sogleich auch Gegenargumente und Binnendifferenzierungen: Die geschilderte historische Selbstwahrnehmung und die Antichristprädikation waren vor allem in radikal-bibliozentrischen Milieus verankert; es gab je länger je mehr auch Stimmen, die sich aus verschiedenen Gründen gegen eine Naherwartung des Endes aussprachen; in einigen Texten tritt eine enteschatologisierte Variante der Antichristprädikation auf, die diesen zu einem "auf Dauer angelegten innerweltlichen Faktor" (229) machte; schließlich ist das Verhältnis zwischen Apokalyptik und "Straftheologie" zu bedenken: Gerade krisenhafte Zeiterscheinungen wie die "apokalyptische Trias" Pest, Teuerung und Krieg konnten als Strafen und Bußaufrufe interpretiert werden und so - gesetzt den Fall, daß sich das menschliche Verhalten zum Positiven verändert - die Drohung des Weltendes relativieren: "Es entsteht also in der apokalyptischen Botschaft eine an offenen Selbstwiderspruch grenzende (...) Spannung zwischen der Endzeitverkündigung und ihrer relativierenden Konditionalisierung." (168)

Es ergibt sich am Ende dieser perspektivenreichen Untersuchung der Schluß, daß zwar einerseits von "einer durchaus gewichtigen apokalyptischen Mentalität im Luthertum, die von den Flugschriften einerseits vorgefunden, andererseits hervorgerufen oder verstärkt wurde" (276) ausgegangen werden kann, daß dieser Befund aber innerhalb des untersuchten Quellencorpus, vor allem aber mit Blick auf andere zu untersuchende Quellengattungen, in denen das apokalyptische Element sich in hohem Maße implizit findet und damit umso deutungsbedürftiger ist (Gebete, Gesangbücher, Leichenpredigten etc.), zu differenzieren und zu ergänzen wäre. Dies wäre schon deshalb wünschenswert, weil erst auf einer solchen Grundlage die Frage der Verbreitung apokalyptischer Denkmuster über eine theologisch geschulte Elite hinaus, aber auch die Frage nach einer gesellschaftsimmanent instrumentalisierten Rhetorik des Apokalyptischen wirklich diskutiert werden könnte. Für die von Leppin untersuchten Flugschriften gilt, daß die apokalyptische Weltsicht "von astrologischen Weltauslegungen in den Schatten gestellt wurde" (276); ob dies für andere Quellen ebenso zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Man wünscht dieser sehr quellennah gearbeiteten, mit Generalisierungen sparsamen Untersuchung schon deshalb eine breite Rezeption, weil sie deutlich macht, wie begrenzt unser Wissen über die lutherische Konfessionskultur des späteren 16. Jahrhunderts insgesamt bisher ist. Dieses Wissen hat Leppin an einem nicht unwesentlichen Punkt erweitert.

Anmerkungen:
1 Vgl. v.a. Hartmut Lehmann: Endzeiterwartung im Luthertum im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, hg. v. Hans-Christoph Rublack, Gütersloh 1992, S. 545-554.
2 Vgl. Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988.
3 Die Gegenposition vertritt z.B. Hans J. Hillerbrand: Von Polemik zur Verflachung. Zur Problematik des Antichrist-Mythos in Reformation und Gegenreformation, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 114-125.
4 WA DB 11/II, 113.

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