R. Guldin: Politische Landschaften

Cover
Titel
Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität


Autor(en)
Guldin, Rainer
Reihe
Edition Kulturwissenschaft 48
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Seifert, Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

Der an der Università della Svizzera Italiana in Lugano lehrende Sprach- und Literaturwissenschaftler Rainer Guldin hat bereits mehrere Publikationen mit Bezug zur Landschaftsforschung vorgelegt und ist als Mitglied des 2004 in Hannover gegründeten interdisziplinären Arbeitskreises Landschaftstheorie ein ausgewiesener Vertreter der aktuellen Landschaftsforschung aus dem Bereich der Geisteswissenschaften. Mit dem hier zu besprechenden Band „Politische Landschaften“ behandelt Guldin einen kulturbedingt geformten Vorstellungs- und Handlungsraum von spezifischer Qualität.

Bevor auf diese spezifische Qualität einzugehen ist, soll der Blick zunächst auf das Landschaftsverständnis generell gerichtet sein. Als physisch-topografische Szenerie konstituiert sich ein Landschaftsbegriff bereits in der klassischen Antike, der – mit Zwischenschritten1 – seit der Frühen Neuzeit von einem ästhetischen Verständnis überwölbt wird. Im bürgerlichen Zeitalter stehen eine naturkundliche Sichtweise und eine ästhetisierend-empfindsame Anschauung der Natur nebeneinander. In der wissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts vollzieht sich dann schrittweise der Abschied von einem einseitig auf physisch-topografische Container-Räume gerichteten Konzept zu einem Verständnis von Landschaft, das in entscheidendem Maße auch Produkt mentaler Konstruktion ist. Aktuell wird Landschaft gemäß einer interdisziplinär orientierten Forschungsperspektive in einem erweiterten Sinne als ein grundlegend artifiziell hervorgebrachtes bzw. überformtes Gefüge aus materiellen und immateriellen Komponenten verstanden, dessen Konstruktionsprozess und Entwicklungsdynamik grundsätzlich arbiträr erfolgen.2

Von einem derartigen Verständnis ausgehend, charakterisiert Guldin angelehnt an das von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson entwickelte Konzept der imagined communities3 sein Untersuchungsfeld der politischen Landschaft als „imaginierte Landschaften“ (S. 12), bei denen Ästhetik und Politik vermittels selektiver Homogenisierung der territorialen wie politischen Sachverhalte miteinander verbunden werden. Diese Verbindung trägt Guldin zufolge spezifische Kennzeichen: Sie folgt dem Prinzip der Differenz (jede politische Einheit entwirft das „Bild“ ihrer Landschaft als distinkt zu anderen politischen Einheiten) und transportiert damit einen aggressiven Gestus; sie imaginiert Tradition und Geschichte und besitzt in ihren nationalen Ausformungen vielfach deutliche historische Tiefe; sie kaschiert vermittels der Ästhetisierung des Landschaftlichen gerne bestimmte Aspekte bzw. Merkmale der zugrunde gelegten politischen Einheit – und sie folgt dabei im Falle der nationalen Landschaftskonstrukte einer Tendenz zur Wiederverzauberung, die dem historisch neuen Konzept des Nationalstaates nach Zeiten der Rationalisierung der Lebenswelten und der Lebensräume enorme Poesie einzuhauchen imstande ist.

Ein zentrales Konzept, um die Imaginationskraft und das gesellschaftliche Wirkungspotenzial des Typus der politischen Landschaft zu erschließen, erkennt Guldin im Prinzip der metaphorischen Übertragung. Dieses ist für ihn Ausdruck des kulturellen Konstruktionsprozesses des politischen Landschaftstypus in dessen Dynamik und Arbitrarität. Theoretisch von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass Guldin diese Metaphorik nicht nur innerhalb diskursiv-medialer Felder verfolgt und betrachtet, sondern darüber hinaus dezidiert mit der Landschaft in ihrer Eigenart als „materielle Typologie“ (S. 17) und „alltägliche Sichtbarkeit“ (S. 12) in Beziehung setzt. Denn nur so erschließt sich für ihn die volle Tragweite der politischen Imagination und damit das hohe Potenzial des politischen Landschaftstypus, „subjektive und kollektive Identitäten hervorzubringen“ (S. 17).

Das solchermaßen theoretisch-konzeptionell organisierte Untersuchungsfeld verhandelt Guldin im Darstellungsgang seines Werkes in zehn Kapiteln entlang einer stofflichen Gliederung vom Festen zum Flüssigen sowie hinsichtlich des Grades der kulturell unterstellten Homogenität der physisch-materiellen Sachverhalte von unterschiedlich vielgestaltigen Landschaftseinheiten. Die Ebene der Materialität erhält somit im Rahmen der Analyse eine eigene Relevanz im Zusammenspiel mit den gesellschaftlich-kulturellen Komponenten. Indem Guldin dem Typus der politischen Landschaften bis hin zu ihrer Dimension als sinnlich erfahrbare Räume nachspürt, gelingt es ihm am Beispiel nationaler Landschaftskonstrukte überzeugend, seine besondere Qualität und potenziell vorliegende gesellschaftlich-kulturelle Überzeugungsmacht herauszuarbeiten.

Die stoffliche Gliederung vom Festen zum Flüssigen beginnt bei den Felsenkämmen und dem Landschaftsprofil der Alpen, um anschließend den Wald und seinen Widerpart, die Wüste, zu beleuchten. Es folgen die Flüsse und schließlich – in seiner Demaskierung der kulturell gesetzten Landschaftsblöcke nationalen Zuschnitts gewissermaßen kontradiktorisch – die schwebende Sphäre der Luft, die den Landschaften des Exils und der Migration zu metaphorischer Dimensionierung verhilft. Der zweite Gliederungsmodus der Stabilitäts- und Homogenitätsgrade führt in der Darstellung von monolithischen Konzepten nationaler Landschaftsentwürfe über gegliederte Konzepte und Patchwork-Entwürfe bis zur Konstruktion dualer Gegensätze.

Guldins Darstellung verfolgt eine internationale bzw. interkulturelle Untersuchung des Themas, wobei der Fokus auf dem mitteleuropäischen Raum und dabei besonders Deutschland, der Schweiz und Österreich liegt. Wie er auf der Basis seiner reichhaltigen, auch entlegenen Quellen aufzeigen kann, besitzt der räumliche Diskurs politischer Landschaften in vielen Fällen eine große historische Tiefe von mehreren Jahrhunderten. Politische Landschaften erscheinen deshalb prima vista als stabile Größen, denen auch aufgrund ihrer Qualität eines sinnlich erfahrbaren Raumes, in den Einzelne bzw. Kollektive förmlich eintauchen können, enormes Überzeugungspotenzial zukommt. Ein eigenes Kapitel (S. 243–275) spürt hoch instruktiv der Entstehung der nationalen Landschaftsmetapher im Kontext herrschaftlicher Repräsentation als Landschaftskörper sowie seiner Entwicklung in demokratischen Kontexten nach. Das Zeitalter der nationalen Landschaften in klassischer Lesart geht mit der Moderne und der Globalisierung freilich zu Ende. Die historisch gewachsene Metaphorik bleibt jedoch greifbar und damit neuen Anwendungen offen – auch den modernen künstlerisch-kritischen Auseinandersetzungen, die Guldin im Rahmen seiner jeweils entwicklungsgeschichtlich angelegten Kapitel immer wieder berücksichtigt.

Der Aufbau von Guldins Gliederungsprinzip präsentiert einerseits den Gestaltreichtum politischer Landschaften und verdeutlicht so, dass der Typus der politischen Landschaft offenbar auf der Grundlage jedweder gegebenen materiellen Situation seine auf identitäre Wirkungen fokussierte kulturelle Codierung entfalten kann. Hinsichtlich des Gestaltreichtums wäre nicht nur im Sinne eines Überblicks freilich zu überlegen gewesen, ob nicht militärische Landschaften (zum Beispiel Schlachtfelder, der Westwall) und religiöse Landschaften (zum Beispiel die kirchlich-konfessionelle „Geopolitik“ des Wallfahrtswesens) als nun nicht primär auf materiellem Substrat, sondern auf sozioökonomisch-institutionellen Entscheidungen und Prozeduren basierende Spielarten eigener Aufmerksamkeit würdig gewesen wären. Andererseits und vor allem jedoch zeigt Guldins Tour d'Horizon die Vielfalt der Argumentationsketten in ihrem Konstruktionsgang und vermittelt damit höchst anschaulich und instruktiv das Ausmaß der Willkürlichkeit der kulturellen Codierungen landschaftlicher Substrate im Dienst politischer Interessen. Dies schließt nicht nur dynamische Anpassungen der Metaphorik ein, sondern auch konträre Argumentationen angesichts vergleichbarer landschaftlicher Ausgangslagen. Mit diesem Sachverhalt stellt Guldins Publikation zweifellos eine wesentliche Erkenntnis zur Verfasstheit politischer Landschaften bereit. Landschaften erweisen sich in Guldins Untersuchung überdeutlich als mentale Konstruktionen, und dies gerade mit Blick auf sowohl ihre diskursiv-mediale, also kulturelle, wie auf ihre physisch-territoriale Dimension.

Welch unheilvolle Wirkungen das Konzept der politischen Landschaften aufgrund seiner Verschränkung geistiger Momente mit räumlich-territorialen Dimensionen zu entfalten im Stande ist, skizziert Guldin abschließend am Beispiel sozialdarwinistischer Haltungen und darauf basierender Raumansprüche und Grenzregime, für deren Aktualität er auf die Schengen-Grenze, die Grenze zwischen den USA und Mexiko sowie die Sperranlagen im Westjordanland verweist. Guldins Untersuchung erweist sich nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt als ihre Forschungsthematik kritisch reflektierte Studie, deren Untersuchungsergebnisse sowohl inhaltlich wie auch methodisch-konzeptionell einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Landschaftsforschung leisten.

Anmerkungen:
1 Hier begegnet bereits während des Mittelalters mit Fortwirkung bis in die Frühe Neuzeit eine topografisch-politische Bedeutungszuweisung, die ein politisches Territorium wie auch einen politisch relevanten Bevölkerungsteil dieses Territoriums bezeichnet: die nicht ritterschaftlichen Landstände bzw. die Stände in ihrer Gesamtheit innerhalb eines Territoriums. Eugen Haberkern / Joseph Friedrich Wallach, Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit, 4. Aufl., Tübingen 1980, S. 378.
2 Stephanie Krebs / Manfred Seifert (Hrsg.), Landschaft quer denken. Theorien – Bilder – Formationen, Leipzig 2012, S. 17–19 (Dresdner Manifest zur Landschaftstheorie).
3 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, überarb. Aufl., London 2006.

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