Cover
Titel
Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart


Autor(en)
Winkler, Heinrich August
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
687 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad H. Jarausch, Department of History, University of North Carolina, Chapel Hill

Mit der Veröffentlichung dieses vierten und letzten Bandes kommt Heinrich August Winklers große „Geschichte des Westens“, verstanden gleichermaßen als „normatives Projekt“ und als politische Praxis, zum Abschluss. Damit hat der Spannungsbogen von der Formierung der Ideen der Freiheit, ihrer Verbreitung und Durchsetzung gegen autoritäre Feinde in den Weltkriegen sowie der schließlichen Überwindung des kommunistischen Konkurrenten in der friedlichen Revolution sein Ende erreicht. Im Gegensatz zu den längeren Zeiträumen seiner Vorgänger1 behandelt dieser letzte Band „nur“ die verwirrenden knapp 25 Jahre von 1991 bis 2014. Bietet dieses Buch nun die Krönung des Vorhabens durch Beschreibung des endgültigen Triumphs des Westens, oder eher eine Coda als Abgesang mit ungewissem Ausgang?

Der renommierte Autor ist emeritierter Professor der Neuesten Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1938 in Königsberg geboren, in Westdeutschland aufgewachsen und an der Freien Universität Berlin habilitiert, denkt er in gesamtdeutschen und europäischen Kategorien und interessiert sich für soziale Fragen (auch als Mitglied der SPD). Seine historischen Forschungen beschäftigen sich mit einer breiten Palette von Themen wie dem Liberalismus und Nationalismus, der Arbeiterbewegung, der Weimarer Republik und internationalen Vergleichen. Gleichzeitig äußert er sich immer wieder in der Öffentlichkeit zu kontroversen Fragen – wie der Notwendigkeit einer post-kommunistischen Säuberung der ostdeutschen Universitäten oder neuerdings zur Einordnung des Kriegsbeginns von 1914. In den Lobeshymnen zu seiner Emeritierung (2007) titulierten Journalisten ihn deswegen nur leicht ironisch als praeceptor Germaniae.

Inhaltlich konzentriert sich dieser vierte Band der „Geschichte des Westens“ vor allem auf Deutschland, seine Nachbarstaaten, die Europäische Union und besonders auch die Vereinigten Staaten. Russland kommt eher als Gegenpol vor, und andere Länder wie China oder Regionen wie der Nahe Osten erscheinen nur dann, wenn sie mit den zuerst genannten Regionen interagieren. Einige der Länderportraits wie die Diskussion des Zusammenbruchs des italienischen Parteiensystems und des Aufstiegs von Berlusconi (S. 80–91) sind erhellend, andere ersticken in lexikalischem Detail wie die Wahlergebnisse oder Konjunkturdaten von Bulgarien (S. 428ff.), die auch anderswo einzusehen sind. Der Kern der Darstellung ist die Entwicklung von Innenpolitik, internationalen Beziehungen und Wirtschaftskonjunktur mit reflektierenden Zwischeneinschüben der Evaluierung von Ereignissen im Licht westlicher Grundwerte wie der Menschenrechte.

Der Ton der Darstellung ist sachlich und abwägend, die gebotenen Informationen sind zuverlässig. Der Text verarbeitet eine immense Lektüre deutschsprachiger und anglo-amerikanischer Forschung. Aber leider bringen die imposanten Anmerkungen eine Endlosreihung von Buchtiteln ohne weitere Untergliederung. Die Interpretation basiert auf der Verarbeitung journalistischer Kommentare und sozialwissenschaftlicher Analysen – weil sich bisher kaum Historiker in das gegenwartsnahe Terrain vorgewagt haben. Das Resultat ist daher eine Mischung von Erzählung und Chronik, die wichtige Entwicklungen beschreibt und eine Fülle an Daten etwa zu den Koalitionswechseln oder den Wirtschaftsentwicklungen verschiedener Länder bietet.

Viele von Winklers Interpretationen sind durchaus einleuchtend. Die griechischen Fälschungen der Statistik, die Athen den Beitritt zur Eurozone ermöglichten, werden schonungslos gegeißelt. Die Verurteilung der konservativen Manipulationen, die George W. Bush im Jahr 2000 den Sieg über Al Gore bescherten, könnte kaum klarer ausfallen. Auch ist seine Skepsis gegenüber einem türkischen EU-Beitritt aufgrund der Verweigerung der Anerkennung des armenischen Völkermords gut nachvollziehbar. Ebenso deutlich distanziert sich Winkler von der „Selbstmarginalisierung“ der Bundesrepublik im Libyenkonflikt (S. 450). Dramatisch wird die Darstellung nur bei der Beschreibung von großen Ereignissen wie dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001, dessen katastrophale Folgen für die amerikanische Innen- und Außenpolitik der Autor eindrucksvoll schildert (S. 189–203). Seine Kritik der Diskrepanz zwischen Washingtons Freiheitsrhetorik und anti-terroristischer Repression ist besonders plausibel.

Trotzdem ist das Resultat dieser imponierenden Bemühungen nicht völlig überzeugend. Das Schreiben von Geschichte der Gegenwart ist eine große Herausforderung, weil ein Endpunkt fehlt, auf den die Entwicklung hin interpretiert werden kann. Deswegen sind klare Kriterien notwendig, um darüber zu entscheiden, welche Ereignisse von prägendem Gewicht waren und welche nicht erwähnt werden müssen. Leider fehlen solche Überlegungen, weshalb die Proportionen des Öfteren verschwimmen und sich der Text zum Beispiel in der Darstellung des Arabischen Frühlings (S. 441ff.) zu einer Globalgeschichte ausweitet. Natürlich können bei der Unzulänglichkeit der Quellen viele Beurteilungen nur vorläufig sein. Aber 2014 war kein außergewöhnliches Jahr, das als strukturierende Zäsur dienen könnte. Deswegen ist die These vom „Ende aller Sicherheit“ (so die Überschrift des Großkapitels zu den Jahren 2008–2014) eher eine pessimistische Reaktion auf eine Reihe von Schwierigkeiten als eine Interpretation der Tendenz einer gesamten Epoche.

Die anregende Problematik der Spannung zwischen den westlichen Grundwerten von Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft sowie ihrer Umsetzung unter Bedingungen des Terrorismus und der Globalisierung wirft eine Reihe von Fragen auf, die nur andeutungsweise beantwortet werden. Kann der „normative Prozess“ der Selbstkritik des Westens die Kluft zwischen idealistischer Rhetorik und brutaler Machtpolitik schließen, oder ist er nur eine Bemäntelung der Durchsetzung eigener Interessen? Oder wurden die häufigen Verletzungen eigener Wertvorstellungen eher von der Stärke und Skrupellosigkeit der Gegner (wie radikaler Muslime) erzwungen? Rührt der Fehlschlag des „nation-building“ nach westlichem Vorbild hauptsächlich vom Fehlen kultureller Voraussetzungen in nicht-westlichen Gesellschaften her? Sind dafür nur die Fehltritte der USA wie die von Edward Snowden enthüllte Überwachung verantwortlich, oder haben nicht auch die Europäer auf dem Balkan oder mit dem Verfassungsprojekt ebenso gravierende Fehler gemacht? Die geographische Lokalisierung von Grundwerten in dem Begriff des Westens stiftet immer wieder Verwirrung zwischen damit gemeinten Idealen und der Praxis der sie tragenden Staaten.

Zudem erschwert der vergangenheitsbezogene interpretative Rahmen die Integration neuer Themenfelder, die nicht direkt mit den Idealen des Westens zu tun haben. So werden zwar die post-kommunistischen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa sowie auf dem Balkan beschrieben, aber nicht als länderübergreifende Transformationsprozesse problematisiert. Zwar kann man den Ruf nach Geschlechtergleichstellung noch als Teil der Ausweitung von zunächst auf Männer beschränkten Rechtsvorstellungen verstehen, aber die Verbindung zwischen den Freiheitswerten und der Rettung der Umwelt ist weniger selbstverständlich. Ebenso passt Migration mit ihren diskriminierenden Folgeproblemen nicht so ganz in dieses Schema, auch wenn das Streben nach Bürgerrechten noch in die Tradition der Ausweitung auf neue Gruppen eingeordnet werden mag. Zweifellos ist das Programm der Universalisierung westlicher Werte eine der großen Konfliktlinien der Zeit nach 1945, die weiterhin brisant bleibt. Aber damit ist der Übergang zur dritten Stufe der Industrialisierung durch High-Tech-Globalisierung seit den 1970er-Jahren nicht mehr zu erklären.

Aus transatlantischer Sicht handelt es sich bei dem „langen Weg nach Westen“ daher um eine westdeutsche Generationserzählung der Kriegskinder, die den Prozess der Verwestlichung in der Nachkriegszeit historisch unterfüttert. Als Rechtfertigung von pragmatischen Entscheidungen der Hinwendung auf die westlichen Siegermächte ist auch eine intellektuelle Verteidigung der Grundwerte der Demokratie, Menschenrechte und des Markts notwendig, um Rückfälle in nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen zu verhindern. In nuce ist Winklers Werk ein Plädoyer an die Deutschen, diesen Weg nun endlich zu verinnerlichen, und eine Mahnung an die westlichen Mächte, mit ihrer Politik diesen Werten gerecht zu werden. Sein Verständnis der Verwestlichung dreht sich weniger um Populärkultur und Massenkonsum als um eine fundamentale ethische Verankerung von Politik, die Repression und Genozid unmöglich macht. Da dieses Projekt die Rezivilisierung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich befördert hat, verdient es größten Respekt.

Aber als Erklärung für die verwirrenden Herausforderungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnten ist dieses Schema nur von begrenztem Nutzen. Mittlerweile sind die Deutschen im Westen angekommen, um in Winklers Bild zu bleiben, werden aber mit vielfältigen neuen Schwierigkeiten konfrontiert, auf welche die Westernisierung als solche keine Antworten mehr zu bieten hat. Der radikalislamische Terrorismus, die russische Expansion in die Ukraine, die Verschuldungskrisen des Euro, die Integration von Migranten, die Wettbewerbsfähigkeit des Sozialstaats oder der Rückgang der Bevölkerungszahlen, um nur ein paar Problemfelder zu nennen, haben andere Ursachen und verlangen Lösungen, die sich kaum mehr aus westlichen Grundwerten ableiten lassen. Die Folgen der kulturellen und strukturellen Zäsur von 1968/73 haben mittlerweile die Konsequenzen der friedlichen Revolution von 1989/91 überlagert. Diese neuen Problemfelder seit dem Ende des Booms verlangen eine Gegenwartsgeschichte jenseits des Narrativs der Westernisierung, die noch zu schreiben bleibt.2

Anmerkungen:
1 Siehe Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, 3., durchgesehene Aufl. 2012 (1. Aufl. rezensiert von Franka Maubach, in: H-Soz-Kult, 22.10.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13712> [23.03.2015]); ders., Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, München 2011; ders., Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014 (rezensiert von Christoph Kleßmann, in: H-Soz-Kult, 24.03.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22826> [23.03.2015]).
2 Für erste Schritte siehe Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; und Konrad H. Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton 2015 (erscheint im Mai).