A. Griemert: Jüdische Klagen gegen Reichsadelige

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Titel
Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephans


Autor(en)
Griemert, André
Reihe
Bibliothek Altes Reich 16
Erschienen
München 2015: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Dorfner, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Oswald von Gschließer betont in seinem 1942 veröffentlichten Grundlagenwerk zum Reichshofrat beiläufig, dass „zu allen Zeiten in besonders vordringlicher Weise Juden die rechtsprechende Tätigkeit“1 des Reichshofrats in Anspruch genommen hätten. Diese Inanspruchnahme wurde jedoch unter dem Nachhall preußisch-deutscher Nationalgeschichtsschreibung, die dem Reich nach 1648 jeglichen Einheitscharakter absprach, in den folgenden Jahrzehnten kaum eingehender analysiert. Stattdessen erforschten Historiker/innen und Judaist/innen intensiv und ertragreich die jüdischen Lebenswelten in den einzelnen Territorien. Erst seit gut einem Jahrzehnt wird die viel zitierte Territorialisierung der Juden, die Beschränkung ihres lebensweltlichen Horizonts auf die Territorien des Alten Reichs, immer stärker hinterfragt, beispielsweise durch das Projektcluster „Jüdisches Heiliges Römisches Reich“.2 André Griemert liefert mit seiner Marburger Dissertation nun einen weiteren wichtigen und gelungenen Beitrag zur Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich.

Griemert widmet sich in seiner Arbeit den Klagen von Juden gegen Reichsadelige. Er analysiert zunächst mittels einer quantitativen Analyse die Nutzung des Reichshofrats durch jüdische Parteien. Darauf aufbauend werden durch eine qualitative Analyse die Prozessstrategien, Wahrnehmungsschemata sowie die Selbst- und Fremdbilder der jüdischen Prozessparteien eingehend untersucht. Für seine Studie wählt Griemert zwei Untersuchungszeiträume: zum einen die Herrschaftsjahre Kaiser Rudolfs II., wobei Griemert die Phase des Habsburger Bruderzwists ausklammert und sich auf die Jahre 1576 bis 1603 beschränkt; zum anderen untersucht er die gesamte Herrschaftszeit von Kaiser Franz I. Stephan, mithin die Jahre 1745 bis 1765. Die beiden Phasen erscheinen auf den ersten Blick etwas willkürlich gewählt zu sein, werden vom Autor jedoch gut begründet: Griemert wählt gezielt zwei Kaiser, die von der Forschung kontrovers beurteilt (Rudolf II.) bzw. bis dato kaum beachtet wurden (Franz I. Stephan). Außerdem werden die beiden Zeitabschnitte gemeinhin mit unterschiedlichen „Konjunkturen des Kaisertums“ (S. 12) assoziiert: Während die Jahre 1576 bis 1603 vor dem so genannten Wiederaufstieg des Kaisertums liegen, konstatiert die Frühneuzeitforschung für die Jahre 1745 bis 1765 traditionellerweise den langsamen Rückzug des Erzhauses aus dem Reich.

Mit Hilfe der Protokollbände des Reichshofrats kann Griemert für den ersten Zeitabschnitt 88 Prozesse zwischen Juden und Reichsadeligen ermitteln. Für den zweiten, deutlich kürzeren Zeitraum weist er hingegen 139 Prozesse zwischen Juden und Reichsadeligen nach. Für beide Zeitabschnitte gilt, dass das Gros der Klagen von Juden anhängig gemacht wurde. Nur in sechs bzw. 19 Fällen erhoben hingegen Reichsadelige die Klage gegen Juden. Die verstärkte Nutzung des Reichshofrats im zweiten Sample ist ein bedeutsamer Befund, verdeutlicht er doch, dass der „unumkehrbare Prozess der Territorialisierung“3 der Juden nachdrücklich hinterfragt werden muss. Griemerts quantifizierende Analyse ist allerdings auch im Hinblick auf die Prozessmaterien aufschlussreich: Im ersten Zeitabschnitt klagten die Juden – klammert man wirtschaftliche Materien einmal aus – vor allem wegen erlittener Gewalt bzw. Vertreibung. Für den zweiten Zeitraum konstatiert Griemert hingegen einen signifikanten Rückgang physischer Gewaltakte gegenüber Juden: In lediglich zwei Prozessen werden diese noch thematisiert, woraus – mit einiger Vorsicht – ein Rückgang entsprechender Erfahrungen von Jüdinnen und Juden im Reich abgeleitet werden kann.

Die anschließend analysierten rechtsstrategischen Handlungen jüdischer Kläger unterschieden sich kaum von denjenigen christlicher Streitparteien. In beiden Zeitabschnitten nahmen Juden selbstbewusst kaiserliche Kommissionen in Anspruch: Griemert kann anschaulich darlegen, dass besonders das Menetekel einer Exekutionskommission die Bereitschaft der Reichsadeligen erhöhte, einen Vergleich zu schließen. Im Kontext jüdischer Prozessstrategien hätte man allerdings gerne noch etwas mehr über das „ständig zum Einsatz kommende Mittel“ (S. 126) der persönlichen Reise an den Kaiserhof erfahren. Mit anderen Worten: Wie intensiv nahmen jüdische Kläger auf informellen Wegen Einfluss auf einzelne Reichshofräte, wie häufig überreichten sie Verehrungen etc.?

Auf die Analyse der rechtsstrategischen Handlungen folgt das vielsprechend klingende Kapitel „Jüdische Einschätzungen von Kaisertum und Reichsgerichtsbarkeit“, in dem Griemert unter anderem das Kaiserbild der jüdischen Parteien untersuchen möchte. Bedauerlicherweise hält sich ausgerechnet hier der Erkenntnisgewinn in gewissen Grenzen, weil Griemert die in Prozessschriften und Suppliken enthaltenen Argumentationsmuster als Überzeugungen der Juden fehlinterpretiert. Er konstatiert mehrfach ein „absolutes“ bzw. „enormes Vertrauen gegenüber der kaiserlichen Rechtsprechung“ (S. 180, 187), weil die Juden in den an den Kaiser adressierten Schriften beispielsweise dessen ‚zupreisenden Gerechtigkeits-Eyfer‘ oder die ‚gerechtesten Verordnungen‘ seines ‚höchstpreislichen‘ Reichshofrats rühmten. Es handelt sich hierbei jedoch um narrative Strategien, die sich wortgleich auch in den Schriften nichtjüdischer Parteien finden. Jüdische wie christliche Parteien mussten in jeder einzelnen Prozessschrift die höchstrichterliche Stellung des Kaisers sowie die Würde des Reichshofrats angemessen zur Darstellung bringen. Dementsprechend hatten Advokaten bzw. Reichshofratsagenten sicherzustellen, dass ihre jeweilige Partei diese „unbezahlte zeremonielle Arbeit“4 auch tatsächlich leistete.

Im eigentlichen Kernstück der Dissertation analysiert Griemert ausführlich und überzeugend, welche „Selbstbilder“ jüdische Kläger bzw. welche „Fremdbilder“ die beklagten Reichsadeligen in den Prozessschriften und Suppliken konstruierten. Er kann für die Jahre 1576 bis 1603 quellennah darlegen, dass beide Seiten gezielt an unterschiedliche Tugenden bzw. Aufgaben des Kaisers appellierten: Die jüdischen Kläger riefen den Kaiser als den Beschützer der personae miserabilis im Reich an. Ohne sein Eingreifen drohe ihnen der vollkommene Ruin, wobei die Kläger vor allem das Bild eines Lebens am ‚bettelstab‘ bemühten. Außerdem betonten sie das seit Jahrhunderten existierende Nahverhältnis zwischen Kaiser und Juden. Reichsadelige hingegen wandten sich an den Kaiser als den Beschützer der gesamten Christenheit und ersuchten ihn, dem als unchristlich charakterisierten Treiben der Juden Einhalt zu gebieten. Die Reichsadeligen rekurrierten hierbei gezielt auf die gängigen antijüdischen Wucher- und Habgierstereotype. In den Jahren 1745 bis 1765 bedienten sie sich weiterhin des Vorurteils vom Wucherjuden. Griemert kann überdies eine zunehmende „parasitäre Entmenschlichung“ (S. 273) nachweisen, indem die Juden in den Prozessschriften vermehrt als ‚Blutsauger‘ oder ‚Blutegel‘ diffamiert wurden. In der Selbstdarstellung der jüdischen Kläger dominiert im zweiten Sample eindeutig das Bild des ehrlichen jüdischen Kaufmanns. Eng damit verzahnt waren die häufig wiederkehrenden Hinweise, als Kaufmänner und Geldgeber für das Gemeinwohl tätig zu sein.

Wie Griemert abschließend im kurzen Kapitel zur Rechtsprechung des kaiserlichen Höchstgerichts darlegt, fielen die antijüdischen Schmähungen der Reichsadeligen jedoch beim Reichshofrat offenbar nicht auf fruchtbaren Boden. Es lassen sich in beiden Zeiträumen faktisch keine Vorbehalte gegen Klagen jüdischer Prozessparteien nachweisen. Der Reichshofrat bearbeitete jüdische Klagen, um seiner genuinen Aufgabe nachzukommen: der Erhaltung des Rechtsfriedens.

André Griemerts gelungene Dissertation ist ein wichtiger Forschungsbeitrag, weil sie das bisherige Bild der Juden im frühneuzeitlichen Reich in doppelter Hinsicht modifiziert: Der Autor kann überzeugend darlegen, dass Kaiser und Reichshofrat für die Juden überaus relevante Bezugsgrößen bildeten. Die jüdische Lebenswelt war somit keineswegs auf die einzelnen Territorien des Reiches beschränkt oder begrenzt. Das Gegenteil war der Fall: Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung klagten Juden überdurchschnittlich häufig am Reichshofrat. Zweitens vollzieht Griemert mit seiner Dissertation einen wiederholt eingeforderten Perspektivwechsel: Während ältere Studien oftmals einen normativen Zugang wählen und die Juden als passive Objekte obrigkeitlichen Handelns schildern, untersucht Griemert jüdische Prozessparteien als aktiv handelnde Subjekte. Er kann dabei plausibel darlegen, dass jüdische Kläger den Reichshofrat gezielt und kenntnisreich nutzten, um ihre rechtliche Position im Reich zu stabilisieren.

Anmerkungen:
1 Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559–1806, Wien 1942, S. 35.
2 Exemplarisch: Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte 39), Berlin 2007; sowie Verena Kasper-Marienberg, „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765–1790) (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 19), Innsbruck 2012.
3 Zitat aus: J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), München 2001, S. 25.
4 In Anlehnung an Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983, S. 114.

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