A. Doering-Manteuffel u.a. (Hrsg.): Vorgeschichte der Gegenwart

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Titel
Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom


Herausgeber
Doering-Manteuffel, Anselm; Raphael, Lutz; Schlemmer, Thomas
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
502 S., 2 Schaubilder, 3 Tab.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Uhl, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Auch acht Jahre, nachdem Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael erstmals ihre These eines Strukturbruchs um 1973/74 in Buchform veröffentlichten1, lässt sich festhalten, dass die Diskussion um eine neue Periode „nach dem Boom“ weiterhin boomt: Die Debatte prägt – mit vielen zustimmenden, aber auch einigen kritischen Beiträgen – die aktuelle Zeitgeschichtsforschung in Deutschland. Zusammen mit Thomas Schlemmer haben die beiden Zeithistoriker nun einen weiteren Sammelband herausgegeben, in dem 20 Beiträge das Konzept des Strukturbruchs für verschiedene gesellschaftliche Untersuchungsfelder anwenden. In der Einleitung greifen Doering-Manteuffel und Raphael einige Kritikpunkte an ihrem ursprünglichen Konzept auf und entwerfen das Programm einer „Vorgeschichte der Gegenwart“, die bei aller Konzentration auf die Phase nach dem Boom diese doch im Rahmen einer das gesamte 20. Jahrhundert umfassenden Zeitgeschichte begreifen und auch längere Entwicklungslinien der Moderne berücksichtigen müsse.

Im Comeback der Geschichte der Arbeit sehen die Herausgeber den „vielleicht überraschendste[n] Trend der letzten Jahre“ (S. 20). Folglich wird dieses Thema im ersten und umfangreichsten der vier Abschnitte des Bandes behandelt. Hier kann nur eine Auswahl der durchgehend anregenden Beiträge erwähnt werden. Ein wichtiges Ziel der Herausgeber liegt in der Förderung des interdisziplinären Austausches. Der Aufsatz der Sozialwissenschaftler Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr zeigt, dass dies ein lohnendes Unterfangen ist. Sie untersuchen die Entstehung eines „informatisierte[n] Produktionsmodus“ (S. 74) als Ergebnis eines langfristigen historischen Prozesses des Sammelns und Verwaltens von Informationen. Die Informatisierung der Kopfarbeit sei dann als „Moment eines historischen Strukturbruchs“ (S. 59) zu verstehen. Ab den späten 1990er-Jahren könne von einer „neuen Phase des Kapitalismus“ (S. 77) gesprochen werden, in der allerdings keine gestärkte Subjektivität bei der Arbeit zu beobachten sei, sondern vielmehr eine effizientere Nutzung subjektiver Potenziale.

Mitherausgeber Thomas Schlemmer beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der ambivalenten Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit in den 1970er- und 1980er-Jahren. Vor allem macht er interessante Anmerkungen zur zeitgenössischen Debatte um Lohn für Hausfrauenarbeit. Diese Diskussion verstärkte einerseits interne Differenzen der Frauenbewegung, andererseits tat sich hier eine neue „Überlappungszone von konservativer und alternativer Frauen- und Familienpolitik“ auf (S. 104). Dietmar Süß untersucht in seinem Aufsatz die zeitgleich einsetzende Flexibilisierung der Arbeitszeiten. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich der Strukturbruch der 1970er-Jahre nicht als eine reine Verlustgeschichte schreiben lässt. Die Arbeitszeitflexibilisierung ist bestimmt von einer Ambivalenz zwischen sozialer Normierung und individueller Autonomie. Durch ihre Einführung ergeben sich neue Hierarchien und somit Gewinner und Verlierer des Strukturbruchs.

Der zweite Abschnitt – zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – schließt sehr gut an den ersten Block an. Stefan Eich und Adam Tooze zeigen, wie in den 1970er-Jahren durch eine weit verbreitete Inflationsangst und das vor allem in der korporativistischen Bundesrepublik starke gemeinsame Interesse von Gewerkschaften und Unternehmern an stabilen Verhältnissen und einem Ende der Inflation die anti-inflationäre Wende von 1979 bis 1983 vorbereitet wurde. Damit einher ging das Narrativ einer Entpolitisierung der Wirtschaft, aus dem letztlich die Deregulierung der globalen Finanzmärkte folgte, die Eich und Tooze wie auch die Herausgeber in der Einleitung als Veränderung im welthistorischen Ausmaß bezeichnen.

Christian Marx untersucht die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entstandene neue Dimension multinationaler Konzerne. Den historischen Akteuren erschien das bisherige Unternehmensmodell als überholt: Die Unternehmensstruktur wurde nun selbst zu einer wirtschaftlichen Ressource, vor allem indem die Zusammenarbeit bei Forschung und Marketing eine Kostenersparnis versprach. Die internationalisierte Standortpolitik brachte mit dem dadurch erzielten Drohpotenzial gegenüber den Beschäftigten eine wesentliche Veränderung der industriellen Beziehungen hervor. Diese stehen auch im Zentrum des Beitrags der Politologen Wolfgang Schroeder und Samuel Greef, die nachvollziehbar argumentieren, dass die Gewerkschaften aufgrund „institutioneller Puffer“ (S. 246) erst mit zwei Jahrzehnten Verspätung einen Strukturbruch erlebten. Die Herausforderung durch den technologischen Wandel, den globalen Wettbewerb und die Migration wurde spät angenommen. Erst als ganze Branchen vom Niedergang betroffen waren und einzelne Berufszweige verschwanden, sei eine gewerkschaftliche Reaktion unerlässlich geworden. Im Ergebnis stünden die deutlich ausdifferenzierten Arbeitsbeziehungen der Gegenwart, die in einigen Bereichen immer noch sozialpartnerschaftlich organisiert seien, während in anderen Bereichen Tarifverträge gar keine Rolle mehr spielten.

Der dritte Teil des Bandes behandelt die Konsum- und Konsumentengeschichte, deren zentrale Rolle für Untersuchungen der Zeit nach dem Boom in der Einleitung hervorgehoben wird. Frank Trentmann macht in seinem Aufsatz klar, dass die weit verbreitete Rede von einem bewussteren Konsum in den 1970er- und 1980er-Jahren keinesfalls mit der tatsächlichen Entwicklung des Konsumverhaltens verwechselt werden dürfe: Der Konsum stieg weiter an; insbesondere das Umweltbewusstsein prägte zwar durchaus den politischen Diskurs und die Herausbildung neuer sozialer Identitäten, schlug sich aber kaum in Konsumpraktiken nieder. Ein eigentlicher Strukturbruch des Konsums sei keineswegs feststellbar. Vor allem die Ausweitung des Kreditwesens und die fortgesetzten staatlichen Impulse, besonders im Bereich Kultur sowie im Hinblick auf Sport und Fitness, hätten dies verhindert.

Maren Möhring setzt sich in ihrer Untersuchung zur Ernährung und Esskultur seit den 1970er-Jahren unter zwei Gesichtspunkten kritisch mit einigen Thesen Doering-Manteuffels und Raphaels auseinander. Zum einen hinterfragt sie die These, dass an die Stelle einer konformistischen Massenkonsumgesellschaft der Boomphase eine individualisierte Konsumentengesellschaft nach dem Boom getreten sei. Möhring vermeidet Ulrich Becks Begriff der Individualisierung, der für die Strukturbruchthese von einiger Bedeutung ist, und zieht stattdessen einen an Michel Foucault und Jürgen Link geschulten Begriff der Subjektivierung vor. Auf dieser theoretischen Basis fordert sie dann einen quellenkritischen Umgang mit zeitgenössischen Umfragen und Statistiken ein: Diese hätten „Normalitätsstandards“ gesetzt und als „Orientierungspunkt“ für das Konsumentenverhalten gewirkt (S. 317f.). Letztlich sei der „postmoderne Konsument“, dessen Konsum seine Identität formt, eben „auch ein Geschöpf der empirischen Erhebungen der Konsum- und Marktforschung“ (S. 326). Zum anderen betont Möhring zwar die Bedeutung der Phase nach dem Boom, in der eine Entnormativierung des Konsumverhaltens stattgefunden habe, weist jedoch auf die Gefahr hin, dass bei der Debatte um zeithistorische Zäsuren lange Entwicklungslinien übersehen werden könnten: So seien die Wurzeln der Selbstverantwortung und Selbstoptimierung um 1900 auszumachen. Bereits an dieser Stelle müsse eine Geschichte der Gegenwart einsetzen.

Wie vielfältig die „Dimensionen des Strukturbruchs“ von den Herausgebern gedacht werden, zeigt der vierte Teil des Bandes, der die Veränderung von Zeithorizonten und Zeitdiagnosen in den Fokus nimmt. In einem sehr anregenden Beitrag über den Wandel des Verständnisses von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit argumentiert Fernando Esposito, dass die Posthistoire als paradigmatisch für das Zeitverständnis nach dem Boom verstanden werden kann. Dieses unter Intellektuellen verschiedener Couleur weit verbreitete Gefühl vom Ende der Geschichte resultierte Esposito zufolge vor allem aus der „Wahrnehmung einer verlorenen Handlungsmacht“ (S. 420): Die alten Utopien konnten nicht durch gleichwertige Zukunftsmodelle ersetzt werden. Die Gegenwart wurde in Abgrenzung zur Vergangenheit bestimmt, die „Postismen“ erlebten am Ende der 1970er-Jahre eine Inflation. Ganz nebenbei historisiert Esposito die „Epochenchiffre ‚nach dem Boom’“ (S. 411), deren Erfolg auch im Kontext jenes gewandelten Zeitverständnisses zu verstehen sei. Elke Seefried betont in ihrer Untersuchung der Zukunftsforschung, dass diese eine Krise bereits vor dem ersten Ölpreisschock von 1973 konstruiert habe. Anders als oft angenommen, sei nicht das Fortschrittskonzept als solches fallen gelassen worden; vielmehr sei ein neues Fortschrittskonzept entstanden. Das Machbarkeitsdenken der Boomzeit sei gewichen, an die Stelle der Fixierung auf Steuerung und Technik seien Mensch und Ökologie getreten. Mithin sei ein qualitativer Wachstumsbegriff entwickelt worden.

Der Sammelband „Vorgeschichte der Gegenwart“ zeigt eindrucksvoll, dass es sich lohnen kann, das Konzept des Strukturbruchs auf weitere Untersuchungsgegenstände anzuwenden. Zudem wird deutlich, dass dieses Konzept im Hinblick auf seine Tragfähigkeit in spezifischen Forschungsfeldern kritisch zu prüfen ist. Die in der Einleitung geforderte Überwindung einer nationalzentrierten Geschichte wird von den meisten Einzelbeiträgen in der Form einer Verflechtungsgeschichte der Bundesrepublik in der westlichen Welt umgesetzt. Inwieweit das Konzept auch für den Ostblock während des späten Kalten Krieges ergiebig ist, gilt es noch zu prüfen. Der einzige Beitrag zur „Dritten Welt“, Maria Dörnemanns Untersuchung zur Bevölkerungspolitik in Kenia, gibt hingegen erste Hinweise darauf, dass die Ölpreiskrise von 1973 auch für den globalen Süden die Qualität eines Strukturbruchs erhielt: Die internationale Rolle Afrikas wandelte sich; nun wurden erstmals auch eigene Sichtweisen zum Bevölkerungsproblem – die globale Verteilungsungerechtigkeit – in der internationalen Politik gehört. Thematisch harren besonders zwei in der Einleitung erwähnte Desiderata künftig weiterer, gerade auch transnationaler Forschung: eine Wissens- und Technikgeschichte der Digitalisierung sowie eine Geschichte des Humankapitals.

Anmerkung:
1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3., ergänzte Aufl. 2012.