F. Neumann u.a.: Im Kampf gegen Nazideutschland

Cover
Titel
Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries


Autor(en)
Neumann, Franz; Marcuse, Herbert; Kirchheimer, Otto
Reihe
Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 22
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
812 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Ziege, Politische Soziologie, Universität Bayreuth

Pierre Bourdieu zufolge ist eine der großen Fragen für wissenschaftliche Felder der Grad der Autonomie von äußeren Zwängen bei der akademischen Wissensproduktion. Wenn man dieser These folgt, dann hat man es selten mit so notwendig von heteronomen Belangen beherrschten Textprodukten wie jenen zu tun, die jetzt in der von Raffaele Laudani herausgegebenen Quellenedition vorliegen: Der über 800-seitige Band enthält insgesamt 31 Texte von Franz L. Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, geschrieben 1943 bis 1949, die diese als „enemy aliens“ im Dienst des damaligen Geheimdienstes und später des US-Außenministeriums verfassten. Im 1941 geschaffenen Research & Analysis Branch des Office of Strategic Services (OSS) wurden die drei Deutschen, die in den USA im Exil lebten, Teil des „Schattenkriegs“ gegen Deutschland.1 Sie hatten seit ihrer Vertreibung aus Deutschland an dem von Max Horkheimer geleiteten marxistischen Institut für Sozialforschung (IfS) gearbeitet, das 1934 von Frankfurt nach New York umgesiedelt worden war.

Durch irreguläre, subversive Formen der Kriegsführung wie die Beschaffung und Auswertung geheimer Nachrichten, die Mobilisierung von Widerstandskämpfern bis hin zur Täuschung, Propaganda und psychologischen Kriegsführung sollte die Kriegsanstrengung gegen die faschistischen Achsenmächte im Research & Analysis Branch unterstützt werden, auch durch Analysen von hochkarätigen Denkern wie diesen, die ihr eigenes Land bestens kannten. Nach anfänglichen Aufgaben in der Informationsauswertung traten Fragen des Besatzungs- und des Disziplinierungsprozesses Deutschlands in den Vordergrund, mit Blick auf die Nachkriegszeit und deren Begleitung nach der deutschen Niederlage. Dazu wurde das OSS im Herbst 1945 aufgelöst und die Forschergruppe ins State Department verlegt. Hier trug insbesondere Neumann im Team des Chefanklägers der USA am Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg, Robert H. Jackson, zur Vorbereitung der Anklage bei. Der Gedanke, die Verbrechen gegen Juden und andere zivile Gruppen als „Verbrechen im Inland“ in die Kategorie der Kriegsverbrechen aufzunehmen, war, wie der Herausgeber schreibt, Teil des zentralen Beitrags der Frankfurter Gruppe zur Anklagestrategie (S. 60).

Dass Marcuse, Kirchheimer und Neumann zu solcher Bedeutung im amerikanischen Staatsdienst gelangten, lag nicht zuletzt daran, dass sie im wissenschaftlichen Feld ein hohes symbolisches Kapital akkumuliert hatten, das sich während der Kriegsjahre im politischen Feld auszahlte. Neumann hatte 1942 die erste große Analyse des „Dritten Reiches“ publiziert, bis heute ein Standardwerk der NS-Forschung: „Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, 1933–1944“.2 Der Nationalsozialismus, schrieb Neumann, „zerstört die Allgemeinheit des Gesetzes“.3 In seiner Analyse war die später so wichtige wie kontroverse Polykratiethese bereits gedacht.

Allerdings wurden die Exildeutschen wegen angeblicher kommunistischer Tendenzen im Staatsdienst auch bald wieder marginalisiert. Die Entnazifizierung verstanden sie schnell als das „Fiasko“, zu dem sie tatsächlich geriet.4 Ihre Hoffnungen auf die Bestrafung der mit den Nazis verbündeten Großindustriellen und die Zerschlagung der Konzerne durch radikale Enteignung wurden bitter enttäuscht, die minutiös angefertigten Täterlisten verpufften – insgesamt, wie schon Alfons Söllner gezeigt hat, blieb der Einfluss der deutschen Exilanten gering.5

Söllner hat in den 1980er-Jahren bereits einen Teil der in diesem Band vorgelegten Quellentexte auf Deutsch publiziert. Sie sind seit der Freigabe des bis Mitte der 1970er-Jahre als geheim klassifizierten Materials frei verfügbar. Die große Leistung Laudanis ist es nicht, unbekannte Texte zugänglich gemacht zu haben, sondern die ursprünglich anonymisierten Texte den Verfassern zugeordnet zu haben. Der Herausgeber macht ein Textkorpus sichtbar, für das die Autorschaften von erheblichem Interesse sind – handelt es sich doch um an Marx geschulte Intellektuelle sozialdemokratischer Ausrichtung, die, eher an der Peripherie als im Zentrum der kritischen Theorie angesiedelt, der später so genannten Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno zuzuordnen sind. Vom IfS hatten sich die drei Gelehrten in den frühen 1940er-Jahren freiwillig-unfreiwillig getrennt, teils aufgrund materieller Zwänge, teils aufgrund gravierender inhaltlicher Differenzen, letztere gerade auch in der NS-Analyse. Hochinteressant ist ebenfalls die Konstellation der durch die „68er“ berühmt gewordenen Linksintellektuellen im amerikanischen Staatsdienst. Schließlich stand im Rahmen des „war effort“ und später des beginnenden Kalten Kriegs nicht nur die faschistische Achse in Europa im Visier der US-Behörden. Gleichzeitig verfolgte das House Committee on Un-American Activities unter Führung des Abgeordneten Martin Dies die Aktivitäten von Linken im eigenen Land, statt sich auf US-Nazis oder den Ku-Klux-Klan zu konzentrieren. In der McCarthy-Ära wurden so berühmte Exildeutsche wie Bertolt Brecht und sogar der des Kommunismus unverdächtige Thomas Mann vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe geladen.

Diese Kontexte sind wesentlich für die Einschätzung der Frage nach Autonomie und Heteronomie der hier gesammelten Texte. Wieweit unterwarfen sich die Autoren den Zwängen der Institution oder wurden ihnen unterworfen? Wie wirkten sich diese auf ihre Analysen aus? „Sich von jungen, dazu noch zumeist jüdischen Schnöseln aus Mitteleuropa über die Schulter gucken zu lassen, verletzte das Selbstgefühl der Herren Offiziere“, wie der OSS-Weggefährte John Hans Herz berichtete.6 Die Texte, von Laudani in der unbereinigten Form publiziert, waren geändert und von unerwünschten Aussagen gereinigt worden, bevor sie Amts- und Entscheidungsträgern in Regierung und Militär übergeben wurden – nachdem sich die marxistischen Autoren zuvor bereits in Selbstzensur geübt und den radikalen Gehalt entschärft hatten. Laudani sagt dazu nichts. Auch andere Fragen der Quellenkritik lässt er offen – wie verhielten sich die Berichte dieser drei zu den vielen anderen im OSS, das insgesamt etwa 1.200 Mitarbeiter hatte (davon allein in der Mitteleuropa-Sektion über 40), was war der Stellenwert der Berichte für OSS und State Department, wie wurden sie diskutiert? Wurden die drei Intellektuellen mit den Themen beauftragt, oder entschieden sie selbst, was sie wann schrieben, also aus Eigeninitiative oder nach eigenen Kriterien? Veränderungen bis hin zur Auflösung des OSS kontextualisiert Laudani kaum, weder im Hinblick auf den Zerfall der Anti-Hitler-Koalition und die Anfänge des Kalten Kriegs noch die Zäsur eines neuen Präsidenten in Gestalt Trumans, den Amtsnachfolger Franklin D. Roosevelts. Wie verhielten sich die drei Protagonisten zu diesem einschneidenden Politikwechsel? Zu diesen Fragen ist es nützlich, bei Söllner und Müller nachzuschlagen.

In der Literatur herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass es dennoch zeitweise zu einer echten Interessenkoalition zwischen den Exilwissenschaftlern und den US-Behörden kam.7 Marcuse, Neumann und Kirchheimer waren sich als Deutsche und Juden bewusst, dass die USA ihnen Asyl gewährt hatten und sie in der Funktion von Experten in der Bekämpfung des Nazismus genau am richtigen Ort waren. Müller spricht in seiner hochreflektierten Studie über Marcuse von einer epistemischen Gemeinschaft aus Wissenschaftlern und Geheimdiensten8 – also einer fruchtbaren Überschneidung von wissenschaftlichem und politischem Feld. Demzufolge hätten sich die heteronomen Belange produktiv ausgewirkt.

Die Quellensammlung ermöglicht es, Anachronismen zu erkennen, die sich heute im Umgang mit dem Thema allzu leicht ergeben. So ist nie die Rede von „Holocaust“ – ein Begriff, der erst mit der amerikanischen TV-Serie Ende der 1970er-Jahre ins öffentliche Bewusstsein kam –, auch nicht von „Auschwitz“, sondern von „extermination“, von Vernichtung der Juden (vgl. S. 641f.). Es ist ohnehin aufschlussreich, wie wenig von Antisemitismus die Rede ist, auch wenn sich die Frankfurter Gruppe über die Ziele der Verfolgung und Vernichtung der Juden völlig im Klaren war. Doch nur ein kurzer Text Neumanns (Dok. Nr. 1, S. 69–73) ist dem Thema ausschließlich gewidmet. Man kann den geringen Stellenwert des Antisemitismus im Kontext der in dieser Zeit verbreiteten Defensivstrategie von Exiljuden und großen Teilen der jüdischen Communities in den USA interpretieren. Sie waren nicht nur mit dem NS-Antisemitismus in Europa, sondern auch mit Antisemitismus in den USA konfrontiert.9 Sie lebten im Bewusstsein antisemitischer Stereotype, die Juden als rachsüchtig und immer auf den Vorteil der eigenen Sache bedacht darstellten, wie des in der Zeit Roosevelts allgegenwärtig drohenden Vorwurfs, „die“ Juden hätten die USA in den Krieg getrieben – unter einem Präsidenten, der als „King of the Jews“ galt, ein ambivalentes Kompliment. Aber auch im „Behemoth“ stellte Neumann, trotz geringfügiger Revisionen bei der Auflage von 1944, den Antisemitismus nicht ins Zentrum der Betrachtung.

Neumanns Antisemitismusanalyse ist oft kritisiert worden. Die Unterschiede zu Horkheimer und Adorno, denen zufolge die Gesellschaft ihrer Zeit schlechthin durch den Antisemitismus zu begreifen war, sind erheblich. Trotzdem ist es umgekehrt – es war nicht die Einschätzung Neumanns, sondern die prominente Stellung, die Horkheimer und Adorno dem Antisemitismus gaben, die 1947 überraschen musste. In der „Dialektik der Aufklärung“ schien es so, als könnte ein Spezialproblem, das der Juden, die ganze Geschichtsphilosophie Hegels letztlich aushebeln.10 So weit wären weder Neumann noch Kirchheimer oder Marcuse in der Deutung des Antisemitismus gegangen, trotz ihres empirischen Wissens.

Mit Raffaele Laudanis Quellenedition liegt ein wichtiges Textkorpus vor, nicht nur für die Wissenschaftsgeschichte. Der Band ermöglicht den unverstellten Blick auf Wahrnehmungen der Zeit und den Stand der Analysen im Office of Strategic Services durch Quellen, die für die Geschichte und Soziologie des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zentral sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste 1941–1945, Stuttgart 1999, S. 10f.
2 Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, 1933–1944, New York 1942, 2., überarb. Aufl. 1944, dt.: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Köln 1977.
3 Neumann, Behemoth (1977), S. 517.
4 Vgl. Barry M. Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategic Services 1942–1945, Cambridge 1989, S. 49.
5 Alfons Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst: 1943–1945, Frankfurt am Main 1986; ders., Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 2: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Außenministerium: 1946–1949, Frankfurt am Main 1986.
6 John Hans Herz, Vom Überleben. Wie ein Weltbild entstand, Düsseldorf 1984, S. 140.
7 Vgl. Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, Minneapolis 2009, S. 281ff.; Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 20ff.
8 Vgl. Müller, Krieger und Gelehrte, S. 20.
9 Vgl. Arthur Hertzberg, The Jews in America, New York 1989, S. 289ff.
10 Vgl. demnächst Eva-Maria Ziege, Theorie des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“, in: Gunnar Hindrichs (Hrsg.), Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Berlin 2017 (in der Reihe „Klassiker auslegen“).