Titel
'Guilty Women', Foreign Policy, and Appeasement in Inter-War Britain.


Autor(en)
Gottlieb, Julie V.
Erschienen
Houndmills 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
$ 90.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Gottfried Niedhart, Historisches Institut, Universität Mannheim

Appeasement dient als beliebte Kurzformel zur Charakterisierung der britischen Außenpolitik Ende der 1930er-Jahre. Darüber hinaus bezeichnet man damit gern ganz allgemein eine zu nachgiebig erscheinende Politik. Dieses auch von der Autorin vertretene reduzierte Verständnis von Appeasement entstand im Zuge der Auseinandersetzung über die Art der britischen Reaktion auf die von Japan initiierte, von Italien fortgesetzte und von Deutschland auf die Spitze getriebenen Infragestellung der nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen und durch Locarno weiter entwickelten internationalen Ordnung. Die Halbbrüder Austen und Neville Chamberlain sind mit der Wendung des Appeasementbegriffs ins Negative unmittelbar verbunden. Als Außenminister stand Austen 1925 mit dem Streben nach „appeasement and reconciliation“ für eine Politik des Ausgleichs zwischen den im Krieg verfeindeten Staaten. Dem lag ein Verlangen nach Friedenswahrung zugrunde, denn nur unter der Voraussetzung internationaler Stabilität konnte Großbritannien hoffen, seinen längst untergrabenen Status als Weltmacht in eine von Krisen geprägte Zeit hinüberretten zu können. Mit solchen von der Forschung herausgearbeiteten Zusammenhängen will sich die Verfasserin allerdings nicht befassen. Vielmehr richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Zeit zwischen 1937 und 1939, in denen Neville Premierminister war und vergeblich versuchte, einen Krieg mit einer Doppelstrategie aus Verhandeln und Aufrüstung abzuwenden. Ihr Buch handelt davon, wie über diese Politik in der weiblichen Öffentlichkeit, aber auch privat gesprochen und wie die Rolle von Frauen aus männlicher Sicht wahrgenommen wurde.

Churchill sprach rückblickend meinungsstark von einem unnötigen Krieg, der durch früheres militärisches Eingreifen hätte verhindert werden können. Im Juli 1940, kurz nachdem britische Truppen nur mit Mühe vom Strand in Dünkirchen hatten zurückgebracht werden können, erschien unter dem Titel Guilty Men eine anonym verfasste Schrift, die auf gut hundert Seiten eine massive Anklage gegen die Regierung Chamberlain vorbrachte und zugleich den Mythos Churchill kreierte. Ein Jahr später wurde in Ergänzung dazu Guilty Women publiziert, ein Pamphlet voller Verachtung für weibliche Schwäche im Angesicht der Diktatoren und davon ausgehender Verweichlichung der britischen Politik. Venus versus Mars – so wurde das Verhältnis zwischen Großbritannien und NS-Deutschland dargestellt. Julie Gottlieb von der Universität Sheffield, die sich mit Studien zum Geschlechterverhältnis in der Politik schon einen Namen gemacht hat, greift diese Polemik auf und geht der Frage nach, welche Rolle Frauen, seit 1918 bzw. 1928 wahlberechtigt und damit ein politischer Faktor von erheblichem Gewicht, in der Diskussion über Probleme der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen spielten. Damit soll eine Lücke in der Appeasementforschung geschlossen werden, die bisher ausschließlich die männliche Perspektive betont habe. Überfällig sei „a history from below of women’s responses to international issues and a gendered reading of its accompanying discourse“ (S. 9). Das zu diesem Zweck ausgeleuchtete breite Spektrum reicht von Vereinigungen wie der League of Health and Beauty, die im März 1939 in London die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Kling willkommen hieß, über die in der Conservative Women’s Association organisierten Frauen, die Chamberlain rückhaltlos unterstützten, ohne dabei aber in ideologische Nähe zum NS-Regime zu geraten, bis hin zu entschiedenen Gegnerinnen Chamberlains, die im Herbst 1938 den Verrat an der Tschechoslowakei anprangerten und dem Premierminister nach seiner Rückkehr von der Münchener Konferenz den ansonsten überschwänglichen Beifall verweigerten.

Das Buch ist eine Fundgrube von bisher kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommenen Stimmen von und über Frauen. In einer männlich dominierten Welt ohne eine Frau am Kabinettstisch oder im Diplomatischen Corps und mit nur wenigen weiblichen Unterhausmitgliedern finden sich mannigfach Beispiele für „women’s presence, participation, and emotional and intellectual investments in the sphere of international relations, a relationship that came to a head in the autumn of 1938“ (S. 100). Die Auswertung dieses Materials gebe den Blick frei auf „the cultural and the psychological frameworks in which foreign affairs were conducted” (S. 99f.). Darüber hinaus spiegle sich darin das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern der Politik Chamberlains während der hier besonders im Fokus stehenden Sudetenkrise 1938 lasse den Kampf der Geschlechter erkennen, der jetzt auch auf dem Feld der Außenpolitik sichtbar geworden sei: „By the end of the 1930s the endemic sex war and an ever fiercer political competition between the sexes had migrated from the domestic to the international arena.“ (S. 12) Was sie mit dem „new battle ground in the war of the sexes“ (S. 175) meint, verdeutlicht die Autorin unter anderem mit Äußerungen des gegenüber Chamberlain kritischen Ex-Diplomaten, Politikers und Publizisten Harold Nicolson, der im November 1938 abschätzig von einer weiblichen Grundhaltung sprach: „English women showed fear, not courage.“ (S. 173) Dementsprechend berichtet Gottlieb, die auch die in Großbritannien erstmals 1937 erhobenen Meinungsumfragen auswertet, von einem Chamberlainbild, das den Premierminister als „hero of the mothers“ (S. 166) darstellt.

Wie wenig das in der britischen Öffentlichkeit gern kultivierte Stereotyp von Frauen als konfliktscheuen Hausmütterchen mit letztlich aber unangemessen großem Einfluss auf politische Belange zutraf, wird auch anhand von sieben Nachwahlen zum Unterhaus Ende Oktober und im November 1938 dargestellt, als der Frauenanteil bei der Kandidatenaufstellung merklich zunahm und auch nicht von einem einheitlichen Votum weiblicher Wähler gesprochen werden kann. Etwas unvermittelt folgt darauf ein abschließendes Kapitel über Churchill und sein politisches Umfeld, in dem Kritikerinnen der Regierungspolitik ausführlich porträtiert werden. Wie eingangs schon gesagt: Gottlieb fragt nicht nach dem rationalen Kern der attentistischen Grundhaltung britischer Außenpolitiker in der Krise der 1930er-Jahre. Vielmehr will sie zeigen, wie der Diskurs über britische Identität und Außenpolitik von Geschlechterrollen bestimmt wurde. Ob die reale Politik – im Unterschied zur Debatte darüber – davon geprägt wurde, wird nicht weiter diskutiert, dürfte auch kaum empirisch messbar sein. Angesichts des zunehmenden Gewichts des weiblichen Votums in der Politik ganz allgemein und im Besonderen in der Außenpolitik wird eine Parallelität von weiblicher politischer Emanzipation und männlicher Abwehrhaltung sowie männlichem „Frauenhass“ (S. 264) konstatiert. Neville Chamberlain erscheint keineswegs als Verächter von Frauen, zumal er in engem Kontakt mit seiner Ehefrau und seinen beiden Schwestern stand, aber als Exekutor einer schwächlichen Politik, für die er von weiblicher Seite viel Zuspruch erfahren hat. Frauen waren es aber auch, die zu den „most vociferous“ und wohl auch „most affective anti-appeasers“ gehörten (S. 263). Ihnen vor allem gilt die Sympathie der Autorin.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/