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Titel
Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspolitiken in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884–1914


Autor(en)
Lerp, Dörte
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Hedrich, Hamburg

Der 1942 vorgelegte Generalplan Ost, der im Kontext der Shoa die „rassische“ Neuordnung scheinbar menschenleerer Ostgebiete plante, gilt als entgrenzte siedlungspolitische Manifestation des Rassenwahns. Dörte Lerp analysiert in ihrer Studie nichts weniger als die Vorläufer dieser NS-Bevölkerungspolitik, wobei sie eine innovative und avancierte Vergleichsgeschichte der in den polnisch dominierten Ostprovinzen Preußens und in Deutsch-Südwestafrika applizierten „territorialen Bevölkerungspolitiken“ vorlegt, also analysiert, „wann und wie versucht wurde, auf das Verhältnis von Raum und Bevölkerung innerhalb der Grenzräume einzuwirken“ (S. 15). Lerp beforscht mithin rassifizierte siedlungspolitische „Germanisierungs“-Strategien im östlichen Preußen sowie dem kolonialen Deutsch-Südwestafrika. Dabei gelingt ihr mit den Methoden der komparativen Geschichtsschreibung eine kenntnisreiche Studie, die – über Massenausweisungen polnischer Bürger aus Preußen, racial zoning in Windhoek und rassifizierte Zwangsarbeit in Ober Ost – subsaharische und osteuropäische „Expansion des Kaiserreichs direkt miteinander in Beziehung setzt“ (S. 10). Besonders gegen Ende entwickelt die Studie dabei eine hohe Faszination, da Lerp hier immer schneller zwischen Posen und Windhoek hin und her „zappt“; Momente, in denen das Buch am stärksten ist und sich die methodologisch-erkenntnistheoretischen Stärken der Histoire croisée voll entfalten.

Der konzise Theorieabschnitt rekurriert auf die Verflechtungs- und Transfergeschichte bzw. Histoire croisée, die Lerp durch die „Vergleichseinheiten“ Preußens Osten und Deutsch-Südwestafrika neu konturiert und appliziert. Dabei wird Lerp dem Ansatz der Analyse von Verflechtungen „between various historically constituted formations“1 vollauf gerecht. Denn es gelingt ihr nicht nur, „synchrone Parallelen und Transfers“ aufzuzeigen sowie „Kontinuitäten und Wendepunkt[e]“ (S. 332) zu analysieren, sondern sie benennt auch mutig Differenzen, was zwar spürbar der anfänglichen Intention des Buches widerspricht, aber in höchstem Maße aufschlussreich ist. Quellentechnisch greift Lerp souverän auf einschlägige Archivalien z.B. aus dem Bundesarchiv und den National Archives of Namibia zurück.

In den vier Kernkapiteln „Grenzziehungen“, „Siedlungskolonialismus“, „Die geteilte Stadt“ und „Entgrenzung“ untersucht Lerp dann die für biologistische Bevölkerungspolitiken privilegierten Felder. „Grenzziehungen“ analysiert die politischen Mittel, mit denen versucht wurde, den Bewegungsradius von Menschen zu regulieren. Hier seien die Massenausweisungen von 30.000 Polinnen und Polen russischer Staatsbürgerschaft aus Preußen ab 1885 als „Beginn dezidiert territorialer Bevölkerungspolitiken“ (S. 66) zu werten, da sich diese erstmals gegen die „polnische und jüdische Bevölkerung als Ganzes“ (S. 62) richteten. Dies verweise auf eine deutliche „Imperialisierung der Nation“ (Christian Geulen); parallel seien „ethnisierte Kriterien“ (S. 79) auch auf polnische Saisonarbeiter – sowie in Deutsch-Südwestafrika auf afrikanische Dienstboten – angelegt worden, die auf den Einschluss von Nicht-Deutschen in den Arbeitsmarkt bei gleichzeitiger Exklusion von bürgerlichen Rechten zielten. Auf diese Weise hätten sich, so Lerp plausibel, streng kontrollierte „Imperiale Arbeitsmärkte“ (S. 116) konturiert, die sich in einem Prozess der „Rassifizierung von Arbeit“ (S. 142) in einem Zwei-Klassen-System biologistisch stratifizierten.

Das Kapitel „Siedlungskolonialismus“ analysiert dann die Aneignung von Räumen durch Siedlungskolonisation. Hier entfaltete die Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen, die unter Involvierung Alfred Hugenbergs, so eine Quelle, die „Germanisierung Posen’s“ (S. 157) betrieb, biopolitische Aktivitäten, indem sie bis 1918 zwischen 110.000 und 150.000 Personen in den östlichen Provinzen ansiedelte. Für Deutsch-Südwestafrika schlug das Auswärtige Amt dann eine Kommission vor, die sich am Vorbild ebendieser Ansiedlungskommission orientierte. Parallel habe der Lebensraumbegriff durch den Konnex von „Agrarideologie und Lebensraumimperialimus“ (S. 197) zu einem „neuen Verständnis von Raum und Bevölkerung“ (S. 200) geführt. Die Erzählfigur des Lebensraums habe die Siedler in Posen und Windhoek als eigenständige Akteure eines Siedlungsimperialismus emanzipiert und gemeinsam mit dem Terra Nullius-Konzept die „sozio-spatiale Neuordnung“ (S. 217) der Kolonie Deutsch-Südwestafrika legitimiert.

Avantgarde ist das Kapitel zum Thema „Geteilte Stadt“, das rassifizierte urbane Segregation in Windhoek und Posen beforscht. Durch stadtplanerische Eingriffe, so Lerp, wurde in Windhoek wie Posen ein gemeinsamer „und zugleich getrennte[r] Raum“ (S. 230) generiert, in dem sich medizinische Kolonialrassismen topographisch manifestierten. Dabei war der „Diskurs um Stadt und Hygiene“ vielfach „ethnisiert“ (S. 267). In Posen schürten die völkischen Befürworter angeblicher Hebungspolitik die Angst vor Krankheit und Proletarisierung, wobei sie gängige stadtplanerische und hygienische Argumente zu einer anti-polnischen Agenda verknüpften. In Windhoek wurden die Niederlassungen bzw. Werften der Afrikanerinnen und Afrikaner vielfach als gesundheitliche Gefahr für die „weiße Stadtbevölkerung“ gelabelt. Es etablierte sich eine urbane „Segregation im Namen der Hygiene“ (S. 273), die sich im Sinne eines racial zoning in nächtlichen Ausgangssperren und Niederlassungsverboten für Afrikaner manifestierte. Imposant ist Lerps Analyse der von den Kolonialbehörden geplanten Werft vor Windhoek, in deren Mitte eine kleine Polizeistation liegen sollte, womit das Areal als „kolonial[e] Variante des Panoptikums“ fungierte (S. 277).

Das finale Kapitel „Entgrenzung“ analysiert dann, inwieweit im Ersten Weltkrieg die territorialen Bevölkerungspolitiken der Vorkriegszeit fortgesetzt wurden. Bezüglich des Konnexes von „Raum und Bevölkerung“ habe der Krieg zu einer „Entgrenzung politischer Denkmuster“ (S. 292) geführt. Nun wandten sich die Siedlungsexperten den besetzten Ostgebieten/dem Baltikum zu, während sich die Politiken von „Arbeit und Migration im Krieg“ radikalisierten. Ab 1916 wuchs sich die Suche nach Arbeitskräften im Generalgouvernement Warschau mitunter zu „Menschenjagden“ (S. 326) aus, während aus dem Großraum Łodz 5.000 Menschen, primär Jüdinnen und Juden, in Arbeitsbataillonen nach Ostpreußen transportiert wurden. Diese Praktiken kulminierten, so Lerp, in der Kolonialherrschaft im Besatzungsgebiet Ober Ost; hier wurde rassifizierte Zwangsarbeit „integraler Bestandteil der Militärherrschaft“ (S. 328) und allein in Litauen wurden von deutschen Militärs 130.000 Menschen zur Arbeit gezwungen.2

Lerps immensen Beitrag zu kritisieren, fällt schwer, denn legitim ist, dass sie kaum prosopographische Verflechtungen oder konkrete Transfers zwischen den Grenzräumen nachweist, sondern eher auf eine generelle „Diffusion imperialer Denkmuster“ (S. 320) verweist. Der einzig substanzielle Einwand wäre der etwas kurze Theorieapparat. So wird in „Imperiale Grenzräume“ weder das Phänomen Grenze, noch das für Deutsch-Südwestafrika hochrelevante Konzept des Siedlerimperialismus3 theoretisch etabliert und Lerp liefert auch keine wissenschaftliche Definition ihres zentralen (und sehr komplexen) Gegenstands Bevölkerungspolitik. Dabei ist Bevölkerungspolitik immer auch Biopolitik. Und gerade hier wäre eine Analyse der „großen Wissens- und Machtstrategien“ im Foucaultschen Sinne, die „die sorgfältige Verwaltung der Körper“ und die „rechnerische Planung des Lebens“ – die „Disziplinen des Körpers“ und die „Regulierung der Bevölkerungen“ – durch eine vielleicht sogar kolonial etablierte „Bio-Macht“ beforscht, geeignet gewesen, das in den imperialen Grenzräumen sich entfaltende „Siedlungsempire“ biopolitisch zu theoretisieren.4

Insgesamt ist „Imperiale Grenzräume“ eine äußerst innovative und anspruchsvolle Studie, der es gelingt, in etablierte Lesarten zu intervenieren und die viel für das Verständnis biopolitischer Topographien in den Frontiers des Reiches leistet. Dabei verweist Lerp auch auf wichtige Differenzen zwischen den Vergleichseinheiten, etwa die größere Bedeutung des Rassismus im strenger segregierten Deutsch-Südwestafrika. Zugleich gelingt es Lerp mustergültig, biologistische Bevölkerungspolitiken (post-)kolonial zu kontextualisieren. So kann die Studie tatsächlich vielfältige Anstöße für die Debatten zum „Verhältnis von imperialer und nationalsozialistischer Expansions- und Bevölkerungspolitik“ (S. 342) liefern, die, wie der Generalplan Ost, das leise bevölkerungspolitische Verschwinden von Millionen vorsahen.

Anmerkungen:
1 Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), S. 30–50, hier S. 31.
2 Zu den biopolitischen Kontinuitätslinien vom kolonialen Deutsch-Südwestafrika zur deutschen Bestatzungspolitik in Polen während des Zweiten Weltkriegs siehe: Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Warschau. Die rassische Privilegiengesellschaft in Deutsch-Südwestafrika, ein Modell mit Zukunft?, in: Frank Becker (Hrsg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004, S. 97–123, bes. S. 121–123.
3 Norbert Finzsch, „The aborigines… were never annihilated, and still they are becoming extinct“. Settler Imperialism and Genocide in Nineteenth-century America and Australia, in: A. Dirk Moses (Hrsg.), Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008, S. 253–270, bes. S. 255–257.
4 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1986, S. 128, 167 und 166.