W. Kaiser u.a. (Hrsg.): Writing Rules for Europe

Titel
Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels, and International Organizations


Autor(en)
Kaiser, Wolfram; Schot, Johan
Reihe
Making Europe
Erschienen
New York 2014: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XX, 396 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Historisches Seminar, Universität Siegen

Historiker, die vom kurzen 20. Jahrhundert sprechen und dabei die politischen Zäsuren 1914/18 und 1989/90 im Hinterkopf haben, werden in diesem Band mit einer völlig neuen Perspektive konfrontiert: das 20. Jahrhundert war lang und es begann circa 1850. Dies gilt zumindest, wenn man sich auf den spezifischen Blickwinkel von Wolfram Kaiser und Johan Schot einlässt. Mit einer bestechenden Konsequenz erzählen sie die Geschichte Europas als eine von internationaler Technik und Technokratie beeinflusste. Moderne großtechnische Infrastruktursysteme wie die Eisenbahn, die Telegraphie und andere – so das Argument – transformierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Beziehungen und Vernetzungen der Staaten Europas untereinander. Technik wird dabei nicht alleine auf ihre materielle Dimension in Form von Apparaten, Leitungen et cetera reduziert, sondern eingebettet in ihre institutionelle und ideelle Dimension. Technik ist weder losgelöst von nationalen und internationalen Regulierungen und Standards zu betrachten noch von den Idealen, Vorstellungen und ordnungspolitischen Leitbildern, welche die Ausgestaltung des technologisch gedachten ‚langen 20. Jahrhunderts‘ prägten. Indem die Autoren die Europäische Integration – wie andere Autoren vor ihnen auch1 – in langfristige Entwicklungszusammenhänge einordnen, schreiben sie auch gegen das von der Europäischen Kommission gepflegte ‚offizielle‘ EU-Narrativ einer Europäischen Integrationsgeschichte an, die nach 1945 begann und im Wesentlichen auf Gründungsväter wie Jean Monnet zurückzuführen ist.

Der Band „Writing the Rules for Europe“ ist Teil einer insgesamt sechsbändigen Reihe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die „hidden integration of Europe“2 stärker zu beleuchten, das heißt eine Integration Europas, die sich jenseits der öffentlichen Wahrnehmung und lange Zeit jenseits der historischen Forschung zur ‚Europäischen Integrationsgeschichte‘ vollzog. Genau diesem Vorhaben haben sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts vielfältige, vor allem technikhistorisch inspirierte Arbeiten im Kontext des Forschungsnetzwerks „Tensions of Europe“3 gewidmet. Eine der großen Stärken des hier zu diskutierenden Bandes liegt in der systematischen Auswertung und konsequenten Verschmelzung dieser Arbeiten in einem kohärenten Gesamtbild, um so ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Es ist dem Band anzumerken, dass er als Ergebnis intensiv geführter Diskussionen und breit gestreuter Archivarbeit entstanden ist. Sicherlich könnte man kritisieren, dass das Buch eher deskriptiv denn analytisch ausfällt und theoretische Interpretationsangebote weitgehend außen vor gelassen werden. Allerdings würde man damit der Intention der Autoren nicht gerecht. Im Gegenteil, es gilt positiv hervorzuheben, dass eher ‚trocken‘ anmutende Themen wie Technik und Technokratie in einer gut verständlichen Sprache und mit ansprechender Illustration präsentiert werden. Beiden Autoren gelingt es ihre jeweilige technik- bzw. politikhistorische Expertise so zu verbinden, dass das Buch in seiner Form tatsächlich dazu geeignet ist, „the widest possible audience“ zu erreichen.

Inhaltlich rücken die Autoren das von Vincent Lagendijk und Johan Schot erstmals im Jahr 2008 lancierte Konzept des ‚technocratic internationalism‘4 in den Mittelpunkt. Demzufolge hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der zwischenstaatlichen Regulierung und Standardisierung von grenzüberschreitenden Infrastruktursystemen ein spezifisches Muster der Problembehandlung durch technische Experten herauskristallisiert. In internationalen Organisationen wie der Internationalen Telegraphen Union, dem Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen oder dem Weltpostverein entkoppelten Experten Fragen der Gestaltung grenzüberschreitender Verbindungen immer mehr von politischen Überlegungen. Technisch-wissenschaftliche Rationalität erhob sich zum Leitideal einer immer enger verwobenen transnationalen Gemeinschaft von Experten. Indem die Politik der Expertengemeinschaft bei der internationalen Netzgestaltung zunehmend autonome Gestaltungsspielräume ließ, traten politische Kalküle in den Hintergrund. Die Grundideen des ‚technocratic internationalism‘ wurden allmählich auf neue Politikbereiche übertragen und in Europäischen Organisationen implementiert. Der im EU Gründungsmythos hoch gehaltene ‚Gründungsvater‘ Jean Monnet wird in dieser Perspektive zu einem ‚technokratischen Internationalist‘, dessen Grundüberzeugungen historisch gewachsen und vor dem zeithistorischen Kontext der Nachkriegszeit implementiert wurden. Letztlich historisieren Kaiser und Schot mit dieser Argumentation auch das vielbeklagte Missverhältnis von Technokratie und Demokratie im institutionellen Design der Europäischen Union.

Der Band untergliedert sich insgesamt in acht Kapitel, von denen die ersten drei einen Überblick über die Genese internationaler Organisationen und Komitees sowie die darin tätigen Akteure geben. In Kapitel 1 wird zunächst der Entstehungskontext des ‚technokratischen Internationalismus‘ in der Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert. Kapitel 2 diskutiert die zunehmenden Spannungen zwischen Staaten und Experten. Versuchten die nationalen Regierungen vor den Hintergrund eines immer kompetitiveren Nationalismus ihren Einfluss auf die grenzüberschreitende Gestaltung von Netzen auszudehnen, so versuchten die Experten ihre zuvor erworbene Autonomie zu verteidigen. Insbesondere für den Völkerbund zeigen die Autoren, wie sehr dieser in seinen Arbeitsweisen in die Tradition der technokratischen Internationalisten eingebettet war. Im dritten Kapitel behandeln die Autoren dann die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Kapiteln 4 bis 7 werden eingehendere Untersuchungen für die Bereiche der Eisenbahnen und der Schwerindustrie vorgenommen. Beide Sektoren sind gut gewählt, nehmen sie doch zum einen eine prominente Rolle für die Genese grenzüberschreitender Zusammenarbeit in Europa ein und sind zum anderen aufgrund enormer Vorwärts- und Rückwärtskopplungseffekte entscheidend für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas – zumindest bis in die 1970er-Jahre. Im abschließenden achten Kapitel fassen die Autoren ihre Argumentation zusammen und interpretieren die Governance-Strukturen der EU – insbesondere das Spannungsfeld von Technokratie und Demokratie – vor dem Hintergrund langfristiger historischer Entwicklungsmuster. So hoffen sie einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über das Für und Wider der Regierungsform der EU leisten zu können.

Trotz aller positiven Worte über ein gewinnbringend zu lesendes Buch möchte der Rezensent dem Leser einige durchaus kritische Fragen und Anregungen für die Lektüre mitgeben. (1) Erstens stellt sich die Frage, ob der ‚technokratische Internationalismus‘ mitunter wie ein ‚catch all‘-Konzept daherkommt. Private Stahlunternehmen, nationale Monopolisten im Eisenbahnsektor oder auch die großen Telekommunikationsunternehmen unter einem einheitlichen Konzept zu subsumieren, wirkt sehr offen, zumal ‚technische Expertise‘ sich während des Untersuchungszeitraums enorm ausdifferenzierte. (2) Zweitens lässt sich fragen, ob wirtschaftliche Kalkulationen nicht zu sehr in den Hintergrund gedrängt werden, um ein Bild technischer Experten zu zeichnen, die einer rein technischen Rationalität folgend für transnationale Standards votierten. Immerhin waren nicht selten nationale Monopolunternehmen im Bereich der Infrastrukturen aufs engste mit der nationalen Geräteindustrie verflochten. Wieso gestalteten ‚technokratische Internationalisten‘ grenzüberschreitende Netze, so dass auf ihnen zwar grenzüberschreitender Verkehr und Kommunikation möglich waren (Interkonnektivität), dass aber gleichzeitig Inkompatibilitäten bewusst erzeugt wurden, um nationale Märkte für Endgeräte, Waggons et cetera voneinander abgrenzten? (3) Drittens hätte der Band die ‚critical junctures‘ deutlicher hervorheben können, in denen der ‚technocratic internationalism‘ auf alternative Vorstellungen politischer Gestaltung trifft. Hätten nicht die 1960er-Jahre und die 1980er-Jahre mit Blick auf das Thema des Bands eingehender betrachtet werden sollen? Stichworte sind hier die frühe Verkehrs- und Telekommunikationspolitik der EWG (1960er-Jahre) und die EG-Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen im Verkehr bzw. das Grünbuch Europäische Telekommunikationsmärkte (beide 1987).

Insgesamt kann der Rezensent den sehr innovativen und inhaltlich gehaltvollen Band dennoch uneingeschränkt zum Lesen empfehlen. Insbesondere zeigt er auf beeindruckende Weise, welchen Mehrwert an Erkenntnis das Aufbrechen fachdisziplinär beschränkter Perspektiven liefern kann. Sehr gewinnbringend empfand der Rezensent auch den stark biografischen Ansatz. Nach der Lektüre des Bandes ist ‚Europäische Integration‘ ohne Technik und Technokratie nicht mehr erklärbar.

Anmerkungen:
1 Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Köln 2010.
2 Thomas J. Misa / Johan Schot, Inventing Europe: Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History and Technology, 23 (2005), S. 1–19.
3 Mehr Informationen unter: <http://www.tensionsofeurope.eu/> (05.07.2016)
4 Vincent Lagendijk / Johan Schot, Technocratic Internationalism in the Interwar Years: Building Europe on Motorways and Electricity Networks, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 196–217.

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