Titel
Der Traum vom Frieden – Utopie oder Realität?. Kriegs- und Friedensdiskurse aus historischer, politologischer und juristischer Perspektive (1914–2014)


Herausgeber
Dácz, Eniko; Griessler, Christina; Kovács, Henriett
Reihe
Andrassy Studien Zur Europaforschung 15
Erschienen
Baden-Baden 2016: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Titel und Untertitel des Bandes lassen einen spannenden Sammelband erwarten, nämlich eine grundsätzliche Reflexion über Krieg und Frieden in einem ganzen Jahrhundert – und dann noch in der Perspektive mehrerer Fächer, die sich hoffentlich gegenseitig anregen. Schlägt man das Buch auf, findet sich über weite Strecken Anderes und sehr viel Bescheideneres: Die Budapester Andrássy-Universität veranstaltete zum 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges eine Tagung, von der 15 Vorträge jetzt hier mit wissenschaftlichen Anmerkungen versehen und untereinander unverbunden vorgelegt werden. Vieles ist ganz punktuell, nur die letzten Beiträge suchen aus Sozialwissenschaften und Völkerrecht die erhofften großflächigen Schneisen zu schlagen; darauf ist zurückzukommen.

Die drei Herausgeberinnen betonen einleitend das Interesse des Bandes an ideengeschichtlichen und politischen Entwicklungen und meinen, es sei Anfang des 20. Jahrhunderts „für weite Teile der Bevölkerung fast unvorstellbar (gewesen), dass jemals wieder ein bewaffneter Konflikt größeren Ausmaßes ausbrechen würde“ (S. 14). Da fragt man sich, in welcher wissenschaftlichen Welt sie leben und findet sogar in den nachfolgenden empirischen Beiträgen einiges an Kriegsdenken und -bereitschaft, die diese naive Aussage widerlegen.

Etwa die Hälfte der Beiträge ist Friedens- bzw. Kriegsdenken vor und im Ersten Weltkrieg gewidmet. Tomasz Schramm, renommierter polnischer Historiker, stellt weitgehend kontextlos die beiden Friedensdenker Jan Bloch und Norman Angell vor und schließt mit der Bloch-Biographie eines polnischen Landsmanns, sie hätten keinen Erfolg gehabt. Juliane Brandt analysiert zwei deutschsprachige evangelische Blätter aus der Donaumonarchie in Langzeitperspektive, österreichische und ungarische Parlamentarier sind das Thema von Hannes Leidinger. Henriett Kovács bietet, auf ihre ungedruckte Dissertation gestützt, informative Zitate der ungarischen Friedensbewegung vor und im Weltkrieg. In ähnliche Gefilde begibt sich Katalin Helmich, wenn sie über das Experiment einer ungarischen Friedensschule zwischen den Weltkriegen referiert. Zwei recht verschiedene Kulturmagazine aus Ungarn und Italien weisen einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf (Marmiroli) und schließlich legt Enrikö Dácz Äußerungen (Siebenbürger) sächsischer Abgeordneter aus dem Krieg vor. Zusammenfassend: die Beiträge sind quellengesättigt, aber kaum reflektiert.

Dóra Freys Aufsatz zu den Verträgen von London und Bukarest, bei denen es um den italienischen bzw. rumänischen Kriegseintritt 1915/16 ging und in denen sich die beiden Staaten von der Entente viel an Gebietserwerb versprechen ließen und letztlich weniger bekamen, liefert keine neuen Erkenntnisse. Nützlich dagegen ist Maria Zmierczaks Aufsatz, der die Völkerbundsatzung von 1919 mit ihrer Vorgeschichte bis ins 19. Jahrhundert in Beziehung setzt und einen Ausblick auf weitere Entwicklungen bis zur UN liefert – und damit gute politische Bildung im klassischen Sinne liefert. Ähnliches lässt sich zu Anita Szücs berichten, die Kants „Zum ewigen Frieden“ von 1795 behutsam referiert und schlussfolgert, dieser sei in der Gegenwart wichtiger denn je.

Christina Griessler hält Woodrow Wilson für einen idealistischen Politiker, wie es in der Tat zuvor einige Historiker getan haben, die aber gründlicher über die Umsetzung dieser Haltung nachgedacht haben. Ungarn im Völkerbund (Miklós Zeidler) ist hierorts weniger bekannt; eine klarere Verrechnung mit dessen Revisionismus wäre angebracht gewesen. Auf derselben Ebene bewegt sich Árpád Hornyák, wenn er die kurzlebige, nur zwischen 1934 und 1939 existierende Balkanentente zum Thema macht. Nur indem er im Titel die Frage nach einem „(Friedens-)Bündnis“ stellt, passt er sich dem Rahmen des Bandes an.

Ein ganz anderes Niveau haben zwei der drei abschließenden Beiträge (Szücs wurde bereits referiert): Tamas Hoffmann skizziert durch die Völkerrechtsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert hindurch drei Elemente zur Universalität des humanitären Völkerrechts: den langsamen und nicht voll durchgesetzten Fortschritt durch die generelle Teilhabe aller am Recht (Martenssche Klausel von 1899 und die Folgen), die Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten und die Frage von Aufständen (insurgency) und Kriegführung. In der Gegenwart sei man dazu gekommen, dass humanitäres Völkerrecht absolut und nicht mehr allein auf der Basis von Gegenseitigkeit gelte. Schließlich erarbeitet Zoltán Tibor Pállinger einen ideengeschichtlichen Überblick über Kosmopolitismus von der griechisch-römischen Antike über Kant und Wilson bis in die Gegenwart. Gewiss stützt er sich gerade für Letzteres auf einen relevanten Überblick von Robert Fine1, um den moralischen bzw. politischen Kosmopolitismus in einem Spannungsverhältnis zu entfalten, entwickelt seine Gedanken aber dennoch eigenständig.

Was bei Pállinger und Hoffmann auffällt, ist die Kenntnis heutiger internationaler Diskurse und Forschungen, in der beide Autoren jeweils Akzente setzen. Im übrigen Band herrscht neben der verdienstvollen Quellenerschließung ein auffälliger Mangel an Information über internationale Debatten zu ihren Themen – beispielsweise hat nur ein Autor die Online-Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg benutzt.1 Es ist bedauerlich, wenn internationale Themen für die Zeit zwischen den Weltkriegen behandelt werden, ohne dass dabei grundlegende Werke wie die von Gerhard Weinberg oder Zara Steiner ausgewertet werden2, oder womöglich gar nicht erst wahrgenommen wurden. Ein Autor zitiert Friedrich Engels nach einem englischsprachigen Aufsatz von Stig Förster, ein anderer hält das Wort von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ für ein Diktum Thomas Manns – dem Rezensenten wäre zumindest neu, dass sich George Kennan bei dem deutschen Dichter bediente.

Angesichts des Umstands, dass einzelne Beiträge sich vorwiegend auf veraltete Untersuchungen beziehen, kann es nicht verwundern, dass die gelegentlichen Schlussfolgerungen über das engere Thema hinaus zu Schrotschüssen in eine unbekannte Forschungslandschaft verkommen. Vielleicht leben wir ja immer noch auf einem Kontinent der nachholenden Modernisierung in weiten Teilen der ehemals „sozialistischen Staaten“. Eine möglicherweise anregende Tagung fällt in Buchform durch die Versammlung beliebiger sektoraler Beiträge auseinander.

Anmerkungen:
1 Robert Fine, Cosmopolitism. Key Ideas, New York 2007.
2 Siehe 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, <http://www.1914-1918-online.net/> (24.4.2016). Die Website existiert seit 2011, die ersten Artikel erschienen 2014.
[3] Gerhard L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler’s Germany 1933–1939, 2 Bde., Chicago 1970/80; Zara Steiner, The Lights that Failed. European International History 1919–1933, Oxford 2005; dies., The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939, Oxford 2011.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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