T. Eitz u.a.: Diskursgeschichte der Weimarer Republik

: Diskursgeschichte der Weimarer Republik. Bd. 1. Hildesheim 2015 : Georg Olms Verlag, ISBN 978-3-487-15188-5 IX, 526 S. € 34,00

: Diskursgeschichte der Weimarer Republik. Bd. 2. Hildesheim 2015 : Georg Olms Verlag, ISBN 978-3-487-15189-2 IX, 416 S. € 34,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caroline Rothauge, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Das Jahr 2018 steht vor der Tür und somit das Gedenken nicht nur an das Ende des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren, sondern auch an die Ausrufung der Republik in Deutschland am 9. November 1918. Es bleibt abzuwarten, welche Deutungen der ersten deutschen Demokratie in der öffentlichen Debatte überwiegen werden. In der Geschichtswissenschaft jedenfalls gab Detlev Peukerts Studie zu den „Krisenjahren der Klassischen Moderne“ aus dem Jahr 1987 den entscheidenden Anstoß dafür, die Zeit zwischen 1918 und 1933 als eine historische Phase zu betrachten, die nicht allein Vorgeschichte des Nationalsozialismus ist, sondern für sich steht.1 Auch das vorliegende zweibändige Werk „Diskursgeschichte der Weimarer Republik“, das überwiegend von den Germanist/innen Thorsten Eitz und Isabelle Engelhardt verfasst worden ist, will die Weimarer Republik „als eigenständige […] Periode“ (I S. 10) betrachten. Dies sei in der sprachwissenschaftlichen Forschung nach wie vor unüblich, die sich mehrheitlich auf die Kontinuitäten im Nationalsozialismus konzentriere.2 Mit ihrer Publikation zielen Eitz und Engelhardt hingegen darauf ab, „die bisher nicht aufgearbeitete Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs bzw. der öffentlichen Diskurse der ersten deutschen Republik nachzuzeichnen, d. h. eine zeitlich und thematisch möglichst umfassende Diskursgeschichte der Weimarer Republik zu rekonstruieren, die die unterschiedlichen sprachlichen Phänomene in ihrem komplexen Zusammenwirken mit zeitgeschichtlichen Entwicklungen darstellt“ (I S. 25).

Entstanden ist die Publikation aus einem DFG-Projekt an den Universitäten Düsseldorf und Trier, an dem neben Sprachwissenschaftler/innen der Einleitung zufolge auch eine Historikerin beteiligt gewesen ist. Die Forschungstradition, die das Werk fortschreibt, ist die der „Düsseldorfer Schule“. Ihr Begründer, der Germanist Georg Stötzel, skizziert in einem Vorwort deren Erkenntnisinteresse: Im Fokus stünden vor allem „semantische[…] Kämpfe[…]“, in denen „sich das Verfahren der Sprache erkennen [lässt], Wirklichkeit herzustellen“ (I S. 1). Diesem Ansatz entsprechend dokumentieren die zwei Bände in unterschiedlich langen Kapiteln anhand zahlreicher Zitate Verläufe bestimmter „Diskurse“, die die Verfasser/innen für die Zeit der Weimarer Republik über ihre Arbeit am Material ausgemacht haben. So liegen „Themenkapitel“ (I S. 28) vor zu den Debatten rund um die Reichsflagge, die politische Staatsform, Militarisierung und Reichswehr, wirtschafts- und sozialpolitische Themen sowie die Europapolitik. Die darauffolgenden Kapitel widmen sich den Kontroversen rund um die Rolle der Frau, dem Antisemitismus, dem „Abtreibungsparagraphen“ 218, der Ehe und der Strafbarkeit von Homosexualität, den Auseinandersetzungen rund um „Schmutz und Schund“ in Film und Literatur sowie abschließend dem Schul- und Bildungswesen.

Die Autor/innen betonen in ihrer Einleitung – in Anlehnung an den namhaften Sprachhistoriker Peter von Polenz, einem akademischen Lehrer Stötzels –, dass die Sprache der Nationalsozialisten die deutsche Bevölkerung nicht etwa als etwas Unbekanntes überrollte oder gar verführt habe. Vielmehr hätten die Nationalsozialisten Begriffe aus anderen Kontexten übernommen und mit spezifischen Konnotationen versehen. Für die Weimarer Jahre unterstreichen die sprachgeschichtlichen Untersuchungen des Bandes, wie zersplittert die Gesellschaft jener Zeit war: Dies schlägt sich, so die Verfasser/innen, anschaulich in dem „vielfältigen heterogenen, häufig konfligierenden Sprachgebrauch“ (I S. 17) nieder bzw. konstituiert diesen erst. In diesem Sinne sei eine Vielzahl von Ausdrücken – zum Beispiel „Pazifismus“, „Jude“ oder „Homosexuelle“ – zur Zeit der Weimarer Republik „ideologisch polysem“ (I S. 209, II S. 52 oder II S. 239) geworden, was „zu multiplen Bedeutungskonkurrenzen“ (I S. 35) geführt habe. Gleichzeitig sei dieser hochgradig differenzierte Sprachgebrauch jedoch als Indiz „für die demokratische Qualität der damaligen Diskurse“ (I S. 28) zu werten.

Das zweibändige Werk überlässt es weitgehend dem Leser/der Leserin, übergreifende Schlussfolgerungen zu ziehen. So fehlt ein Resümee am Ende der Publikation, und auch die Kapitel sind nicht immer durch ein Zwischenfazit abgerundet. Da es zudem keinerlei Bezüge oder Übergänge zwischen den Kapiteln gibt, stehen die einzelnen Debatten lediglich nebeneinander. Auch welche Überlegungen zur Abfolge der nicht durchnummerierten Kapitel führten, wird nicht erläutert. Deshalb erschließt sich beispielsweise nicht, warum die umfangreiche Betrachtung zum Thema Antisemitismus – die im Übrigen als einzige von zwei anderen, nicht näher vorgestellten Germanist/innen, Lisa Konietzni und Christian Kreuz, verfasst worden ist – zwischen das Kapitel zur Rolle der Frau und das zum „Abtreibungsparagraphen“ geschoben wurde.

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hätte es an einer stärker übergreifenden Einbettung der einzelnen Zitate wie auch der Debattenverläufe in größere Zusammenhänge bedurft, die über die Nennung einschlägiger Personen, Gesetze und Ereignisse als einem politikgeschichtlichen Grundgerüst hinausgeht. So enthalten viele Zitate Verweise auf anderweitige Kontroversen, zum Beispiel über die Kriegsschuldfrage, die Justiz oder eine vermeintliche Amerikanisierung, die jedoch weder in Form kontextualisierender Aussagen noch als eigenständige Kapitel berücksichtigt werden. Entsprechend vermisst der Historiker/die Historikerin einige Themenbereiche, die er/sie für die Zeit der Weimarer Republik als zentral erachten würde – so etwa der zeitgenössische Sprachgebrauch rund um den „Krisen“-Begriff.3 Dieser wird von den Verfasser/innen hingegen offenbar weiterhin rein „sozial- und wirtschaftspolitisch[…]“ (I S. 30) verstanden. Problematisch ist zudem, dass die Ausführungen der Autor/innen mitunter auf Behauptungen aus Quellentexten aufzubauen scheinen. So wird beispielsweise in der Einleitung eine zeitgenössische Einschätzung aus dem „Politische[n] Handwörterbuch“ zur Rolle der Presse als Beleg angeführt (vgl. I S. 24), ohne diese mithilfe aktueller Forschungsliteratur zu hinterfragen. An anderer Stelle dient eine 1924 vom Reichstagsabgeordneten Paul Luther (DVP) verfasste „Denkschrift“ dazu, die Entstehung einer „Personalabbauverordnung“ (I S. 397) vom Oktober 1923 zu erklären.

Der „interdisziplinäre[n] Herangehensweise“ (I S. 9) zum Trotz wird kaum eine der verwendeten sprachwissenschaftlichen Analysekategorien – wie zum Beispiel „Fahnenwort“, „semantische Strategien“, „Schlüsselbegriffe“ usw. – definiert. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet das „Schlagwort“ zwar freilich auch Verwendung, und was mit „Stigmavokabeln“ in den jeweiligen ideologischen Kontexten der Weimarer Republik gemeint sein könnte, lässt sich ebenfalls erahnen. Dennoch wäre es für fachfremde Leser/innen hilfreich zu erfahren, was genau sich dahinter verbirgt – oder eben nicht. Letzteres bezieht sich auch auf den verwendeten Diskursbegriff: Wie sich erst beim Lesen erschließt, sind mit „Diskursen“ hier primär sprachliche Äußerungen gemeint, während Praktiken weitgehend außen vor bleiben. Da dies nicht dem in den Geisteswissenschaften verbreiteten, Foucault entlehnten Verständnis entspricht, irritiert, dass die Autor/innen – zumal mit ihrer sprachwissenschaftlichen Expertise – darauf verzichten, ihren Diskursbegriff und dessen Verwendung zu klären.

Positiv hervorzuheben an dem zweibändigen Werk ist die Fülle des recherchierten und aufbereiteten Materials. Hierüber erfüllen die Autor/innen ihr Ziel, eine – zweifellos (hilf-)reiche – Dokumentation unterschiedlicher Quellen zum jeweiligen Thema zu liefern. Zwar überrascht die grundsätzliche Erkenntnis eines zu Zeiten der Weimarer Republik disparaten öffentlichen Sprachgebrauchs nicht, doch ist den Verfasser/innen zugute zu halten, dass sie diesen anschaulich nachweisen. Im Zuge dessen arbeiten sie zentrale Topoi, Metaphern und Kollokationen heraus, die genuin in der Weimarer Republik zu verortende Debatten betreffen. Dabei werden auch Bezüge zur DDR und BRD nach 1945 angedeutet. Genau hier, bei den Arten und Weisen, wie einzelne Begriffsverwendungen und Debatten(-verläufe) sich historisch wandelten – oder auch nicht –, können weitere sprach- und geschichtswissenschaftliche Forschungen ansetzen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Zu Peukerts Werk vgl. auch Rüdiger Hachtmann / Sven Reichardt (Hrsg.), Detlev Peukert und die NS-Forschung, Göttingen 2015.
2 Vor kurzem sind allerdings zwei Publikationen erschienen, die den öffentlichen Sprachgebrauch in der Frühphase der Weimarer Republik untersuchen: Heidrun Kämper / Peter Haslinger / Thomas Raithel (Hrsg.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik, Berlin 2014 und Melanie Seidenglanz, Wer hat uns verraten? Zur sprachlichen Konstruktion des Verratsdiskurses im linken Parteienspektrum der frühen Weimarer Republik, Bremen 2014. Hinzu kommen zwei aktuelle Studien, die sich dezidiert auf die Verwendung von Sprache zwischen 1918 und 1933 und hier auf einen bestimmten Aspekt konzentriert haben: Susanne Wein, Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2014 und Milan Horňáček, Politik der Sprache in der „konservativen Revolution“, Dresden 2014.
3 Seit Peukerts Studie hat sich für die Geschichtswissenschaft die Frage nach dem Begriff der „Krise“ als einer der produktivsten Zugänge erwiesen, um die Zeit der Weimarer Republik zu erforschen. Vgl. Christoph Thonfeld, Krisenjahre revisited. Die Weimarer Republik und die Klassische Moderne in der gegenwärtigen Forschung, in: Historische Zeitschrift 302 (2016), S. 390–420, hier S. 391–403, dort weitere Literatur.

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