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Titel
Capitalism. The Reemergence of a Historical Concept


Herausgeber
Kocka, Jürgen; van der Linden, Marcel
Erschienen
London 2016: Bloomsbury
Anzahl Seiten
IX, 281 S.
Preis
$ 114.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lea Haller, Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich

Das Wirtschaftsleben unterliegt, wie wir seit dem Aufkommen von Konjunkturtheorien wissen, einem zyklischen Auf und Ab. Dasselbe gilt für historische Themen und Begriffe. Ein Begriff erlebt seit einigen Jahren eine steile Karriere: der Kapitalismus. Ältere Studien zur kapitalistischen Wirtschaft wie Karl Polanyis „The Great Transformation“ (1944) oder Fernand Braudels dreibändiges Werk „Civilisation matérielle, économie et capitalisme“ (1979) erleben zur Zeit ein Revival.1 Und neuere Untersuchungen wie Sven Beckerts „Empire of Cotton“ oder Thomas Pickettys monumentales, statistikbasiertes Werk „Capital in the Twenty-first Century“ erfahren eine Aufmerksamkeit, wie das noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.2

Seit der Zwischenkriegszeit debattieren Wirtschaftswissenschaftler darüber, ob die Auslöser für Konjunkturschwankungen eher endogen oder exogen seien. Überträgt man die Frage auf die Kapitalismuskonjunktur in der Geschichte, lassen sich sowohl endogene Trends als auch exogene Katalysatoren feststellen. Nach den kulturwissenschaftlichen, auf die Konstruktion von Differenz fokussierten Studien, die die Jahrtausendwende dominiert hatten, wagte man sich wieder an die einst verpönten grands récits und an wirtschaftshistorische Themen. Der Kapitalismus-Begriff, der nach dem Ende des Kalten Kriegs seinen polemischen Charakter verloren hatte, anerbot sich als heuristisches Instrument. Und die Finanzkrise von 2008 katapultierte diese Forschung ins Zentrum des öffentlichen Interesses. „Socialism has failed. Now capitalism is bankrupt“, diagnostizierte Eric Hobsbawm im April 2009.3 Fragt sich bloß: Was ist der Kapitalismus? Wie kann man den Begriff für die Geschichtswissenschaft fruchtbar machen? Und wie lässt sich die Persistenz des bankrottresistenten Kapitalismus erklären, ohne dass man wirtschaftliches Handeln in anthropologischen Konstanten naturalisiert?

Jürgen Kocka und Marcel van der Linden haben zwei Handvoll Spezialisten zusammengebracht, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Herausgekommen ist ein Sammelband, in dem der schillernde Kapitalismusbegriff auf vielfältige Weise historisiert und konkretisiert wird. Kocka hält in der Einleitung fest, dass der Kapitalismus immer ein Differenzkonzept gewesen sei: Man grenze damit eine moderne Gegenwart von einer traditionellen Vergangenheit oder einer utopischen Zukunft ab. Als Arbeitsdefinition nennt er drei Merkmale: Erstens verfügten Akteure in einer kapitalistischen Welt über Rechte, die sie befähigten, ökonomische Entscheide autonom und dezentralisiert zu treffen. Zweitens finde eine Kommodifizierung von Ressourcen, Produkten und Arbeit statt (größtenteils in Form von vertraglicher, „freier“ Arbeit gegen Lohn, aber nicht ausschliesslich). Drittens sei Kapital zentral für die kapitalistische Wirtschaft, also das Investieren von Ersparnissen und Erträgen zwecks höherer Gewinne in der Zukunft. Das sei eine idealisierte Definition, wie Kocka einräumt. Der Kapitalismus veränderte sich über die Zeit und expandierte in immer neue geografische und soziale Bereiche. Wichtig bleibt festzuhalten: Er ist nicht nur ein ökonomisches Konzept. Er beinhaltet immer auch die soziale, kulturelle und politische „Einbettung“ wirtschaftlichen Handelns. Gerade das dürfte den Begriff für Historiker so attraktiv machen.

Youssef Cassis argumentiert in seinem Beitrag zu ökonomischen und finanziellen Krisen ganz in diesem Sinn. Die Geschichte wirtschaftlicher Krisen sei zwar eine hinreichend technische Angelegenheit. Man müsse etwas von den ökonomischen Mechanismen verstehen, die ihnen zugrunde liegen. Die Wirtschaftsgeschichte laufe allerdings Gefahr, historische Unterschiede und die soziopolitischen Umstände, innerhalb derer solche Krisen stattfinden, zu vernachlässigen. Der Kapitalismusbegriff könne hier den Blick erweitern, auch wenn seine Definition im Übrigen einfach die Hauptcharakteristika moderner Wirtschaft und Gesellschaft beschreibe. Versteht man wirtschaftliche Krisen als gesellschaftliche Krisen, wird automatisch auch der Kapitalismusbegriff weniger reduktionistisch.

Andrea Komlosy verwendet in ihrem Beitrag zur Arbeit und zu den Arbeitsverhältnissen einen emphatischeren Kapitalismusbegriff. Sie versteht den Kapitalismus als globales System, das auf der Inklusion und der Interaktion verschiedener Regionen mit unterschiedlicher Spezialisierung und unterschiedlichen Arbeitsregimes basiert. Lohnarbeit sei in der arbeitsteiligen kapitalistischen Wirtschaft nicht die hauptsächliche Arbeitsform; unbezahlte Arbeit und Subsistenzwirtschaft trügen indirekt zur kapitalistischen Akkumulation bei. In einem – leider etwas gar unstrukturierten, redundanten und von zahlreichen Aufzählungen durchbrochenen – Überblick diskutiert Komlosy dann zahlreiche historiographische Deutungsangebote kapitalistischer Arbeitsverhältnisse. Zentral bleibt für sie die Frage nach dem Wert von Arbeit. Um Arbeiter als Akteure und als Subjekte globaler Konkurrenzverhältnisse zu verstehen, müsse man Arbeitsverhältnisse, die zuhanden kapitalistischer Arbeitgeber Mehrwert generieren, in ihren vielfältigen Erscheinungsformen untersuchen.

Victoria de Grazia trägt in ihrem Beitrag zum „Hyper-Consumerism“ dem Umstand Rechnung, dass Menschen nicht nur arbeiten, sondern auch konsumieren. Während Adam Smith den Konsum noch als selbstverständliches und somit vernachlässigbares Ziel der Produktion von Gütern ansah, und auch Marx auf die Produktion, nicht auf den Konsum fixiert war, haben Werner Sombart, Max Weber und Thorstein Veblen als erste darauf hingewiesen, dass Konsum auch etwas mit sozialem Status und sozialen Hierarchien zu tun hat. Menschen definieren sich über ihren Konsum und verändern mit ihm wiederum die gesellschaftlichen Bezugssysteme. Das zeigt de Grazia exemplarisch am Aufstieg und Niedergang des italienischen Modelabels Benetton.

Patrick Fridenson untersucht Kapitalismus-Konjunkturen in der Unternehmensgeschichte, einem Forschungsbereich, der prädestiniert scheint für den Begriff, und der doch ein höchst distanziertes und wechselhaftes Verhältnis zu ihm hatte. Fridensons Diskussion der Forschungsliteratur der letzten 100 Jahre ist höchst lesenswert. Unternehmenshistoriker hätten gelernt, zwischen einem Unternehmergeist, der bis in die Antike zurückgehe, und dem Kapitalismus zu differenzieren. Der Kapitalismus könne immer und überall auch vorkapitalistische Organisationsformen umfassen. Der Mehrwert des Kapitalismusbegriffs liegt auch hier in einem erweiterten Fokus: Statt einzelne Unternehmen oder Unternehmensnetzwerke zu untersuchen, rücke er das kapitalistische Milieu in den Blick.

Harold James widmet sich dem Finanzkapitalismus, wobei er das Finanzwesen als Form von Camouflage bezeichnet. Finanzinstitutionen bedingten einen Organisationsgrad, der Marktprozesse verschleiere. Der Begriff „Finanzkapitalismus“ hatte immer während Globalisierungsphasen Konjunktur – zuerst im ausgehenden 19. Jahrhundert, dann wieder im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Korrelation liegt die Annahme zugrunde, dass der Kapitalismus finanzgetrieben sei, und dass die Geldwirtschaft besonders ungehindert spiele, wenn sie nationale Grenzen überschreite. Wenn Unternehmer im 19. Jahrhundert despektierlich von „Kapitalisten“ sprachen, dann meinten sie damit die Vertreter von Banken und Aktiengesellschaften.

Andreas Eckert widmet sich Afrika, dem Kontinent, der lange Zeit als das „andere“ einer kapitalistischen Wirtschaft westlicher Prägung imaginiert wurde. Als der Kapitalismus ab 1960 in der Afrikanistik auftauchte, war damit der Wille verbunden, die Geschichte Afrikas als Teil einer globalen Geschichte zu verstehen. Historiker und Historikerinnen untersuchten damals die Genese neuer Arbeitsregimes in Afrika im Zuge der Integration von Märkten. In den 1990er-Jahren kam diese Forschung mehr oder weniger zum Stillstand. Es galt wieder das tautologische Argument, dass Afrika ist, wie es ist, weil es ist, wie es ist; geprägt von einer Kultur, die rationalem Wirtschaftshandeln scheinbar diametral entgegensteht. Bei dem Bemühen der jüngeren Forschung, globale Interdependenzen des Kapitalismus während und nach dem imperialistischen Zeitalter zu untersuchen, sieht Eckert vor allem eine Gefahr: Der permanente Verweis auf informelle Arbeitsbeziehungen tendiere dazu, Afrika erneut zu exotisieren.

Immanuel Wallerstein geht in seinem Beitrag zu Kapitalismus und Moderne aufs Ganze. Er interessiert sich nicht für die Deutungskraft des Kapitalismus innerhalb einer Subdisziplin, sondern macht klar: „I call the historical system within which we are living the ‚modern world-system‘. This historical system has the structure of a ‚capitalist world-economy.‘“ (S. 188) Das heisst: Der Kapitalismus ist ein zentrales Konzept zum Verständnis der Moderne überhaupt. Der Begriff umfasse weit mehr als die Produktions- und Tauschmechanismen eines Marktes. Er beinhalte auch das Entstehen „souveräner“ Nationalstaaten, die zwischenstaatlichen Beziehungen und die kulturelle Sphäre, namentlich die Rekonfiguration von Identitäten im Zuge politischer Friktionen. Wallerstein diskutiert die historischen Veränderungen dieser wirtschaftspolitischen Verhältnisse mit Rückgriff auf Kondratieffs Wirtschaftszyklen.

Gareth Austin liefert den ersten von zwei Kommentaren. Im Gegensatz zu Kocka hält er das Wiederauftauchen des Kapitalismus als Forschungsgegenstand nicht für eine Ausnahmeerscheinung der letzten paar Jahre. Die aktuelle Forschung knüpfe auf vielfältige Weise an ältere Forschungstraditionen an. Austin versteht den Kapitalismus als relationales Konzept. Es gehe darum, sowohl Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge wie auch Ko-Evolution des umfassenden Phänomens zu verstehen. Den unterschiedlichen Ausprägungen kapitalistischer Systeme sei Rechnung zu tragen, insbesondere der Rolle von Sklaverei und Imperialismus.

Sven Beckert konzentriert sich in seinem Kommentar auf den analytischen Mehrwert des Kapitalismus. Der Begriff erlaube es, Dinge über zeitliche und geografische Distanzen hinweg zu vergleichen. Er ermögliche es, Verbindungen zwischen Entwicklungen zu sehen, die man sonst getrennt voneinander untersuchen würde (zum Beispiel die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Lohnarbeit im 19. Jahrhundert). Und er fordere dazu auf, Märkte als soziale Gebilde zu verstehen. Das grundlegendste Merkmal des Kapitalismus sei jedoch der integrative Charakter des Konzepts. Wer vom Kapitalismus spricht, insistiert darauf, dass die vielfältigen Phänomene historischen Wandels auf systematische Weise miteinander verknüpft werden können, dass man sie auf einen übergeordneten Prozess hin deuten kann, nämlich den Aufstieg und die Expansion kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse.

Marcel van der Linden schliesst den Band mit „Final Thoughts“. Der Kapitalismus sei seit dem Aufkommen des Begriffs Ende des 19. Jahrhunderts ein kontroverses Konzept. Seine anhaltende Attraktivität liege darin begründet, dass er auf soziale Erfahrungen verweise, die sich qualitativ von früheren, ressourcenorientierten Gesellschaften unterscheiden. Während Produktivitätsüberschüsse in vormodernen Gesellschaften vor allem dazu dienten, eine unproduktive intellektuelle Elite, Kriege oder den Aufbau eines Imperiums zu finanzieren, ist die kapitalistische Selbstbereicherung ein relativ neues Phänomen. An deren Ursprung sieht van der Linden den Handel. Zentral für den Kapitalismus sei die Transformation von Arbeitskraft, Rohstoffen und Produktionsmitteln in Waren, also in Güter und Dienstleistungen, die Gebrauchs- und Tauschwert haben. Historisiere man das Phänomen, sei nicht nur auf Unterschiede, sondern auch auf Kontinuitäten zu achten, auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, mahnt van der Linden an.

Der editorisch umsichtig konzipierte Sammelband bietet allen, die sich mit dem Kapitalismus als historisches Konzept befassen, einen Überblick über die aktuelle Forschung und vielfältige Anregungen fürs Weiterdenken. Nicht allen Autorinnen und Autoren ist es gleich gut gelungen, zwischen dem historiografischen Teil, also dem Referieren der Kapitalismuskonjunktur in einem bestimmten Forschungsfeld, und dem eigenen programmatischen Anspruch nachvollziehbar zu differenzieren und doch beides in einen Spannungsbogen zu integrieren. Aber alle Beiträge erbringen eine Ordnungsleistung. Sie zeigen Wege und Möglichkeiten auf, den Kapitalismus als Werkzeug einzusetzen, um vermeintlich ahistorischen Phänomenen ihre Geschichte zurückzugeben.

Anmerkungen:
1 Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time, Beacon Hill 1944; Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe–XVIIIe siècle, 3 Bände, Paris 1979.
2 Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York 2014; Thomas Picketty, Capital in the Twenty-first Century, Cambridge 2014 (Orig.: Le Capital au XXIe siècle, Paris 2013).
3 Eric Hobsbawm, Socialism has failed. Now capitalism is bankrupt. So what comes next?, in: The Guardian, 10.04.2009.

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