Cover
Titel
Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne


Herausgeber
Reeken, Dietmar von; Thießen, Malte
Reihe
Formen der Erinnerung 63
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Siemens, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Nach dem Abriss vieler kommunistischer Denkmäler in Mittel- und Osteuropa während der frühen 1990er-Jahre wird seit einiger Zeit auch in der Bundesrepublik kontrovers darüber diskutiert, wie mit hochgeehrten Personen umzugehen ist, wenn der Grund für die seinerzeitige Ehrung nach gegenwärtigen Vorstellungen keiner mehr ist. Denkmäler, die Namensgebung eines öffentlichen Gebäudes (etwa einer Kaserne) oder eines wissenschaftlichen Preises, manchmal auch nur ein Straßenschild, allesamt oft Ausweis einer jahrelang unhinterfragten, von vielen gewohnheitsmäßig akzeptierten Ehrung, können dann zum Stein des Anstoßes werden und zur Parteinahme zwingen. So ist die Entnennung der bisherigen Ernst-Moritz-Arndt-Universität im vorpommerschen Greifswald – benannt je nach Sichtweise nach dem dichtenden Vorkämpfer einer sich einigenden Nation oder nach einem deutschtümelnden Antisemiten – im März 2017 nur knapp an einem Formfehler gescheitert, der Streit damit aber bloß vertagt.1

Dass Ehrungen nicht nur eine Art unausgesprochenes Verfallsdatum haben, sondern in vielen Fällen bereits zum Zeitpunkt der Ehrung selbst problematisch sind, zeigt der von Dietmar von Reeken und Malte Thießen herausgegebene Sammelband anhand zahlreicher Beispiele vornehmlich aus dem norddeutschen Raum der vergangenen beiden Jahrhunderte. Forschungsstrategisch geht es beiden Herausgebern darum, den Begriff des „Ehrregimes“ zu etablieren, den sie als „Ordnungs- und Werterahmen für Ehrungs- und Entehrungsprozesse in spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen“ definieren (S. 17). Sie machen sich für einen „praxeologischen“ Ansatz stark, der die soziale Praxis und die Ortsbezüge des Ehrens in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Damit soll nicht nur erklärt werden, wer warum auf welche Weise geehrt wird (und wer nicht), sondern auch, was das jeweilige Ehren selbst bewirkt – bei Geehrten, Ehrenden und dem in die Ehrung eingebundenen „Publikum“, das als Resonanzraum unabdingbar ist.

Die auf die Einleitung der Herausgeber folgenden Beiträge des Bandes sind, bis auf wenige Ausnahmen, empirisch dichte und primär regional ausgerichtete Fallstudien. Eine erste Gruppe von Texten enthält vier Analysen von „Heldenehrungen“. Zunächst spürt Yvonne Robel dem konfliktreichen Erinnern an Ernst Thälmann in dessen Geburtsstadt Hamburg nach. Erst als beginnend in den späten 1980er-Jahren Thälmanns Leben gedacht werden konnte, ohne damit gleichzeitig eine positive Bewertung der KPD zu implizieren, wurde für den ehemaligen Kommunistenführer ein Platz in einer affirmativ-positiven Stadtgeschichte frei, so Robel. Anschließend untersucht Peter M. Quadflieg den Fall des Generals Gerhard Graf von Schwerin, der unmittelbar nach der amerikanischen Besetzung zum „Retter von Aachen“ stilisiert wurde, weil er angeblich die Stadt habe kampflos übergeben wollen. Erst nachdem in den letzten Jahren mehr und mehr Details über den tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse im Jahr 1944 bekannt wurden und damit der vormalige Ehranlass entfiel, distanzierte sich der Rat der Stadt vom „guten Wehrmachtsgeneral“. Hier liegt gewissermaßen der umgekehrte Fall vor: eine zunächst weitgehend unwidersprochene Ehrung, die im Lichte neuer Erkenntnisse problematisch wird und schließlich (partiell) zurückgenommen wird.

Es folgen zwei Fallstudien, die nicht zuletzt aufgrund ihrer überregionalen und transnationalen Bezüge kompliziertere Verläufe von „Heldenehrungen“ analysieren. Die im August 2016 verstorbene Historikerin Inge Marszolek widmet sich dem mittelfristigen Scheitern der Bremer Erinnerung an den ersten Nordatlantikflug von Europa nach Amerika im Jahr 1928. Obwohl die Bremer Kaufmannschaft das Vorhaben maßgeblich gefördert hatte und bei ihren Ehrungen auf den im Ersten Weltkrieg etablierten Topos von den „Helden der Lüfte“ sowie des global als Sensation gefeierten Lindbergh-Fluges (kurz zuvor in umgekehrter Richtung) aufbauen konnte, brachten es die drei „Musketiere der Lüfte“ allenfalls zu regionaler Bekanntheit, nicht zuletzt, weil eine nachhaltige Förderung dieser Pioniertat durch die bald darauf zur Macht gelangten Nationalsozialisten ausblieb. Im letzten Aufsatz dieses Abschnitts stellen Ulf Morgenstern und Christian Wachter Überlegungen zu den Formen und regionalen Besonderheiten von Bismarck-Ehrungen vor, die sich auf die Ergebnisse des Online-Projektes „Bismarckierung“ stützen (http://bismarckierung.de, 31.03.2017). Die zusammengetragenen Informationen zeigen, dass der Bismarck-Kult über die Grenzen des Deutschen Reiches hinausreichte und oftmals auf dem Engagement lokaler Initiativen beruhte.

Im Zentrum der nachfolgenden sechs Fallstudien, die unter der Überschrift „Milieus“ versammelt sind, stehen die Kontexte, in die lokale Ehrungen eingebettet waren, sowie das Beziehungsgeflecht zwischen Ehrenden und Geehrten. Daniel Schmidt zeigt erstaunliche Kontinuitäten in den Ehrungen des Gelsenkirchener Bürgertums vor und nach dem Ersten Weltkrieg, Marcus Weidner für Westfalen und Lippe die zeitgeschichtliche Relevanz von ehrenden Straßenbenennungen im Nationalsozialismus samt ihrer oftmals „leisen“ Korrektur in der Nachkriegszeit, Hansjörg Buss die Militanz von „Kriegerehrungen“ in der Lübecker Landeskirche während der 1920er-Jahre und Nina Fehrlen-Weiss die Penetranz bayerischer Katholiken in ihrem letztlich erfolgreichen Bemühen, ein „Tilly-Denkmal“ in Altötting zu errichten (es wurde 2005 eingeweiht).

Gleich zwei Beiträge beschäftigen sich mit „Ehrregimen“ in Göttingen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit; diese seien hier exemplarisch herausgegriffen. Lena Elisa Freitag zeichnet die Machtkämpfe nach, die Ehrungen an der Göttinger Universität in der NS-Zeit begleiteten. Zwar war sich die Universität noch 1939 nicht zu schade, Hermann Göring als einen „treuen und beharrlichen Vorkämpfer nationalsozialistischer Weltanschauung“ (zit. auf S. 141) auszuzeichnen, doch sind auch Fälle dokumentiert, in denen sich die Universität gegen politisch gewünschte Ehrungen mit dem Hinweis auf die mangelnde wissenschaftliche Leistung des zu Ehrenden sperrte. Freitag zeigt, dass man solche Art von Widerständigkeit nicht als mutige Verteidigung wissenschaftlicher Standards missverstehen sollte. Öffentliche Ehrungen waren „gegenseitige Ressourcennutzung“ (S. 149); moralisch-ethische Überlegungen spielten allenfalls eine untergeordnete Rolle. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben Ehrungen im Umfeld der Göttinger Universität umkämpft, wie Kerstin Thieler verdeutlicht. Den zahlreichen Ehrungen der beiden zuvor von der Universität vertriebenen Physikern Max Born und James Franck in der frühen Bundesrepublik gingen jeweils komplizierte Aushandlungsprozesse voraus. Während die Emigranten diese Ehrungen als Anerkennung für zuvor erlittenes Unrecht verstanden wissen wollten, dienten sie der Göttinger Universität, der Akademie der Wissenschaften und der Stadt primär als ein strategisches Mittel, verloren gegangene Reputation wiederzugewinnen. Klarer als andere Beiträge des Bandes zeigt Thielers Aufsatz, dass dem performativen Akt des Ehrens selbst ein starkes Gewicht zukommt, dem sich – trotz aller Vorbehalte – letztlich weder die Geehrten noch die Ehrenden entziehen konnten. Wer sich ehren lässt, der liefert sich den Ehrenden und ihren Zielen bis zu einem gewissen Grade aus. Die Nobelpreisträger Born und Franck waren sich dessen sehr bewusst, meinten aber, dank ihres großen symbolischen Kapitals und ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit damit umgehen zu können.

Unter dem Schlagwort „Internationale Perspektiven“ sind drei Aufsätze abgedruckt. Susanne Lang erläutert die Geschichte des Dubliner Nelson-Denkmals von 1808, das, nachdem es zunächst Konkurrenz durch irische Nationaldenkmäler erhalten hatte, 1966 von irischen Nationalisten als Symbol britischer Fremdherrschaft endgültig zerstört wurde. Im Gegensatz zu Nelson in Irland war der Südtiroler „Freiheitsheld“ Sepp Innerkofler eine patriotische Heldenfigur, die im Laufe der Jahrzehnte für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Österreich und Italien identitätsstiftend wurde, wie Markus Wurzer anschaulich darlegt. Stephan Scholz schließlich untersucht das Gedenken an die deutschen wie französischen Toten des Krieges von 1870/71 auf städtischen Friedhöfen. Am Beispiel der Stadt Oldenburg zeigt er, dass das Andenken an in Deutschland bestattete französische Soldaten und Kriegsgefangene von deutschen und französischen Organisationen in enger „transnationaler Aktion“ (S. 282) geplant und durchgeführt wurde. Die Friedhöfe wurden damit nicht nur zu Orten bürgerlicher Selbstrepräsentation, sondern auch der (vorsichtigen) internationalen Verständigung.

Ein bilanzierender Aufsatz aus der Feder von Winfried Speitkamp ist zugleich der Schluss- wie Höhepunkt des Bandes. Während die vorherigen Lokalstudien häufig mit treffenden Einzelbeobachtungen aufwarten, aber nur bedingt über den jeweiligen Fall hinausgehende Thesen formulieren, gelingt Speitkamp eine breite und kenntnisreiche Synthese, die zu weiteren Überlegungen einlädt. Er hebt besonders das jeder Ehrung inhärente „agonale Element“ (S. 315) hervor und fragt, ob eine Ehrung tendenziell eine Win-Win-Situation (für Ehrende wie Geehrte) oder nicht doch eher ein Nullsummenspiel sei. Auch die große Gruppe der Nicht-Geehrten rückt er so in den Blick. Im Falle der oftmals besonders kontroversen Straßenumbenennungen plädiert Speitkamp ebenfalls für eine weite Perspektive und hebt hervor, dass ohne Berücksichtigung des räumlichen, zeitlichen und symbolischen Kontextes kaum eine angemessene Bewertung möglich sei. Dies zeigt, so könnte man ergänzen, auch das eingangs erwähnte Beispiel der Ernst-Moritz-Arndt-Universität: So macht es für die heutige Beurteilung durchaus einen Unterschied, ob die Namensgebung etwa zum 50. Todestag Arndts im Jahr 1910 erfolgte oder erst 1933. Letzteres war der Fall (zuvor hieß die Hochschule seit 1921 „Preußische Universität zu Greifswald“).

Speitkamp ist zuzustimmen, wenn er festhält, dass der lokale und regionale Streit um Ehrungen und Entehrungen produktiv ist, weil es dabei „um ernsthafte und tiefgreifende Wunden in Kommunen und dabei um die grundsätzliche Frage [geht], ob und wie eine Verständigung über Vergangenheit, Werte und gemeinsame Identität möglich und nötig ist“ (S. 313). Die von den beiden Herausgebern angemahnte „Versachlichung öffentlicher Debatten“ (S. 13) wird daher meist Wunschdenken bleiben. Warum es letztlich kaum anders sein kann, das macht ihr Sammelband anhand vieler Beispiele deutlich.

Anmerkung:
1 Siehe die Stellungnahme der Universität vom 15.03.2017: https://www.uni-greifswald.de/universitaet/information/aktuelles/detail/n/der-senat-der-universitaet-greifswald-nimmt-stellung-zur-namensdiskussion/ (31.03.2017).