Cover
Titel
Inszenierte Versöhnung. Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Beziehungen von 1957 bis 1984


Autor(en)
Hestermann, Jenny
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 28
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Kühling, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

Als Bundespräsident Joachim Gauck im Mai 2012 das erste Mal als Staatsoberhaupt nach Israel reiste, besuchte er unter anderem die Gedenkstätte Yad Vashem und traf Überlebende des Holocaust sowie des Münchner Attentats auf die israelische Olympia-Mannschaft von 1972. Demgegenüber stand sein zweiter Staatsbesuch Ende 2015 ganz im Zeichen des 50-jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel und hatte einen wissenschaftlich-kulturellen Schwerpunkt. Unter anderem bekam Gauck bei diesem Besuch die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität in Jerusalem verliehen. In seiner Dankesrede betonte er, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Mai 1965 seien schon „viele Brücken vorausgegangen, die Menschen und Institutionen zueinander gebaut hatten“.1 Eben jenen Brücken, speziell den privaten und offiziellen Besuchen von (west)deutschen Politikerinnen und Politikern in Israel, widmet sich Jenny Hestermanns jüngst erschienene, überaus lesenswerte Studie. Auch einzelne Besuche israelischer Vertreter in der Bundesrepublik werden dabei beleuchtet. Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut (Frankfurt am Main), in dessen Reihe das Werk erschien. Das Buch basiert auf Hestermanns Dissertation, die 2015 an der Technischen Universität Berlin verteidigt wurde.

Die Untersuchung gliedert sich in sechs Kapitel, wobei die Teile drei bis fünf den Kern der Arbeit bilden.2 Nach einer knappen Einleitung und prägnanten Hinführung zum Thema der deutsch-israelischen beziehungsweise deutsch-jüdischen Beziehungen nach 1945 betrachtet Hestermann chronologisch die Reisediplomatie und das Verhältnis der beiden Länder zueinander. Dabei begreift sie die Israel-Besuche westdeutscher Politiker als „Inszenierungen“ beziehungsweise „politische Theateraufführungen“, deren Publikum die demokratische Öffentlichkeit darstellte. Mit den jeweiligen Stationen eines Besuches sowie der Sprach- und Themenwahl waren die Aufenthalte von Beginn an choreographiert, spätestens mit dem ersten Besuch eines Bundeskanzlers in Israel (Willy Brandt im Jahr 1973) sogar „minutiös orchestriert“ (S. 12).

Die Reisen beziehungsweise „Aufführungen“ waren deutlich durch die Vorgeschichte geprägt: die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch die Deutschen während der NS-Herrschaft. Zudem spielten sich die Reisen vor dem Hintergrund der Konflikte des Kalten Krieges ab. Hestermann schildert detailliert, wie den Besuchen westdeutscher Politiker in den ersten Jahren bewusst ein privater Charakter gegeben wurde, da sich die Bundesrepublik aufgrund der Hallstein-Doktrin und der Rücksichtnahme auf arabische Staaten lange Zeit weigerte, offiziell Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Am Anfang der Untersuchung steht das geheime deutsch-israelische Waffenabkommen von 1957. Der Israel-Besuch des SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer im selben Jahr hätte sich ebenso angeboten – Hestermann erwähnt diesen allerdings nur beiläufig (S. 45). Im Weiteren geht die Autorin unter anderem auf die Reisen des SPD-Politikers Carlo Schmid (1959) und des Altbundespräsidenten Theodor Heuss (1960) ein und beschreibt ausführlich deren Besuchsprogramme. Viel Raum erhält dabei ein für Heuss ausgerichteter „schwäbischer Abend“ (S. 69ff.). Noch wichtiger war jedoch seine Besichtigung der Gedenkstätte Yad Vashem – ein Programmpunkt, der für kommende Israel-Reisen westdeutscher Politiker obligatorisch wurde. Dies galt sowohl für Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) bei seinem Besuch 1962 als auch für Konrad Adenauer, der 1966 – ein Jahr nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen – als Altbundeskanzler nach Israel reiste.

Seit 1965 dienten die nun offiziellen Reisen dazu, den westdeutschen Anspruch auf „Normalisierung“ zu unterstützen – während die israelische Seite weiterhin die besondere moralische Verantwortung Deutschlands hervorhob. Dies unterstrichen israelische Delegationen und Politiker bei Reisen in die Bundesrepublik nicht zuletzt durch ihre Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern (S. 155ff., S. 224f.). Aus heutiger Sicht verstörend ist es, bei Hestermann zu lesen, wie wenig Empathie die westdeutsche Seite israelischen Positionen entgegenbrachte und wie selbstbewusst man sich gegen die Verwendung „moralischer Munition“ mit Bezug zur NS-Vergangenheit aussprach (so das Auswärtige Amt 1971; zit. auf S. 168). Unter den Vorzeichen einer „ausgewogenen Nahostpolitik“ war die Bundesrepublik ab Ende der 1960er-Jahre vielmehr darauf bedacht, Erwartungen von israelischer Seite zu dämpfen. Hestermann beleuchtet in diesem Kontext eindrücklich den medial vielbeachteten und lange geplanten Besuch Willy Brandts in Israel: Zweieinhalb Jahre, nachdem er mit seinem Kniefall von Warschau weltweit für Aufsehen gesorgt hatte, blieb eine vergleichbare Demutsgeste in Jerusalem – obwohl von israelischer Seite erhofft – demonstrativ aus (S. 191f., S. 200). Brandts Nachfolger Helmut Schmidt, der erste Bundeskanzler, der Auschwitz besuchte (1977), reiste während seiner Amtszeit sogar kein einziges Mal nach Israel; stattdessen kam es zwischen ihm und dem israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin zu medial ausgetragenen Konfrontationen. Im Jahr 1984, also nach dem Regierungswechsel in der Bundesrepublik, befanden sich die Beziehungen beider Länder schließlich auf einem Tiefpunkt (S. 24). Die Reise Helmut Kohls im Januar 1984 konnte daran nichts ändern. Kohls umstrittene Äußerung von der „Gnade der späten Geburt“ in der Knesset wurde in Israel allerdings „längst nicht so ernst und wichtig genommen wie das von der Bundesregierung angestrebte Waffengeschäft mit Saudi-Arabien“ (S. 255). Eine Annäherung zwischen den beiden Staaten erfolgte erst wieder nach der Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag (S. 268). Weizsäckers Jerusalem-Reise im Oktober 1985, als erster amtierender Bundespräsident überhaupt (wie auch seine vorangegangenen Aufenthalte in Israel), lässt Hestermann außen vor – wohl auch, um der nachträglichen Erzählung einer „Erfolgsgeschichte“ der deutsch-israelischen Beziehungen keinen Vorschub zu leisten.

Die Stärke der Untersuchung liegt nicht zuletzt darin, dass die Autorin ebenso Reisen von weniger prominenten Akteuren beleuchtet sowie die im Hintergrund wirkenden Botschafter, Staatssekretäre und andere Verantwortliche einbezieht. Zwar gab es unter den bisherigen Arbeiten zu deutsch-israelischen Beziehungen3 einzelne Darstellungen, die zumindest in Abschnitten den „Reiseverkehr“ zwischen beiden Ländern aufgriffen.4 Hestermanns bündige Untersuchung der Reisediplomatie im historischen Kontext, die Einbeziehung der Biographien der Akteure und der Reaktionen der Öffentlichkeit machen ihr Werk jedoch besonders empfehlenswert. Hilfreich für den Leser ist zudem die kompakte Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende eines jeden Kapitels. Vor diesem Hintergrund fallen kleinere Fehler und Ungenauigkeiten nicht stark ins Gewicht.5 Wünschenswert wäre allenfalls eine genauere Erläuterung gewesen, warum gerade die geschilderten Reisen ausgewählt wurden, andere – die zumindest hätten erwähnt werden können – jedoch nicht. Hätte sich beispielsweise nicht ein Vergleich der Reisen Eugen Gerstenmaiers vor und nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen angeboten, um mögliche Veränderungen infolge der Zäsur des Jahres 1965 zu ermitteln? Dass Äußerungen Gerstenmaiers bei seinem Israel-Besuch von 1966 in der Bundesrepublik für erregte Diskussionen sorgten6, in der DDR dagegen nicht, offenbart indes einen Aspekt, den zukünftige Forschungen aufgreifen könnten: Welche Reaktionen rief die „inszenierte Versöhnung“ durch Reisediplomatie und Israel-Besuche westdeutscher Politiker in der DDR hervor? Jenny Hestermann hat für die Beantwortung dieser Frage grundlegende Anknüpfungspunkte geschaffen.

Anmerkungen:
1 Rede von Joachim Gauck am 6. Dezember 2015 in Jerusalem: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/12/151206-ISR-Ehrendoktorwuerde.pdf?__blob=publicationFile (07.11.2016); das Zitat dort auf S. 4.
2 Siehe das Inhaltsverzeichnis unter http://d-nb.info/1100892907/04 (07.11.2016).
3 Zum Stand der Forschung siehe auch die Rezension von Sven Olaf Berggötz über das Werk von Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht, Düsseldorf 2002, in: H-Soz-Kult, 19.02.2003, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1584 (07.11.2016).
4 Etwa Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 389–394.
5 Die Äußerung Konrad Adenauers: „Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen“, stammt aus dem Jahr 1965 (Fernsehgespräch mit Günter Gaus), nicht 1954 (S. 139). Zudem war Gideon Hausner lediglich Vorsitzender des Rates der Gedenkstätte, nicht jedoch „Präsident von Yad Vashem“ (S. 167).
6 Gerstenmaier will Abbruch des Berliner Wannsee-Hauses, in: Welt, 03.09.1966; Wannsee-Konferenz – Hacke empfohlen, in: Spiegel, 19.09.1966, S. 62, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414557.html (07.11.2016).