: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15. München 2015 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-65381-0 128 S. € 8,95

: Der Wiener Kongress. . Wien 2014 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-8252-4095-0 285 S. € 19,99

Stauber, Reinhard Alexander; Kerschbaumer, Florian; Koschier, Marion (Hrsg.): Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur Politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses. Berlin 2014 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-50502-6 210 S. € 29,90

: Europa in Wien. Who is Who beim Wiener Kongress 1814/15. Wien 2015 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-79488-2 385 S. € 29,90

: Der Wiener Kongress 1814/15. . Stuttgart 2014 : Reclam, ISBN 978-3-15-019252-8 261 S. € 8,00

: Congress mit Damen. Europa zu Gast in Wien 1814/1815. Wien 2014 : Czernin Verlag, ISBN 978-3-7076-0506-8 188 S. € 19,90

Just, Thomas; Maderthaner, Wolfgang; Maiman, Helene (Hrsg.): Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas. Wien 2014 : Carl Gerold's Sohn Verlagsbuchhandlung KG, ISBN 978-3-900812-52-2 447 S. € 90,00

: Das System Metternich. Die Neuordnung Europas nach Napoleon. Darmstadt 2014 : Primus Verlag, ISBN 978-3-86312-081-8 158 S. € 19,95

: Der Wiener Kongress. Diplomaten, Intrigen und Skandale. Wien 2014 : Amalthea Signum, ISBN 978-3-85002-865-3 300 S. € 24,95

: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas. München 2014 : Siedler Verlag, ISBN 978-3-8275-0047-2 429 S. € 24,99

: Der Wiener Kongress. Redouten, Karoussel und Köllnerwasser. Wien 2014 : Verlag Kremayr & Scheriau KG, ISBN 978-3-218-00935-5 221 S. € 24,00

: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. München 2014 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-67123-4 704 S. € 29,95

: The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy After Napoleon. London 2014 : I.B. Tauris, ISBN 978-1-78453-056-3 544 S. € 20,53

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Behringer, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Die großen Jubiläen werfen ihre Schatten voraus und machen sich auch auf dem Buchmarkt bemerkbar. „200 Jahre Wiener Kongress“ – das mag zunächst einmal nur für Historiker interessant erscheinen. Nachdem aber die Politikwissenschaften den Wiener Kongress zum Paradebeispiel einer gelungenen Friedensordnung hochgeschrieben haben, weit überlegen allen Friedensschlüssen des 20. Jahrhunderts, scheint sich das Interesse daran auszuweiten.

Im Jahr 2013 erschien in der Reihe Beck-Wissen ein Büchlein von Heinz Duchhardt, damals Direktor der Max-Weber-Stiftung, das auf 120 Seiten zusammenfasst, was der gebildete Leser über den Wiener Kongress zu wissen braucht. Die souveräne Zusammenfassung langjähriger eigener Forschungen berücksichtigt „Vor- und Nachspiel“, „Akteure und Aktricen“, „Gesellschaftsspiele“, „Spielregeln“, „Spiele mit dem Feuer“ und ein „Finale Furioso“, so die Titel der sechs Kapitel. Voraussetzungen, Verlauf und Ergebnisse des Kongresses werden knapp zusammengefasst, die Problemfälle und die einzigartigen Umstände der Großveranstaltung nicht ohne Humor charakterisiert. Duchhardt hebt die positiven Errungenschaften hervor: das Gleichgewicht der Mächte, die lang anhaltende Friedensordnung, die Abschaffung der Sklaverei, die Freiheit der Flussschiffahrt und wichtige Schritte auf dem Weg zur Emanzipation der Juden und der Mitbestimmung der Bevölkerungen durch Verfassungen. Ganz nebenbei gibt Duchhardt einen Überblick über die Forschungsentwicklung und die Rolle, welche der Rekurs auf die Verhandlungen von 1815 bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg spielte. Deshalb haben sich Politiker und Diplomaten wie Charles Webster, Enno Kraehe, Harold Nicolson und Henry Kissinger an diesem Thema versucht. Duchhardts Buch atmet die Leichtigkeit der „sprezzatura“, es ist ein Meisterstück, von dem andere nur träumen können.

Was kann man danach noch Neues bieten? Um mit der „Neuordnung Europas“ von der in Klagenfurt promovierten Schriftstellerin, „Schreibberaterin“ und Verfasserin „humorvoller Regionalkrimis“ Alexandra Bleyer zu beginnen 1: Diese Publikation behandelt die ganze Regierungszeit des österreichischen Kanzlers Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773–1859), nur das erste Drittel (S. 15–59) befasst sich mit dem Wiener Kongress. Entgegen dem Titel (Neuordnung Europas) beginnt der Text mit Sätzen wie aus einem liberalen Kinderbuch: „Nach dem Sieg über Napoleon brach in Europa das Zeitalter der Restauration an.“ (S. 7 und ähnlich S. 21) Nach Jahrzehnten der Problematisierung von Epochenbezeichnungen und trotz Nennung neuerer Literatur im Literaturverzeichnis wird hier wieder das Märchen von der Restauration aufgetischt, natürlich ohne Begriffsklärung. Der Widerspruch zum Konzept der Neuordnung ist der Autorin nicht aufgefallen, obwohl sie wiederholt konstatieren muss, dass die alten Verhältnisse nicht wiederhergestellt wurden (z.B. S. 30–32 und S. 41–45). Aber mit systematischen Fragestellungen möchte sich die Autorin ohnehin nicht belasten (S. 30). Weder wird der Charakter des Kongresses erklärt, noch seine Arbeitsweise oder die zugrundeliegenden Interessenlagen. Das intellektuelle Vakuum wird mit Personalisierungen und Stereotypen aufgefüllt: Metternich der „Hexenmeister“, Friedrich von Gentz der „wortgewaltige Preuße“ (obwohl geboren in Breslau, geformt in England und gestorben in Wien), die Alliierten gerieten „bei der Aufteilung der Beute […] in Streit“ (S. 11), „das älteste Gewerbe der Welt blühte auf“ (S. 25).

Für den akademischen Lehrbetrieb und an systematischer Aufbereitung interessierte Leser sind zwei österreichische Publikationen wichtig. Der in Klagenfurt lehrende deutsche Historiker Reinhard Stauber besticht in seiner Publikation „Der Wiener Kongress“ durch seinen völlig unaufgeregten Stil und den Blick für Wichtiges. Eingangs definiert er Schlüsselbegriffe, zuerst den Begriff „Restauration“, der im Unterschied zu den Begriffen „Legitimität“, „Recht“, „Gleichgewicht“, „Ordnung“ und „Konstitution“ auf dem Kongress keine Rolle spielte. Stauber sagt im Klartext, was dieser Kongress nicht war: er war kein Friedenskongress und keine Gesellschaftsveranstaltung, sondern ein Arbeitskongress zur Klärung der nach dem 1. Pariser Frieden (30. Mai 1814) offen gebliebenen Macht- und Territorialfragen. Seine Besonderheit lag darin, dass fast alle führenden Politiker persönlich anwesend waren und daher – unter Zurückstellung zeremonieller Probleme – in einem „Europa ohne Distanzen“ (S. 59) alle Fragen diskutiert und geklärt werden konnten. In klaren Abschnitten behandelt Stauber die völkerrechtliche Ausgangslage, die Konfliktpunkte, den Verhandlungsgang und die Ergebnisse. Selbst der Abschnitt über die Festkultur hat analytischen Charakter. Nach dem Fazit über „Völkerrecht und globale Aspekte“, der auch die Ergebnisse der neueren politikwissenschaftlichen Diskussion berücksichtigt (S. 239–248), folgen Arbeitsmaterialien wie Karten und eine Zeittafel. Die These dieses Lehrbuchs besteht darin, dass es das gemeinsame Ziel der Großmächte in Wien war, die Vormacht eines Staates – zunächst Frankreichs, dann Russlands – zu verhindern und dadurch den Frieden im Rahmen belastbarer internationaler Beziehungen auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen. Dafür wurden die zwischenstaatlichen Konsultationsmechanismen und die Normen des internationalen Rechts weiterentwickelt.

Ebenfalls zum praktischen Gebrauch bestimmt ist der Band „Europa in Wien. Who is Who beim Wiener Kongress 1814/15“, der von den Innsbrucker Historikerinnen Karin Schneider und Eva Maria Werner zusammengestellt und geschrieben, und – laut Vorwort – von Brigitte Mazohl angeregt und begleitet wurde. Den größten Teil des Bandes nehmen die Biographien der offiziell registrierten Kongressteilnehmer ein (S. 100–325), die nach einem standardisierten Verfahren angefertigt wurden und unter anderem die genauen Aufenthaltsdaten und Wohnorte der Akteure in Wien enthalten. In diesen interessant geschriebenen Kurzbiographien kann man sich festlesen. Sie werden künftigen Forschern als biographischer Einstieg gute Dienste leisten. Sehr nützlich ist das Akkreditierungsverzeichnis der offiziellen Teilnehmer (S. 327–336) sowie der Überblick über die Mitglieder der einzelnen Kommissionen, in denen auf dem Kongress die eigentliche Arbeit geleistet wurde (S. 337–345). In der lesenswerten Einleitung (S. 1–99) wird zum ersten die Kongressorganisation dargelegt (Werner), in einem zweiten Kapitel (Schneider) in einem spatial turn der Schauplatz Wien analysiert (Verhandlungsorte, Wohnorte, Orte des Vergnügens, Straßen und Plätze – leider ohne Karte für Nichtwiener) und in einem dritten das Kommunikationsverhalten analysiert: Dabei werden „das Fest als politische Bühne“ (Schneider) sowie die Strategien des Nachrichtenerwerbs und der Informationsvermittlung (Werner) in den Blick genommen. Diese Abschnitte, die mit dem Blick für interessante Details und witzige Formulierungen („wo die Mächtigen nächtigen“) glänzen und durch Zitate gut belegt sind, stellen einen großen Gewinn dar.

Die beiden genannten Publikationen entstammen dem Kontext eines Forschungsverbunds, bestehend aus drei vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekten, die seit einigen Jahren auf das Kongressjubiläum hinarbeiten. Das an der Universität Innsbruck angesiedelte Projekt „Der Wiener Kongress und die Presse – Zeitungen als Medien politischer Kommunikation“ wurde von Brigitte Mazohl ins Leben gerufen und betreut. Ein an der Österreichischen Nationalbibliothek angesiedeltes Projekt unter Leitung von Hans Petschar – „Die Privatbibliothek Kaiser Franz I. von Österreich“ – beschäftigt sich mit der kaiserlichen Bücher- und Graphiksammlung zur Kongresszeit. Ein drittes Projekt an der Universität Klagenfurt unter Leitung von Reinhard Stauber trägt den Titel „Der Wiener Kongress und sein europäisches Friedenssystem“ und widmet sich der Quellenerschließung im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Ein Workshop dieser drei Forschergruppen fand 2011 zum Thema „Politische Kultur und internationale Beziehungen im Umfeld des Wiener Kongresses – Stand und Perspektiven der Forschung“ statt. Seine zehn Vorträge wurden 2014 in einem Sammelband, herausgegeben von Reinhard Stauber und seinen Mitarbeiter(inne)n Florian Kerschbaumer und Marion Koschier, präsentiert. Zu diesem Band haben als Mitarbeiterinnen aus Innsbruck unter anderem die oben genannten Autorinnen Karin Schneider und Eva Maria Werner beigetragen, aus Wien steuert Rainer Valenta einen Beitrag über die kaiserliche Bibliothek als Spiegel des Kongressgeschehens bei. Dort finden sich zum Beispiel Reportagen über das kulturelle Begleitprogramm, die teils durch den Hofmaler Johann Nepomuk Hoechle (1790–1835) in Szene gesetzt wurden und heute zu den wichtigsten Bildquellen der Kongresszeit gehören (S. 187–208).

Kommen wir zu den großen Überblickswerken, die mit der Macht von Naturgewalten in den Markt gepresst werden: Adam Zamoyskis Buch „1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress“ ist von allen Neuerscheinungen die am höchsten gehandelte: Journalisten wie Volker Ullrich in der „Zeit“ („grandioses Epos“) und Denis Scheck im „Tagesspiegel“ („glänzende historische Darstellung“) vergeben Höchstnoten.2 Dagegen lese ich eine vornehme Ambivalenz heraus, wenn Christopher Clark im „Literary Review“ in dem Buch „ein exquisites Beispiel für erzählende Geschichte“ sieht: Erzählend wohl im Gegensatz zu analytisch. Das im Original 2007 erschienene Buch über den Wiener Kongress wurde für die deutsche Ausgabe vermutlich vom Verlag bei der Literaturliste leicht aktualisiert, der Text ist jedoch stehen geblieben. Bei Zamoyski wird nicht gekleckert, er macht das ganz große Fass auf: „Die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress ist wahrscheinlich der folgenreichste Vorgang der modernen Geschichte. Nicht nur zeichnete der Kongress die Landkarte völlig neu […]. Er verordnete dem ganzen Kontinent eine Ideologie […]. Er veränderte die Gestaltung der internationalen Politik von Grund auf. Zu den Folgen des Kongresses gehörte damit alles, was seit seinem Ende in Europa geschehen ist, auch der aggressive Nationalismus, der Bolschewismus, der Faschismus, die beiden Weltkriege und letztlich die Europäische Union.“ (S. 7) Dieser großherrliche Umgang mit der europäischen Vergangenheit klingt natürlich wunderbarer als die bescheidenen Universitätspublikationen; doch man stelle sich den Text gesprochen vor, etwa von John Cleese in einem Sketch von Monty Pythons Flying Circus! Eine Parodie wäre gar nicht mehr nötig.

Zieht man solche Übertreibungen aber ab, dann haben wir hier wirklich ein interessantes, gut geschriebenes und lesenswertes Buch vor uns. Es ist aus einer französisch-polnischen Perspektive geschrieben, auch wenn sich der Autor eingangs gegen einen Buchtitel zur Wehr setzt, der die in Frankreich lange übliche Annahme aufwärmt, in Wien hätte sich Europa gegen Frankreich verschworen.3 Das Buch setzt dort ein, wo Zamoyskis letztes aufhört, also 1812. Zur Eröffnung der Wiener Konferenz gelangt er in seinem epischen Werk erst auf Seite 274. Wie Christopher Clark schon diagnostizierte, „erzählt“ sich Zamoyski im Wesentlichen entlang der Zeitachse durch den Ablauf des Kongresses. Dabei gelingen ihm analytische Kabinettstücke. Zum Beispiel erklärt er in wenigen Sätzen, warum das Konzept der „Legitimität“ eine Waffe in den Händen des französischen Außenministers Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838) darstellte: Die „Kaiser“ von Russland und von Österreich hatten sich ihre Titel ebenso selbst zugelegt wie die „Könige“ von Preußen und Savoyen. In Bayern, Württemberg und Baden verdankten die Monarchen ihre Titel gar dem Erzfeind Napoleon (S. 311). Ebenso verknüpft Zamoyski die Investitionen in das Wiener Quartier und kulturelle Aktivitäten mit den Verhandlungszielen der jeweiligen Delegationen und damit Politik mit Kultur. Wegen solcher knapp dargelegten Zusammenhänge ist dieses Werk auch in seinem großen Umfang lesenswert.

Der selbstverständliche Umgang mit englischen, französischen, italienischen, polnischen und russischen Quellen und der entsprechenden Sekundärliteratur eröffnet einen weiten Horizont. Zamoyskis Achillesferse liegt in seiner Unkenntnis des Deutschen, wie der Autor selbst weiß (S. 10). Gelegentlich führt seine Anbindung an die Interpretation Talleyrands zu unangebrachter Parteilichkeit für französische Argumente. So verbucht er die Verhandlungen über den Friedensschluss nach dem zweiten Sieg über Napoleon (2. Pariser Frieden, 20. November 1815) unter dem Kapitel „Die Bestrafung Frankreichs“ (S. 554–570). Dafür, dass die deutschen Fürsten, die Niederlande, Savoyen und der Vatikan ihre von Frankreich geraubten Gebiete und Kunstwerke zurückhaben wollten, zeigt der Autor wenig Verständnis, vielmehr tut er es mit Talleyrand als „Geschrei“ ab (S. 568). Zamoyski meint, dass mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 der Deutsche Bund in ein „äußerst repressives politisches Gebilde“ verwandelt worden sei (S. 597), ohne zu berücksichtigen, dass die aus aktuellen Gründen eingeschränkten Freiheiten – wie in Frankreich und England – von denselben Politikern erst eingeführt worden waren. Die polnische Perspektive lässt Zamoyski zu einer pessimistischen Einschätzung des Kongresses kommen: Er teilt nicht die von Henry Kissinger und Paul W. Schroeder propagierte Ansicht, der Kongress habe eine lange Friedensperiode in Europa eingeleitet.4 Da das System der Legitimität nicht die Interessen der unterdrückten Völker berücksichtigte und Frieden über Volkssouveränität stellte, mussten diese gegen den Frieden aufbegehren und neue Kriege und Revolutionen verursachen. Die in Wien geschaffene „Pax Europae“ sei nur ein „Trugbild an Stabilität“ gewesen (S. 626).

Zamoyski arbeitet sich in nicht weniger als 33 Kapiteln chronologisch an seinem Gegenstand ab, immer nahe an den Quellen und oft mit großem Unterhaltungswert, bevor sein Schlusskapitel „Der Stillstand Europas“ (Kap. 34, S. 607–627) die Beschlüsse der Kongresszeit unzulässig mit Entwicklungen des 20. Jahrhunderts kurzschließt. Im Ganzen ist seine Herangehensweise nicht analytisch, sondern hermeneutisch. Seine Einfühlung mittels zeitgenössischer Quellen gelingt ihm aber immer eher bei Czartoryski und Talleyrand als bei Hardenberg oder Metternich. Gelegentlich gelingt die Einfühlung aber zu gut. So charakterisiert er die junge Dorothéa de Talleyrand-Périgord, geborene Prinzessin von Kurland (1793–1862), mit den Worten: „In ihrem bezaubernden Anblick mischten sich kindliche Unschuld und eine träumerische Glut zu verführerischer Gefährlichkeit.“ (S. 312) Hier werden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen unreflektiert überschritten.

Von französischer Seite beleuchtet der Rechtshistoriker Thierry Lentz das Thema. Der derzeitige Direktor der „Fondation Napoléon“ in Paris stellt die Gewalttaten Napoleons als eine Art Schöpfungsakt dar („die Schaffung der Illyrischen Provinzen“), die Ablehnung der Französischen Revolution und ihrer Folgen durch Kaiser Franz I. von Österreich dagegen als eine Art Geisteskrankheit (S. 32–34). Allerdings erinnert Lentz an Begebenheiten, die nicht der Gloire seines Heimatlandes dienen, etwa an den begeisterten Empfang der Sieger über Napoleon bei ihrem Einzug in Paris am 31. März 1814 (S. 13f.). Im Ergebnis widerspricht er in seinem gut und unterhaltsam geschriebenen Werk der lange gehegten französischen Grundannahme, dass sich der Wiener Kongress als Veranstaltung der Siegermächte gegen Frankreich gerichtet habe. Lentz schließt sich dem in der angloamerikanischen und der deutschen Forschung ausgemachten Konsens an, dass in Wien eine dauerhafte Friedensordnung unter Einschluss der Interessen Frankreichs etabliert worden sei. Dafür, dass französische Truppen zwanzig Jahre lang weite Teile Europas verheert und besetzt hatten, fiel der Frieden für Frankreich komfortabel aus. Dass dem so war führt Lentz auf die Persönlichkeit Talleyrands und dessen Agieren als Vertreter Frankreichs zurück. Aber eine zu starke Schwächung Frankreichs lag angesichts der zunehmenden Stärke Russlands weder im Interesse Englands noch Österreichs. Mit „Neugründung Europas“ meint Lentz, dass die vorrevolutionäre Ordnung nicht wiederhergestellt bzw. restauriert, sondern eine Friedensordnung auf neuer Basis hergestellt werden sollte, deren Etablierung bei den Zeitgenossen für „großen Optimismus“ sorgte (S. 354). Wenn bei Lentz auch das Politische im Vordergrund steht, geht er doch mit hoher Kompetenz auf kulturelle Ereignisse ein, zum Beispiel auf die Bedeutung des Kongresses für das Werk Ludwig van Beethovens und seine Verbreitung in Europa. Von praktischem Nutzen ist die konkrete Auflistung aller 17 Anhänge der Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 (mit insgesamt 250 Artikeln), die laut Artikel 118 zusammen mit dem Haupttext (122 Artikel) in Kraft traten (S. 335–337). Interessanterweise rekurriert Lentz am Ende (S. 358) auf den in Deutschland nur selten zitierten Saarbrücker Historiker Jean-Baptiste Duroselle, der später das „Institut d’histoire des relations internationales contemporaines“ an der Sorbonne leitete, um – wohl mit Blick auf die Gegenwart – zu unterstreichen, dass die Kraft zum Kompromiss in Wien das Fundament für die politische Stabilität Europas gelegt hat.5

Von englischer Seite schlüsselt der amerikanische Jurist und Rechtshistoriker Mark Jarrett den Wiener Kongress und die anschließenden Jahre der Kongressdiplomatie auf. Sein Held ist der englische Außenminister Castlereagh, an dessen Biographie er gegenwärtig arbeitet. Explizit wendet sich Jarrett gegen die anachronistische Bewertung des Kongressgeschehens und der Ergebnisse durch Zamoyski. Er betont, dass die Kongressteilnehmer alle Kinder der Aufklärung waren und in den 23jährigen Kriegen von 1792–1815 einem langen Lernprozess unterworfen waren, der sie gelehrt hatte, Mäßigung zu üben und Kompromisse einzugehen. Ihre politische Welt war die des 18. Jahrhunderts und deswegen wussten sie genau, dass es dorthin kein Zurück mehr gab. Die Absicht der führenden Kongresspolitiker war es, durch Kompromisse Konflikte beizulegen und Mechanismen zur Bewältigung künftiger Konflikte zu schaffen. Dabei wurde neues Terrain beschritten mit der Abschaffung des Sklavenhandels, der Judenemanzipation, der Freiheit der Flussschiffahrt und der Empfehlung, die Bevölkerung durch Verfassungen politisch zu beteiligen. Das System der Legitimität schützte nicht nur Monarchien, sondern auch Stadtrepubliken und die Schweizer Eidgenossenschaft, eine föderale Republik, deren Territorium erheblich vergrößert wurde (um das ehemalige Fürstbistum Basel, das ehemalige Reichsfürstentum Neuenburg, die Kantone Aargau, Waadt und Wallis), deren innere Konflikte mit einer liberalen Verfassung entschärft wurden und der politische Neutralität garantiert wurde.

Jarretts Publikation ist interessant, weil sie sich mit der politikwissenschaftlichen Aneignung des Stoffes auseinandersetzt. An Paul W. Schroeder arbeitet Jarrett heraus, dass er bei den Verhandlungspartnern von 1815 nicht nur ein Streben nach einem Gleichgewicht der Mächte (balance of powers), sondern nach einem gerechten Gleichgewicht (just equilibrium) sieht, gekennzeichnet durch gegenseitige Zurückhaltung und Achtung des Völkerrechts. Darin sei eine „diplomatische Revolution“ zu sehen, und der geschmähte Kongress von Reaktionären mutiert zu einem „wahrhaft revolutionären“ Ereignis. Darüber hinaus zieht Jarrett den Politikwissenschaftler Andreas Osiander heran, bei dem die von der Französischen Revolution verursachte Legitimitätskrise zur Suche nach neuen Prinzipien führte.6 Dies sei der Grund, warum auf dem Kongress so häufig von „Prinzipien“ die Rede gewesen sei. Die erstaunlichste Neuerung liege in dem hohen Abstraktionsniveau der Verhandlungen, in denen zeitgenössisch der Begriff des „Systems“ ins Spiel gebracht wurde, der bis heute verwendet werden kann. G. John Ikenberry betrachtet die Institutionenbildung als das entscheidende Ergebnis des Wiener Kongresses, also die Umsetzung des momentanen Willens zur Zurückhaltung in einen dauerhaften institutionellen Rahmen: durch Verträge und regelmäßige Kongresse wurde ein Sicherheitsmechanismus entworfen, der ein zukünftiges Konfliktmanagement zum Ausgleich der strategischen Interessensgegensätze ermöglichte.7

Jarrett befürwortet einen „levels-of-analysis approach“ (S. 154), der auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Sichtweisen zulässt. An die Quellen gebundene Historiker bewegen sich demnach zunächst auf einer ersten Ebene, auf der geklärt wird, was A sagte und B tat und wie sich C dazu verhielt. Auf einer zweiten Ebene könne man von den konkreten Aktionen und Plänen, Streitereien und Erfolgen abstrahieren und die leitenden Interessen der Parteien als eine Funktion der geopolitischen Realitäten betrachten. Die persönliche Freundschaft zwischen Castlereagh und Metternich wäre dann eine Funktion der Tatsache, dass Britannien und Österreich nach dem 1. Pariser Frieden saturierte Mächte waren. Der „Tanz der Allianzen“ (dance of alliances) wäre eine Folge der Tatsache, dass Russland, Preußen und Frankreich konfligierende Erweiterungsziele gehabt hätten. Auch die vorhandenen Mittel – russische Riesenarmee versus englische Seemacht und Überredungskünste – gehören auf diese Ebene. Eine dritte und letzte Ebene stelle dann das internationale System der Beziehungen selbst dar. Auf dieser Ebene habe sich auf dem Wiener Kongress der entscheidende Schritt auf dem Weg zum modernen Staatensystem (modern state system) vollzogen. Weil die Revolution alle Staatengrenzen in Frage gestellt hatte und kriegerische Anarchie drohte, sollte eine Garantie der fünf Großmächte das Staatensystem stabilisieren. Der Preis dafür war eine Vereinfachung der Landkarte und der Verlust der Eigenstaatlichkeit für zahlreiche Kleinstaaten, die durch die Stärkung Preußens und Savoyens perspektivisch die Staatswerdung Deutschlands und Italiens erst ermöglicht habe (S. 149–157).

Etwas ratlos lässt einen die Publikation von Wolf D. Gruner „Der Wiener Kongress 1814/15“ zurück. Entgegen dem Titel behandelt dieses Büchlein den viel längeren Zeitraum von 1750 bis 1849. Nach der Einleitung beschäftigen sich nicht weniger als drei ganze Kapitel mit der Vorgeschichte, nur ein, allerdings langes, Kapitel (S. 70–192) hat den Wiener Kongress selbst zum Thema. Der Rostocker Emeritus konzentriert sich darin auf die politischen Verhandlungen, geordnet nach drei Problemfeldern (deutsche Verfassungsfrage, polnisch-sächsische Fragen, sonstige Fragen), sowie dem Zustandekommen der Verträge (Deutsche Bundesakte, Wiener Schlussakte). Zwei weitere Kapitel haben Folgen und Rezeption der Verträge zum Gegenstand. Der Anhang enthält eine Zeittafel, die von 1795 bis 1820 reicht (S. 241–246). Vieles in diesem Buch erinnert mich an Vorlesungen, die ich in den 1970er-Jahren bei dem Münchner Historiker Eberhard Weis (1925–2013) gehört habe. Neuere Literatur wird erwähnt, aber nicht wirklich verarbeitet. Um Missverständnissen vorzubeugen: Gruners Buch enthält abgesehen von dieser Rezeptionsverweigerung keine offensichtlichen Fehler. Ihm fehlt aber die präzise Begrifflichkeit eines Jarrett, die Abgewogenheit eines Duchhardt, die Didaktik eines Stauber oder die Eloquenz eines Lentz oder Zamoyski. Es wirkt in seiner Eindimensionalität wie die Flaschenpost aus einer vergangenen historiographischen Epoche.

Ausgehend von dem berühmten Zitat des Fürsten Charles Joseph de Ligne (1735–1814): „Le Congrès dance, mais il ne marche pas“8, hat der Wiener Kongress immer schon zu kulturgeschichtlichen Exkursen angeregt. Die Kulturwissenschaftlerin/Volkskundlerin Hazel Rosenstrauch hat wie einige andere österreichische Autoren den kulturellen Aspekt in den Mittelpunkt gestellt. Der Aufriss ihres Programms ist so gedankenreich wie konfus – „Gegensatzpaare prüfen“ (männlich/weiblich, Adel/Bürgertum, Reaktion/Fortschritt, Muße/Arbeit) und nach dem „weiblichen Prinzip“ suchen (S. 11f.) – und kann am Ende nicht eingelöst werden. „Die Damen“ stehen im Mittelpunkt dieses Buches, und da macht es auch nichts, wenn sie sich überhaupt nicht in Wien befanden (z.B. S. 102–117). „Während der Arbeit an diesem Buch habe ich mehrmals versucht, mich mit den 200-jährigen Damen zu unterhalten.“ (S. 158) Das konnte nicht gutgehen. Rosenstrauchs feministische Neuinterpretation der selbstbewussten Aristokratinnen leuchtet sofort ein. Doch insgesamt leidet dieser überlange Essay an einem Übermaß an Fiktion. Und die ständige Mobilisierung von Gemeinplätzen, die eine direkte Verbindung zur Gegenwart herstellen sollen, hinterlässt trotz – oder vielleicht wegen – des flotten Stils und der guten Absichten einen schalen Nachgeschmack. Das Zitat zum Schluss: „Und wenn sie nicht gestorben wären, würden sie heute noch […] hüpfen und tanzen“ (S. 163) gibt in etwa die Haltung dieser Publikation wieder. Über präzise Fakten meint die Autorin, man könne „sie in jedem Lexikon nachschlagen“ (S. 132). Ich nehme dies als Plädoyer dafür, sich lieber anderen Büchern zuzuwenden.

An ein breites Publikum wendet sich auch das Buch der beiden „staatlich geprüften Wiener Fremdenführerinnen“ Anna Ehrlich und Christa Bauer mit dem Potpourri-Untertitel „Diplomaten, Intrigen und Skandale“. Überraschenderweise erweist sich der professionelle Blick der Fremdenführerinnen als Vorteil, denn der kaiserlichen Administration lag viel daran, es den etwa 100.000 Fremden (andere Autoren gehen realistischer von 30.000 aus), die während des Kongresses – zusätzlich zu den ca. 250.000 regulären Einwohnern – in Wien weilten, einen interessanten Aufenthalt zu bieten, um einen erfolgreichen Ablauf des Kongresses zu ermöglichen. Kultur wird hier nicht als Beiwerk, sondern als essentielle Zutat begriffen, deren Präsentation der gründlichen Planung bedarf („Die Situation in Wien“, „Die Vorbereitungen“, S. 32–67). In keiner anderen Publikation habe ich bisher die Liste der Wiener Sehenswürdigkeiten, die das Obersthofmarschallamt zusammenstellen ließ, auch nur erwähnt gefunden. Ehrlich und Bauer arbeiten hier und in vielen anderen Fällen mit Archivquellen, die in didaktischer Manier abgebildet werden (S. 60–65). Viele Passagen dienen allerdings dazu, den unkundigen Leser an die Thematik heranzuführen (z.B. „Vorgeschichte“ S. 16–32) oder anderswo präziser Dargelegtes (z.B. „Die Gastgeber“, „die Gäste“, S. 68–106, „Der Kongress arbeitet“, S. 183–260) vereinfacht darzustellen. Diese Passagen werden Fachleuten überflüssig oder unterkomplex vorkommen. Die Stärke des Buches liegt bei der Darstellung der Kulturveranstaltungen (S. 134–182) und bei den „Nachwirkungen“ in Wien und Österreich. Feste werden wie das oft erwähnte Augartenfest vom 6. Oktober 1814 detailreich vor Augen geführt: Zu diesem Event kamen Monarchen und Hochadel, es handelte sich aber um die kommerzielle Veranstaltung des Gastwirts Franz Jahn (1778–1833). Massenchoreographien von Kriegsinvaliden, Militärkapellen, Eventorte wie nachgebaute Monumente aus Moskau (Kanonenturm) oder Berlin (das Brandenburger Tor!), eine Neptungrotte und eine Lanzenallee, ein Turnierplatz mit Tribüne, Kunstreiter, Pferderennen, gymnastische Spiele, Sacklaufen und Vogelschießen zeugen von seinem Einfallsreichtum. Das Preisschießen gewann wohl nicht zufällig der Sohn des Tiroler Rebellen Andreas Hofer. Dazu gab es Trachtentänze und Gesänge aus vielen europäischen Ländern sowie einen bemannten Luftballonaufstieg, bei dem aus der Luft Fähnchen mit den Wappen der teilnehmenden Nationen abgeworfen wurden. Der Eintritt zu dieser Volksbelustigung kostete 2–6 Gulden. Bei geschätzten 20.000 Teilnehmern dürfte der Wirt ein ordentliches Geschäft gemacht haben (S. 156f.). Ein überraschendes und unterhaltsames Buch, aber eher für Nichthistoriker geeignet.

Der Wiener Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Hannes Etzlstorfer umreißt sein Thema mit dem Untertitel „Redouten, Karoussel und Köllnerwasser“. Seine Darstellung konzentriert sich auf die kulturelle Dimension der Events. Diese werden mit Hilfe plastischer Quellenzitate dargestellt und anhand theoretischer Literatur gekonnt interpretiert, etwa die Redouten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Tanztheorie: „Zweck des Tanzens“ war neben der „gesunden Bewegung“ nichts weniger als die Öffnung der Herzen für „frohe Empfindungen“ durch die Kombination von Musik, Bewegung und Erleuchtung. Ihre Ästhetik sichere der Tanzkunst „den ersten Rang unter allen körperlichen Übungen“ (S. 104f.) – so gesehen hatten die Tanzveranstaltungen eine wohlkalkulierte psychologische Funktion. Zu den Redouten und Musikveranstaltungen in der Hofreitschule konnten Eintrittskarten erworben werden, wie aus Zeitungsinseraten hervorgeht. Auch dies ein gutes Geschäft bei den geschätzten 10.000 Teilnehmern (S. 104–107). Die hohen Besucherzahlen kamen dadurch zustande, dass man den gesamten Redoutensaaltrakt der Hofburg öffnete und mit der angrenzenden Winterreitschule kombinierte.9 Etzlstorfer versteht es, über die selten genutzte Quelle der Zeitungsreportagen genaueres über die Kulturveranstaltungen herauszufinden. Das Ergebnis ist absolut lesenswert, da selbst scheinbar bekannte Ereignisse ein anderes Ansehen gewinnen. Immer wieder findet man z.B. erwähnt, dass Ludwig van Beethovens (1770–1827) große Symphonie zu Ehren des englischen Feldherren Wellington (Opus 91) während des Kongresses aufgeführt wurde. Bei Etzlstorfer erfahren wir, dass dies am Heiligabend (24. Dezember 1814) geschah (fehlt in Staubers Zeittafel), und dass dafür der Große Redoutensaal in der Hofburg genutzt wurde. Wellington war nicht anwesend und es handelte sich um keine Gedenkveranstaltung für die Schlacht bei Vitoria (vom 21. Juni 1813). Veranstalter war auch nicht der Hof, sondern der Bürgerspitalfonds. Die Musikveranstaltung kostete Eintritt und der Erlös der mehreren tausend Tickets kam der Versorgung verarmter Bürger Wiens zugute. Es handelte sich also um eine Charity-Veranstaltung (S. 24–25). Dieses Buch hält allen Belastungsproben stand und ist eine angenehme Überraschung.

Eine Sonderstellung nimmt schon vom Format her die gewaltige Publikation „Der Wiener Kongress – die Erfindung Europas“ ein, die von den österreichischen Archiven ausgeht und bei Quellen und Bebilderung schon deshalb keine Probleme hat. Von den Herausgebern Thomas Just, Leiter des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, und Helene Maimann, Ausstellungskuratorin, Fernsehredakteurin und Filmregisseurin, wird der Terminus „Erfindung Europas“ leider nicht weiter begründet. Bereits eine einfache Titelnennung, geschweige denn Inhaltsangabe der 22 Textbeiträge von namhaften Autoren, darunter Dieter Langewiesche und FAZ-Redakteur Andreas Platthaus, würde hier zu weit führen. Hervorgehoben seien aber die Beiträge von Christian Cwik, Professor an der University of the West Indies in Trinidad and Tobago, über „Die amerikanische Dimension des Wiener Kongresses“ (S. 120–145), der Beitrag von Ferdinand Opll, Direktor des Wiener Stadtarchivs, über die Veränderung des Wiener Stadtbilds um 1800 (S. 146–161), von Ernst Strouhal über Spiele (S. 220–235), von Shulamit Volkow (Tel Aviv) über die Emanzipation der Juden am Wiener Kongress (S. 236–254), von Peter Rauscher über „die Kosten des Wiener Kongresses“ (S. 254–267), von Monica Kurzel-Runtscheiner, Direktorin der Kaiserlichen Wagenburg, über die Kongresslogistik (S. 286–305), von Ingrid Haslinger über die „Hofwirtschaft während des Wiener Kongresses“ (S. 320–337), von Sylvia Mattl-Wurm, Leiterin der Wien-Bibliothek im Rathaus, über „Intelligänse und Elegänse. Politisierende Frauen und Frauen der Politik 1814/15“ (S. 338–352) und schließlich von Mitherausgeber Thomas Just über die Überreste des Wiener Kongresses im Archiv (S. 410–424). In Erinnerung bleiben wird dieser Band vor allem durch seine großartige Ausstattung mit hunderten von großformatigen farbigen Abbildungen von Archivmaterial, Graphiken und Gemälden, vieles davon bisher unbekannt. Dieses Buch stellt uns den Kongress in völlig neuer Intensität vor Augen und sollte daher zur Ausstattung jeder einschlägigen Bibliothek gehören.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Kongressjubiläum zu reichen Erträgen geführt hat. Diese liegen vor allem in der Erforschung des Kulturlebens zur Kongresszeit, das heute viel plastischer als je zuvor zutage liegt. Auch wenn sich Politikhistoriker gegen eine Präponderanz der Kultur zu wehren beginnen, so wird doch immer deutlicher, welche Bedeutung die Kultur für das Funktionieren der Großveranstaltung spielte. Konfliktabbau und die Schaffung gemeinsamer Erlebnisräume außerhalb des Schlachtfeldes, auch Exzesse und erotische Nähe über Grenzen hinweg begleiteten die politische Vision von einem geordneten gemeinsamen Europa. In den Publikationen wird deutlich, dass vieles ungeplant und unplanbar war, aber dennoch eine diskrete Regie am Werke war. Die Faszination der Kultur rührt wohl auch daher, dass auf diesem Feld immer noch Neues in den Quellen zu finden ist – und auch in theoretischer Hinsicht wurde es noch nicht ausgereizt. Dagegen halten sich die Neuerungen auf dem Gebiet der politischen Geschichte doch in Grenzen. Von „Restauration“ möchte bei den gehaltvollen Neuerscheinungen keiner mehr sprechen, aber ansonsten erweisen sich die Narrative über die Bedeutung als weitgehend stabil.

Eine Nuance liegt in der Bewertung des Nationalismus, der die Ergebnisse des Kongresses letztlich in Frage stellte. Während Zamoyski die Fahne Polens hochhält, graut Lentz bei dem Gedanken, welches Schicksal Frankreich drei Generationen später auf einem solchen Kongress hätte blühen können, wo die Besiegten nicht einmal mehr angehört wurden. Die Wiener Schlussakte zeugt sicher von einem nobleren Umgang mit dem Kriegsverlierer als der Versailler Vertrag (Lentz, S. 351). Interessant ist allerdings die Neubewertung des Wiener Kongresses in Auseinandersetzung mit der Politikwissenschaft, die zur Interpretation nicht nur ein neues Vokabular zur Verfügung stellt, sondern auch an den Stellschrauben dreht.

Erstaunlicherweise ist allen Autoren ein Thema entgangen, das in der Geschichtsforschung wohl an Fahrt aufnehmen wird: das Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Etzlstorfer berücksichtigt als einziger die Witterung während der Kongresszeit (S. 97). Aber die Herausforderung ist eine andere: Napoleon wurde zeitgenössisch oft mit einem Vulkan verglichen10, doch während seiner Rückkehr im Frühjahr 1815 brach tatsächlich ein Vulkan aus, der die Welt in den nächsten Jahren weitaus mehr beschäftigen sollte als die Folgen der Napoleonischen Kriege oder die Beschlüsse von Wien. Kaum zu fassen, dass dies allen Autoren entgangen ist, die ihre Darstellung nicht mit der Verabschiedung der Wiener Schlussakte abbrechen (z.B. Zamoyski, Jarrett, Gruner und Ehrlich/Bauer). Üblicherweise beziehen Historiker die Rebellionen und Befreiungskriege in Serbien, Griechenland oder Lateinamerika oder die Kolonialkriege in Indien und China ein. Vergessen wird dabei oft, dass sich die Hoffnungen nach Wiederherstellung des Friedens in Europa zuerst auf die Wirtschaft richteten. Die Neujahrsausgaben der Zeitungen sind voll von diesen Erwartungen. Aber 1815–1820 trat eine veritable ökonomische, soziale und ökologische Krise ein. Und diese führte zu einer politischen Krise, die das Wiener Ordnungsgefüge herausforderte. Teuerung und Not, Rebellionen, Selbstmordattentate und antisemitische Pogrome hatten jedoch nichts mit den Napoleonischen Kriegen oder dem Wiener Kongress zu tun, sondern wurden durch ein externes Ereignis verursacht: den Ausbruch des Tambora im heutigen Indonesien, den größten Vulkanausbruch in den letzten Jahrtausenden. Manche angebliche Folgen des Wiener Kongresses nehmen sich anders aus, wenn man die Tamborakrise in die Überlegungen mit einbezieht. Und da wir heute unter ähnlichen Krisensymptomen leiden, beginnen wir vielleicht zu verstehen, dass die Aufrechterhaltung der zivilen Ordnung für die damalige Gesellschaft einen Wert an sich darstellte.11

Dies ist im Übrigen auch das Resümée von Wolfram Siemans bahnbrechender Biographie des österreichischen Staatskanzlers Metternich, welche die alten Klischees zu diesem vermeintlichen „Reaktionär“ mit einem kräftigen Veto der Quellen in Frage stellt.12 Wenn Siemann auch die Tambora-Eruption nur am Rande erwähnt (S. 644) und ihn nicht interessiert, dass die Unruhen in allen europäischen Ländern (und darüber hinaus in Nordamerika, Südafrika, Indien und China) hier ihre gemeinsame Ursache haben, so weist er doch zu Recht auf die explosive Zeitstimmung hin, die die Wendung zu einer repressiven Politik nicht allein in Deutschland und Österreich erforderte, sondern auch in Frankreich, Großbritannien und anderswo. Die Terrorgefahr in unserer Gegenwart hat unseren Blick dafür geschärft, dass Freiheit ohne Ordnung keinen Bestand hat. Siemann betont, dass „Ruhe und Ordnung“ auch für Metternich keinen Selbstzweck darstellten, sondern die Voraussetzung zur Erreichung eines „Äquilibriums“, eines Gleichgewichts der Interessen der beteiligten Mächte auf der Basis gemeinsamer Rechtsvorstellungen, und eines Gleichgewichts innerhalb der Staaten, das Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglichen sollte (S. 498). Der Wiener Kongress aus der Sicht des „Postmodernen aus der Vormoderne“ (S. 864), wie sie uns der Münchner Historiker als Teil seiner Metternich-Biographie in abstrakt-analytischer Form bietet, stellt eine gelungene und instruktive Abrundung des Gesamtbildes dar.

Gewinnen wir also ein neues Bild vom Wiener Kongress? Die Antwort ist ja und nein. Die reinen Fakten und Interpretationen, wie sie uns Duchhardt auf knappem Raum darbietet, haben sich nicht geändert. Aber das Gesamtbild hat an Tiefenschärfe gewonnen, wenn wir die neu gezeichnete Person des Gastgebers, die Semantiken der kulturellen Vergemeinschaftung, die Vielschichtigkeit der Kongressnutzung, die neuen Analysen der zeitgenössischen Kommunikationsformen oder die neuen Abstraktionsebenen des politischen Systemdenkens, die man den Verhandlungen aus heutiger Sicht abgewinnen kann, in Rechnung stellt. Für den Lehrbetrieb, aber auch für den allgemein historisch interessierten Leser sind nicht zuletzt die neu bereitgestellten Quellenmaterialien, die Analysen von Spezialbereichen und die tabellarischen Überblicke über die akkreditierten Kongressteilnehmer, die Kommissionsmitglieder, die Kongressmaterien, die Kosten, der Festverlauf, die allgemeine Chronologie, etc., eine willkommene Bereicherung. Von allen Jubiläen, die uns von der historischen Kulturindustrie in den letzten Jahren angetragen worden sind, war dieses – vielleicht überraschenderweise – eines der Ertragreichsten.

Anmerkungen:
1 Angaben von den Websites der Autorin <http://www.alexandrableyer.at/> (22.07.2016).
2 Die Rezensionen werden vom Buchrücken zitiert.
3 Jacques-Alain de Sédouy, Le Congrès de Vienne. L’Europe contre la France, 1812–1815, Paris 2003.
4 Henry A. Kissinger, A World Restored. Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace, 1812–1822, London 1957; ders., Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf 1962; Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994.
5 Jean-Baptiste Duroselle, L’Europe. Histoire de ses peoples, Paris 2000.
6 Andreas Osiander, The States System of Europe, 1640–1990. Peacemaking and the Conditions of International Stability, Oxford 1994.
7 G. John Ikenberry, After Victory. Institutions, Strategic Restraint, and the Rebuilding of Order after Major Wars, Princeton UP 2001.
8 Der ordentliche Beleg des Zitats aus einer Quelle (es gibt mehrere) mag als Indikator für die Arbeitsweise der Autoren dienen (sofern sie das Zitat verwenden). Ein Beleg ist vorhanden bei: Lentz, S. 147; Etzlstorfer, S. 12; Bleyer, S. 23; und bei Schneider/Werner, S. 63. Er fehlt bei: Gruner, S. 7; Rosenstrauch, S. 87 bzw. 170; Ehrlich/Bauer, 14.
9 Dies erfährt man bei: Rainer Valenta, Die Privatbibliothek Kaiser Franz I. Politik und Geschichte im Spiegel einer Sammlung zur Zeit des Wiener Kongresses, in: Stauber/Kerschbaumer/Koschier, S. 187–208, 193.
10 Thomas Schuler, „Wie sind auf einem Vulkan“. Napoleon und Bayern, München 2015.
11 Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt veränderte, München 2015.
12 Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biographie, München 2016.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Weitere Informationen
Der Wiener Kongress
Sprache der Publikation
Der Wiener Kongress
Sprache der Publikation
Mächtepolitik und Friedenssicherung
Sprache der Publikation
Europa in Wien
Sprache der Publikation
Der Wiener Kongress 1814/15
Sprache der Publikation
Congress mit Damen
Sprache der Publikation
Der Wiener Kongress
Sprache der Publikation
Das System Metternich
Sprache der Publikation
Der Wiener Kongress
Sprache der Publikation
1815
Sprache der Publikation
Der Wiener Kongress
Sprache der Publikation
1815
Sprache der Publikation
The Congress of Vienna and its Legacy
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension