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Titel
Hitlerjunge Schall. Die Tagebücher eines jungen Nationalsozialisten


Autor(en)
Postert, André
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Janosch Steuwer, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

In der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus genießen Tagebücher seit Langem besondere Aufmerksamkeit. Durch Editionen fanden dabei bislang vor allem zwei Personengruppen Gehör. Zum einen waren dies die Angehörigen der politischen oder militärischen Eliten des Nationalsozialismus, auf deren Stimmen die historische Forschung zur Rekonstruktion der Entscheidungsdynamiken innerhalb des NS-Regimes angewiesen war. Zum anderen – und seit den 1980er-Jahren in zunehmendem Maße – gaben Tagebuchveröffentlichungen den Opfern nationalsozialistischer Gewalt in Öffentlichkeit und Forschung konkrete Gesichter und Geschichten.

In den letzten Jahren sind neben diese Veröffentlichungen zunehmend Tagebücher einer dritten Gruppe von Autorinnen und Autoren getreten: Aufzeichnungen von Menschen, die sich als einfache Mitglieder nationalsozialistischer Verbände oder untere Funktionäre für den Nationalsozialismus engagierten. Welches Erkenntnispotenzial, aber auch welche Probleme die Veröffentlichungen von Tagebüchern des „ideologischen Proletariats“ der NS-Bewegung (Lutz Niethammer) bergen, lässt sich an der hier zu besprechenden Publikation diskutieren. Das Buch, das unverständlicherweise als Autorenbuch des Dresdener Historikers André Postert, nicht als herausgegebenes Werk firmiert, enthält den Text der Tagebücher von Franz Albrecht Schall. 1913 im thüringischen Altenburg geboren, wuchs Schall in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus auf und wurde im Alter von zwölf Jahren Mitglied im Bund Deutscher Neupfadfinder. Dies war in doppelter Hinsicht prägend für den im Buch präsentierten Tagebuchtext: Zum einen fand Schall von hier aus 1930 den Weg in die Hitlerjugend. Zwei Jahre später trat er in die NSDAP ein und blieb auch nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler in der NS-Bewegung aktiv. 1938 wurde er schließlich nach einem dreijährigen Studium an der Universität Jena Lehrer an der Adolf-Hitler-Schule in Sonthofen, an der er bis Kriegsende lehrte. Neben seiner Karriere in der NS-Bewegung verdankte Schall seinem Eintritt in die Pfadfinderbewegung zum anderen das Tagebuchschreiben. Mit dem hatte er auf den Fahrten begonnen, die er mit den Neupfadfindern Mitte der 1920er-Jahre unternahm, und auch in den folgenden Jahren seiner bis in den Sommer 1935 reichenden Aufzeichnungen bildete die Beschreibung seines Engagements in der Hitlerjugend ein zentrales Thema.

André Postert hat zu dem Tagebuchtext einleitende Kapitel verfasst, die heutigen Lesern dessen historischen Kontext verständlich machen sollen. Zudem werden von Schall erwähnte Namen und Ereignisse in kurzen Fußnoten erläutert. Dabei haben Kommentierung und Kontextualisierung kein wissenschaftliches, sondern ein allgemeines Publikum im Sinn. Die Bemerkungen zum geschichtlichen Hintergrund orientieren sich an den klassischen Stichwörtern der Geschichte vom Scheitern der Weimarer Republik: wirtschaftliche Krise, Aufstieg der politischen Extreme, Young-Plan, Präsidialkabinette. Ärgerlich ist, dass dadurch der konkrete Kontext der Aufzeichnungen gerade für Nichtexperten nicht ersichtlich werden kann: Franz Schalls Eintritt in die „Hitlerbewegung“ im thüringischen Altenburg zu Beginn des Jahres 1930 vollzog sich vor dem Hintergrund der ersten deutschen Regierung mit NSDAP-Beteiligung, die eben zu dieser Zeit in Thüringen ins Amt trat. Die Baum-Frick-Regierung, die in der standardisierten Erzählung vom Ende der Weimarer Republik nur eine Randepisode ist, für Schall jedoch den Horizont seines Engagements prägte, spielt in den einführenden Erläuterungen keine Rolle. Nicht einmal ihr spektakuläres Scheitern ein Jahr später, das im Tagebuch in ausführlichen Beschreibungen mehrerer Propagandaveranstaltungen präsent ist, wird erläutert.

Problematischer als solche Lücken in der Kommentierung ist jedoch der grundsätzliche Effekt, den diese für die Lektüre des Tagebuchtexts entfaltet: Was im Quellentext nicht mit erläuternden Kommentaren versehen ist, erscheint Lesern leicht als auch ohne weitere Kontextualisierung unmittelbar verständlich. André Postert führt solch naives, unbekümmertes Lesen in seiner Interpretation des Tagebuchtextes zudem vielfach vor. Für ihn besitzen Tagebücher eine „besondere Faszination“, weil sie „die subjektive, individuelle und bisweilen hoch emotionale Seite der Großen Geschichte“ „greifbar und zumindest als Ahnung erlebbar“ machen würden (S. 9). Dass die methodische Auseinandersetzung mit dieser Quellengattung eine solche nachfühlende Perspektive auf Tagebücher inzwischen vielfach zurückgewiesen hat, ficht ihn dabei nicht an; überhaupt fehlt in dem Buch jeglicher Verweis zur methodischen Diskussion um die Quelle Tagebuch. Postert liest den Tagebuchtext stets als direkte Verschriftlichung des „Denken[s] und Seelenleben[s]“ (S. 24) seines Autors, als das „radikale Stimmungsbild eines Jugendlichen, der in der Hitlerjugend eine Aufgabe von geradezu messianischer Qualität für sich entdeckte“ (S. 22).

Dies zeigt bereits sein editorischer Umgang mit dem Quellentext: Statt dem Original hat sich vom Schall’schen Tagebuch nur eine Abschrift erhalten, die in den 1930er-Jahren durch einen Professor veranlasst wurde, den Franz Schall während seines Studiums kennengelernt hatte. In den 1970er-Jahren wurde diese Abschrift zudem um eine revisionistische Kommentierung ergänzt, mit der sie dann in „Ehemaligen“-Kreisen zirkulierte. Doch diese Bearbeitungsspuren übergeht die Edition. Ebenso werden eigene Auslassungen und Korrekturen von Postert zwar allgemein angesprochen, deren Prinzipien aber ebenso wenig erläutert wie im Abdruck der Aufzeichnungen kenntlich gemacht. Gleichwohl prägen sie den präsentierten Text: Dass sich die Tagebucheinträge „flüssig lesen“ lassen, wie andere Rezensionen lobten, ist ein starker Hinweis auf die verschiedenen Bearbeitungsdurchgänge1, die der Text durchlaufen hat, den Postert dennoch stets als Ausdruck der Innerlichkeit seines Autors präsentiert: als einen „Ausnahmefund“ (S. 8), der die „wichtige, vielleicht einmalige Möglichkeit“ (S. 23f.) eröffne, das Denken und Fühlen eines Hitlerjungen zu erfassen.

Damit bestimmt das unbekümmerte Lesen auch Posterts Quellenintepretation. Für ihn ist Schall ein „verführter Jugendlicher“ (S. 10), sein Tagebuch „ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie stark das HJ-Erlebnis das Denken und Handeln eines jungen Menschen nachhaltig prägen konnte“ (S. 338). Diese Interpretation gründet auf einer einfachen Beobachtung und einer ebenso einfachen Gleichung: Die Beobachtung bezieht sich auf die Ähnlichkeit der Tagebucheintragungen mit Beschreibungen in offiziellen Schriften der NS-Bewegung. Die Gleichung mobilisiert anschließend die unreflektierte Vorstellung vom Tagebuch als „authentische“ Quelle privater Gedanken für eine Kausalbehauptung: Weil die Tagebucheinträge der Propaganda des Nationalsozialismus so ähneln, zeige sich in ihnen, wie die Propaganda das private Denken geprägt habe. „Was der erfolgreiche UFA-Propagandafilm ‚Hitlerjunge Quex‘ 1933 inszenierte, spiegelt sich in Schalls Tagebüchern tatsächlich und durchgängig“ (S. 23). Postert präsentiert diese Interpretation mit großer Selbstsicherheit; mit Blick auf Schalls Eintragungen zum sogenannten Röhmputsch betont er sogar, diese Einträge ließen sich „nur“ in der von ihm präsentierten Weise deuten (S. 288).2 Doch hieran zeigt sich letztlich nur besonders deutlich das Problem, das mit der Stilisierung von Schalls Tagebuch zum „einzigartigen Zeitdokument“ entsteht.

Anders als Postert glaubt, lassen sich ähnliche Tagebücher aus der Zeit vor und während der NS-Diktatur durchaus zahlreich in Archiven finden.3 Hierauf verweist schon die Entstehungsgeschichte der Schall’schen Aufzeichnungen: In der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts war das Führen eines Tagebuchs insgesamt eine verbreitete Praxis und auch die Hitlerjugend führte diese Tradition in den 1930er-Jahren fort. Die Aufzeichnungen von Franz Schall sind insofern keineswegs „recht einzigartig“ (S. 8). Dies spricht nicht gegen sie, jedoch gegen Posterts Interpretation. Denn liest man die Aufzeichnungen von Franz Schall im Wissen um ähnliche Tagebücher, ist unübersehbar, dass sich auch seine Eintragungen im Rahmen bestimmter Sprechweisen und thematischer Grenzen bewegen, die diese Tagebücher insgesamt prägen. Dass die Tagebücher (junger) NS-Aktivisten stark durch Stereotype geprägt waren und dagegen in weitaus geringerem Maße die je eigenen Gedanken ihrer Autoren ausdrückten, war dabei Programm in einer politischen Bewegung, die vor allem umfassende Gefolgschaft einforderte. Nationalsozialist zu sein bedeutete dem eigenen Anspruch nach nicht, sich eigene Gedanken über Politik zu machen, sondern in einer „nationalsozialistischen“ Art und Weise zu denken.

Diese ergab sich nicht von selbst, sondern bedurfte eines aktiven Bemühens um Anpassung, von der auch Schalls Tagebuch auf unterschiedliche Weise spricht – etwa dort, wo der junge Autor vom gemeinsamen Lesen nationalsozialistischer Propagandatexte in seiner HJ-Gruppe berichtet. Dies war eine Form, das richtige Sprechen etwa über NS-Propagandaaktionen zu lernen. Eine andere war deren Darstellung im Tagebuch: Dass Schall wirklich jeden Heimabend und „Werbemarsch durch Bocka, Pöppschen“ (S. 71) und andere Kleinstädte Thüringens als wichtigen „Dienst an der Bewegung“ (S. 86), als großartiges Ereignis auf dem Weg zur Erringung der politischen Macht beschrieb, verweist nicht auf eine tatsächlich grenzenlose Begeisterung. Es lässt sich plausibler als Teil des Bemühens verstehen, das private Tagebuch zum „Bewegungskalender“ (S. 131) zu gestalten und sich auch mittels der regelmäßigen Eintragungen seiner Zugehörigkeit zur NS-Bewegung zu versichern. Das Tagebuch war Teil des politischen Engagements der NS-Aktivisten, nicht das Refugium wirklicher Gedanken und Gefühle, wie Postert meint. Statt in den stereotypen Eintragungen den Beleg für die emotional überwältigende Kraft der NS-Propaganda zu sehen und in den Autoren „verführte Jugendliche“, lassen sich diese in entgegengesetzter Weise besser verstehen: als Ausdruck sehr aktiver, politisch motivierter Anstrengungen, sich bestimmte Sichtweisen, Gedanken und Gefühle gezielt anzueignen.

Tagebücher unterer NS-Aktivisten sind ein ausgesprochen interessantes Quellenmaterial für die NS-Forschung. Doch sie erfordern eine quellenkritische Reflexion, die Tagebucheditionen für die interessierte Öffentlichkeit kaum leisten können. Dies ist ein grundsätzliches Problem, das jedoch bei den Dokumenten von NS-Aktivisten besondere Schwierigkeiten birgt. Denn während ein unbekümmertes Lesen von Opfer-Tagebüchern durchaus dabei helfen kann, ein besseres Verständnis des Nationalsozialismus und seiner Gewalttätigkeit zu erlangen, führt es bei den Aktivisten von Hitlerjugend, NSDAP und anderen NS-Organisationen leicht dazu, schlicht dem Selbstbild aufzusitzen, das diese Autoren von sich zeichnen wollten. Statt diese Dokumente abzutippen und sie mit der eigenen fachlichen Autorität zum Ausdruck tatsächlicher Gedanken und Empfinden zu erklären, sollten sich Historikerinnen und Historiker besser darum bemühen, auch Nicht-Experten Lesarten dieser Quellen zu eröffnen, die Blicke hinter das Selbstbild der grenzenlos begeisterten, stets „führertreuen“ Hitleranhänger gewähren.

Anmerkungen:
1 So etwa Rainer Hering in: Damals, 01/2017, https://www.wissenschaft.de/rezensionen/buecher/hitlerjunge-schall-die-tagebuecher-eines-jungen-nationalsozialisten/ (02.03.2018). Zum fragmentarischen Charakter des Tagebuchs und dessen Veränderung durch nachträgliche Bearbeitungen siehe Philippe Lejeune, Wie Anne Frank ihr Tagebuch bearbeitete, in: ders.: Liebes Tagebuch. Zur Theorie und Praxis des Journals, München 2014, S. 195–235.
2 Eine andere Deutung habe ich an ähnlichen Tagebucheinträgen entwickelt in Janosch Steuwer, „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 425–428.
3 Siehe die Beispiele in: ebd.

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