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Titel
Luft-Züge. Die Geschichte der Rohrpost


Autor(en)
Arnold, Ingmar
Reihe
Edition Berliner Unterwelten
Erschienen
Anzahl Seiten
276 S., 146 s/w u. 40 farb. Abb.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Bettel, Institut für Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung, Universität für angewandte Kunst Wien

Mit „Luft-Züge“ legt Ingmar Arnold die Geschichte der heute weitgehend obsolet gewordenen Technik der Rohrpost vor, die nur noch in wenigen spezialisierten Bereichen wie beispielsweise beim hausinternen Transport von Geld und medizinischen Gütern Anwendung findet. Nahezu dreihundert reich bebilderte Seiten schildern die ersten Experimente und Unternehmungen mit der pneumatischen Antriebstechnik Anfang des 19. Jahrhunderts, die rasche internationale Expansion der Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre Automatisierung Anfang des 20. Jahrhunderts sowie ihr Verschwinden beginnend in den 1950er-Jahren. Dass die Stadtrohrpost zur logistischen Unterstützung der elektrischen Telegrafie im urbanen Raum nahezu ein Jahrhundert lang weite Verbreitung fand, ist heute kaum bekannt; vielleicht liegt hierin der Reiz des bereits im Jahr 2000 erstmalig veröffentlichten Sachbuches. Dem Autor gelang es bereits damals, die Genese der pneumatischen Antriebstechnik einem allgemeinen Publikum zu vermitteln und es in die vielfältigen heute vergessenen Applikationen einzuführen, die für lokomotivlose Eisenbahnen vorgesehen waren.

Um 1800 begannen englische Ingenieure und Unternehmer, die Pneumatik für die Verkehrstechnik zu adaptieren. George Medhurst war einer dieser Pioniere, er verfasste theoretische Abhandlungen und führte erste Versuche mit zwei Varianten des pneumatischen Antriebs durch, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutiert und umgesetzt wurden: die atmosphärische Eisenbahn sowie die pneumatische Bahn (S. 31ff.). Letztgenanntes System sah vor, Eisenbahnwaggons mittels Luftüber- bzw. -unterdruck in einer Röhre vorwärts zu schieben bzw. zu ziehen. In praktischen Versuchen konnte die Anwendbarkeit dieser Technik sowohl für Personentransport im urbanen Raum als auch für Gütertransport in Röhren mit geringem Durchmesser demonstriert werden. Mit der 1863 in London eröffneten Pneumatic Despatch Company nahm die erste kommerzielle Stadtrohrpost ihren Betrieb auf. Die Eröffnung markierte den Beginn einer raschen internationalen Verbreitung der Technik, die vor allem als „pneumatischer Telegraf“ – d.h. als vereinfachtes System, optimiert für den Transport von Telegrammen zwischen städtischen Telegrafenstationen – erfolgreich in Paris, Wien, Berlin und vielen weiteren Städten installiert werden konnte.

Arnold legt die weitere Entwicklung v.a. am Beispiel der Berliner Stadtrohrpost dar. Zunächst gingen die Ingenieure daran, das Röhrennetzwerk möglichst über die gesamte Fläche der Stadt zu legen. Um dem zusehends größer werdenden Aufkommen von Telegrammen entsprechen zu können, wurden organisatorische und technische Anstrengungen unternommen, die Manipulation der Büchsen in den Stationen zu optimieren. Die Antriebsmaschinen und Kompressoren mussten stetig ausgebaut und die Motoren nach und nach auf effizientere Energieträger wie Diesel und Elektrizität umgestellt werden. Das bauliche Ineinandergreifen von elektrischen und pneumatischen Telegrafen innerhalb der Station galt es architektonisch zu lösen. Schlussendlich stieg man beginnend in den 1920er-Jahren auf automatische Relais um, die das Umschichten und Sortieren der Büchsen in den Stationen weitgehend ersetzten, womit Verkehrsdichte und Geschwindigkeit auf den Rohrpostlinien erneut gesteigert werden konnten. Mit dem Ausbau und der zunehmenden Verbreitung der Telefonie sowie neuerer elektronischer Kommunikationstechnik wurde die Telegrafie aber weitestgehend obsolet – und mit ihr der pneumatische Telegraf.

Arnold ist es nicht nur in Form seiner nun neu überarbeiteten Publikation gelungen, sein jahrelang gesammeltes vielfältiges Wissen um die Herstellung und Anwendung der Technik in überschaubarer und gebündelter Form zugänglich zu machen; durch seine Tätigkeit als – sozusagen – Privatarchäologe und Sammler der Stadtrohrpost im Berliner Untergrund (gemeinsam mit vielen weiteren Mitstreiter/innen) hat er die Möglichkeit geschaffen, Artefakte und Installationen im Berliner Unterwelten-Museum besichtigen zu können. Der Autor macht keinen Hehl aus seiner Rolle als Fürsprecher der pneumatischen Antriebs- und Kommunikationstechnik. Im abschließenden Kapitel führt er einige technische Ideen an, nach denen das Konzept der Pneumatischen Bahn im 21. Jahrhundert auf neuartige Stadt- und Überlandbahnen angewendet werden soll. Einige dieser Visionen sind in den 16 Jahren, die zwischen den beiden Auflagen der „Luft-Züge“ vergangen sind, gealtert. Wenn der Verfasser die rhetorische Frage stellt, warum man „heutzutage noch Rohrposten bauen“ (S. 232) sollte, und seine positive Antwort mit Kosteneinsparungen begründet, die sich in D-Mark berechnen, so mag dies wohl auch ein Indiz für die „vergangene Zukunft“ (Reinhart Koselleck) der Stadtrohrpost sein.

Lange Zeit waren Pneumatische Bahn, Rohrpost sowie mit ihnen in Verbindung stehende Visionen Teil der Populärkultur. Das 19. Jahrhundert bietet ein breites Spektrum an technischen Abhandlungen, grafischen Darstellungen von und literarischen Zeitreisen zu möglichen Zukünften des pneumatischen Antriebs. Sie finden sich in populärwissenschaftlichen Zeitschriften, humoristischen Blättern und in der Science-Fiction-Literatur.1 Im Berlin der 1920er-Jahre war die Rohrpost Teil der Unterhaltungskultur, als man im sogenannten Residenz-Kasino Nachrichten von einem Tisch des Lokals zum anderen senden konnte (S. 167ff.). Und selbst heute noch scheinen gewisse Aspekte dieser Technik eine erstaunliche Anziehungskraft in der Ökonomie der Aufmerksamkeit auszuüben. Denn obwohl bislang keine wirtschaftliche Verwendung für den vom umtriebigen Unternehmer Elon Musk skizzierten Hyperloop absehbar ist, berichten Medien seit mittlerweile fünf Jahren ausführlich über diesen technischen Nachfahren von George Medhursts Vision aus dem Jahr 1810. „Luft-Züge“ vermittelt – auch anhand zahlreicher Darstellungen – den zwei Jahrhunderte lang geträumten Traum vom weltumspannenden Netzwerk aus Röhren, durch das man sich in wahnwitziger Geschwindigkeit um den Globus bewegen kann. Die Entwicklung der Technik selbst verharrt aber – so scheint es – im rasenden Stillstand.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Eberhard Illner / Matthias Winzen (Hrsg.), Technische Paradiese. Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts, Athena 2016.