S. Gottschalk: Kolonialismus und Islam

Cover
Titel
Kolonialismus und Islam. Deutsche und britische Herrschaft in Westafrika (1900–1914)


Autor(en)
Gottschalk, Sebastian
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mehdi Sajid, Universiteit Utrecht

Das hier zu besprechende Buch basiert auf der Doktorarbeit, die Sebastian Gottschalk 2016 an der Freien Universität Berlin einreichte. Im Zentrum seiner Studie steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen europäischen Diskursen über den Islam in Westafrika und der Praxis kolonialer Herrschaft in der Zeit von 1900 bis 1914. Der Autor unternimmt die schwierige Aufgabe, die Rolle des Islams und der Muslime in Nordkamerun und Nordnigeria unter deutscher und britischer Herrschaft zu beleuchten. Auf diese Weise will er die komplexen Interaktionen zwischen muslimischen Einheimischen und europäischen Kolonisatoren in einer breiten Region Westafrikas transregional und transnational erfassen. Die Herangehensweise orientiert sich an drei Hauptfragen: Erstens, welche widersprüchlichen Diskurse über den Islam im Allgemeinen und den westafrikanischen Islam im Besonderen prägten die Vorstellungen der Kolonialbeamten? Zweitens, wie haben sich diese Repräsentationen in der kolonialen Praxis vor Ort manifestiert? Und drittens, wie wirkten die gewonnenen Erfahrungen mit dem Islam in Westafrika auf Islamdiskurse in Europa zurück? Die Kolonialgeschichte Westafrikas als einen dreiteiligen diskursiven Zyklus zu begreifen, ist lobenswert. Eine solche Konzeptualisierung verspricht grundsätzlich mehr Rücksicht auf die zunehmenden Vernetzungen und Verflechtungen zwischen europäischen und außer-europäischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert. Aus diesem Grunde will der Autor nicht nur beleuchten, wie Kolonialbeamte auf die Bestände der Reiseliteratur und der sogenannten Kolonialwissenschaften zugriffen, sondern darüber hinaus auch, wie sie mit ihren Interaktionen vor Ort die Wissensproduktion über Islam und Muslime im Mutterland beeinflussten und somit die europäischen Islamdiskurse dauerhaft transformierten.

Das zweite Kapitel bietet einen groben Überblick über die bedeutendsten Strömungen europäischer Islamdiskurse um die Jahrhundertwende. Der Autor setzt sich in diesem Zusammenhang mit Edward Saids berühmter Orientalismus-These auseinander, nach der der „Orient“ in Europa stets als dessen Gegenbild dargestellt und exotisiert wurde. Der palästinensisch-amerikanische Kulturkritiker sah einen direkten Link zwischen europäischer Wissensproduktion über den Orient und kolonialer Herrschaft in muslimischen Ländern. Gottschalk warnt vor einem solchen „einfachen und linearen“ Zusammenhang und schlägt stattdessen vor, die europäischen Orientwissenschaften und die dazugehörenden Islamdiskurse als das aufzufassen, was sie auch waren, nämlich ein breites Spektrum, welches unterschiedliche – oft ambivalente – Repräsentationen beinhalten konnte. Der Islam wurde in diesem Zusammenhang manchmal für seine zivilisatorischen Errungenschaften gepriesen, manchmal aber auch für seinen „dekadenten“ moralischen Charakter oder angebliche Stagnation kritisiert. Der Autor identifiziert vier Grundannahmen innerhalb dieses Spektrums, die – seinem Argument nach – von fast allen Diskursteilnehmern geteilt wurden: erstens die feste Überzeugung von der Überlegenheit des modernen Europas gegenüber dem Islam; zweitens die Tatsache, dass der Islam keine Trennung zwischen Religion und Politik kenne; drittens dass dieser allumfassend sei und ein homogenes Ganzes darstelle; und letztlich viertens die Vorstellung, dass Afrika nicht zur islamischen Welt gehöre. Dieser letzte Punkt fasst viele Unklarheiten und Vorurteile zusammen, die damals über den afrikanischen Islam unter Kolonialbeamten herrschten. Die muslimische Identität afrikanischer Menschen war für viele Europäer, die die Verbindung zwischen Islam und dem schwarzen Kontinent – jenseits seiner nordafrikanischen und osmanischen Teile – nicht nachvollziehen konnten, ein Rätsel. Die Reaktion darauf war entweder eine kritische Infragestellung des Muslimisch-Seins der Betroffenen oder gar eine Anzweiflung ihres afrikanischen Ursprungs. Kolonialbeamten war daher auch meist unklar, inwieweit die islamische Zugehörigkeit der Einheimischen ihren kolonialen Plänen dienen oder schaden könne.

Im dritten Kapitel wird der Integrationsgrad islamischer Akteure und Institutionen in den kolonialen Herrschaftsapparaten dargestellt. In Nordkamerun legten deutsche Kolonialbeamte beispielsweise großen Wert darauf, personelle und finanzielle Kosten auf ein Minimum zu reduzieren. Darum übernahmen sie auch die vorkolonialen islamischen Strukturen, inklusive des Rechts- und Steuersystems. Dagegen zeigten die Briten in Nordnigeria eine viel dichtere Kontrolle der islamischen Institutionen unter ihrer Verwaltung. Islamische Gerichte wurden aufgrund der positiven Vorurteile, die über den Islam herrschten, für zuverlässig erachtet und übernommen. Im Gegensatz dazu wurde das islamische Steuersystem für dekadent betrachtet und neugeordnet. Dieses Beispiel zeigt laut Gottschalk die Ambivalenz, welche die Denkweise zahlreicher Kolonialbeamter prägte. Der Autor stellt fest, dass beide europäischen Mächte nach dem Prinzip des indirect rule herrschten, mit dem Ziel, vorhandene muslimische Herrschaftsstrukturen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Beide Kolonialsysteme entwickelten sich anfangs unabhängig voneinander, beeinflussten sich allerdings gegenseitig durch einen absichtsvollen Transfer kolonialer Herrschaftstechnik über die Jahre.

Kapitel vier ist der Loyalität muslimischer Akteure im Kontext der sogenannten Mahdi-Bewegungen (1906/07) gewidmet. Letztere waren religiös motivierte Aufstände, die sich auf islamisch-eschatologische Vorstellungen stützten, um Menschen für den bewaffneten antikolonialen Kampf gegen europäische Besatzer und herrschende muslimische Eliten zu mobilisieren. Sie stellten sich als eine ernsthafte Bewährungsprobe für das Herrschaftsbündnis zwischen Kolonisatoren und muslimischer Elite heraus. Ihr religiöser Charakter erschütterte das Islambild deutscher und britischer Kolonialbeamter zugleich: Aus den „unechten“, „friedlichen“ Muslimen wurden nun „echte“, „fanatische“ Muslime. Auf der anderen Seite haben diese Revolten viele Kolonialbeamte von der Loyalität ihrer muslimischen Alliierten überzeugt, was ihr Urteil über den Islam noch mehr verkomplizierte.

Die Pilgerfahrt nach Mekka (der Haddsch) ist das Thema des fünften Kapitels. Für die Kolonialmächte, die über große Zahlen von Muslimen herrschten, stellte die Haddsch-Politik eine enorme wirtschaftliche, logistische, gesundheitliche und politische Herausforderung dar. Diese mussten nämlich nicht nur den internationalen Transport der Pilger organisieren, sondern auch ihren gesundheitlichen Zustand genau beobachten, um die Verbreitung von Epidemien und ansteckenden Krankheiten zu vermeiden. Auch die Vorstellung, dass sich Muslime aus aller Welt einmal im Jahr unter sich in Mekka trafen, beunruhigte viele europäische Kolonialbeamte und Diplomaten. Die Verbreitung antikolonialen Gedankenguts unter Pilgern war eine ihrer größten politischen Sorgen. Im Vergleich zu ihren britischen Nachbarn in Nordnigeria lässt sich feststellen, dass deutsche Kolonialbeamte in Nordkamerun, aufgrund der geringeren Zahl von Pilgern aus ihren Gebieten, viel weniger gegen das Eindringen antikolonialer Ideologien zu kämpfen hatten. Die Sorgen der Deutschen waren daher meist organisatorischer oder logistischer Natur. Die Briten dagegen betrachteten den Haddsch deutlich als potentielle Quelle von antikolonialen Unruhen. Durch zahlreiche bürokratische Maßnahmen versuchten sie, ihre muslimischen Pilger im Auge zu behalten. Vielen von ihnen ist es jedoch gelungen, diese umständlichen Kontrollprozeduren erfolgreich zu vermeiden.

Die Rückwirkungen kolonialer Erfahrungen auf Diskurse über den afrikanischen Islam in Berlin und London waren sehr unterschiedlich. Im sechsten Kapitel wird daher betont, dass die Diskurse der sogenannten Kolonialwissenschaften in Großbritannien kaum von den Erfahrungen in den afrikanischen Gebieten beeinflusst worden waren. Dagegen lässt sich in Deutschland zeigen, dass die diskursiven Resonanzen auf die kolonialen Auseinandersetzungen mit Muslimen in Westafrika deutlich höher waren. Die deutsche Islamwissenschaft war bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg sehr bemüht, eine ausdifferenziertere Sichtweise auf den Islam in Afrika theoretisch zu untermauern und ihren Wissensstand über den dort praktizierten Islam auf den neuesten Stand zu bringen.

Im Großen und Ganzen handelt es sich bei Kolonialismus und Islam um eine gelungene Untersuchung der Kolonialgeschichte in Westafrika. Hinsichtlich der allgemeinen Struktur der Arbeit fällt dem Leser allerdings auf, dass – ohne nachvollziehbaren Grund – bestimmte Kapitel ein Zwischenfazit haben und andere wiederum nicht. Aber ungeachtet dessen setzt sich das Buch mit komplexen Themen auseinander und bietet ein nuanciertes Bild von den Interaktionen zwischen Muslimen und Kolonisatoren – ein Bild, in dem die Kolonialisierten über viele Formen der agency verfügen und sich manchmal bewusst für eine Allianz mit den Kolonisatoren gegen ihre eigenen Landsleute und Glaubensgenossen entschieden haben. Eine Stärke des Buches ist der kontinuierliche Vergleich zwischen deutscher und britischer Kolonialherrschaft, was dem Nichtkenner Westafrikas nicht nur ein tieferes Verständnis der Materie ermöglicht, sondern auch sein Bewusstsein für grenzüberschreitende Prozesse schärft.